elterlichen Haus und dem dahinter gelegenen traumhaft schönen Garten. Er bot Platz für ein wahres Blumenmeer, in das man von einer oft als Frühstücksterrasse genutzten Fläche nach mehreren Stufen eintauchen konnte. Über die Treppe wölbte sich girlandenförmig eine Rabatte aus weißen und roten Rosen – würdiger Einstieg in ein Paradies aus Rittersporn, Flox, tränenden Herzen, Glockenblumen, edlen Rosen und einer Fliederlaube. Sie wurde, vorwiegend an Feiertagen, zur festlich eingedeckten Kaffeetafel am Nachmittag genutzt. Hochwüchsige Gräser lockerten die Gesamtansicht auf und gaben dem Garten eine zusätzlich edle Note. Auch ein kleiner Kräutergarten für die eigene Küche durfte nicht fehlen. Daneben, auf kleinem Areal, Platz für ein Beet, auf dem die Kinder spielerisch lernen konnten, dass der täglich reich gedeckte Tisch kein Resultat schlaraffenland-ähnlicher Verhältnisse, sondern Frucht kontinuierlicher Arbeit war.
Gut in Erinnerung ein Beet mit Zuckerschoten, das ich zu Kurzausflügen zwecks kleiner Zwischenmahlzeit aufsuchte. Obendrein genutzt als kleine grüne Oase, hinter der ich mich gerne versteckte, um die suchende Mutter zu necken.
Traumhaft die zahlreichen Obstbäume – Äpfel, Birnen, Kirschen, Pfirsiche, Pflaumen, Renekloden. Deren Äste mussten oft gestützt werden, um sie unter der Last ihrer Früchte vor dem Abbruch zu bewahren. Eine Hängematte schaukelte zwischen zwei Sauerkirschbäumen. Neben dieser Obstbaum-Idylle ein gemauertes Planschbecken, dem sich ein großer Sandhaufen anschloss. Diese Kombination animierte nicht nur zur Konstruktion stolzer Sandburgen und vielfältiger sandgeformter Konditoreiwaren. Noch aus früherer Bauzeit übrig gebliebene Tonröhren eigneten sich prächtig zur Durchleitung eines Wasserlaufes mitten durch den Sandhaufen. Auf anschließendem Rasenplatz konnte man sich müde toben – mit und ohne Ball. Zum Beispiel nach dem Abendbrot beim Spiel „Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?“, ehe es hieß: Fertig machen zum Schlafengehen!
Wen wundert es, dass sich hier, wann immer es die Witterung zuließ, alle Kinder aus der Nachbarschaft einfanden? Zumal die Mutter zur Halbzeit zwischen Frühstück und Mittagessen mit einer großen Schüssel mundgerecht zugeschnittener Obststücke und belegten Broten aufkreuzte. Früher einmal vor dem Essen von der Mutter angeordnete Reinigungsprozeduren wurden vom Vater mit der lakonischen Bemerkung: „Lass mal, Dreck reinigt den Magen“ zur Freude der Kinder stark eingeschränkt. Das war zwar pädagogisch im Sinne von Pestalozzi sicher nicht sehr glücklich, hob aber bei der Kinderschar das Ansehen des väterlichen Arztes ganz ungemein. Dabei sei dahingestellt, wie tragfähig unter medizinischem Aspekt diese Aussage zu bewerten ist. Ganz sicher verbirgt sich hinter dieser großzügigen Auslegung der Reinlichkeit aber, als nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, eine Stärkung des Autoimmunsystems. Ein Begriff, den es damals noch nicht gab und von dessen Existenz im menschlichen Organismus vermutlich der eine oder andere Naturwissenschaftler höchstens etwas ahnte.
In diesem fast täglich stattfindenden Kindergarten gab es keinerlei soziale Tabus. Neben Rosel, der Tochter des Rektors, kamen unter anderem die Neumeier-Kinder aus dem mehrstöckigen Reihenhaus, in dem sie in drangvoller Enge zusammen lebten. Noch gut in Erinnerung die mit ihnen geführten heftigen Diskussionen um die schwerwiegende Frage, ob es einen Osterhasen oder Weihnachtsmann gibt. Salomonisch einigte man sich dahingehend, dass sie diese nicht kennen, weil er nicht zu ihnen kommt. Für kindliche Logik ausreichend schlüssig. Für den Pädagogen eine Bestätigung der sattsam bekannten Tatsache, dass Kinder ärmerer Bevölkerungsschichten entwicklungsmäßig weiter sind als Gleichaltrige aus begüterten Familien.
Nachdem die Mutter die Zeit für gekommen hielt, größere Geschäfte von der Windel in den Topf zu verlagern, starteten meine ersten „Thronbesteigungen“. Allzu viel Mühe war dabei nicht vonnöten. Schließlich wurde jedes im Topf vorzeigbare Resultat, neben Ausrufen der Begeisterung und des Lobes seitens der Mutter, zusätzlich mit einem Stückchen Schokolade belohnt. Letzteres führte schon nach wenigen Tagen dazu, listigerweise die geruchsintensiveren Produkte in kleinste Einheiten zu portionieren. Jeweils in froher Erwartung: Stück für Stück ein Stückchen Schokolade. Leider zeigte sich aber schon nach kurzer Zeit, dass eine derartige Konditionierung auf Dauer keine Aussicht auf Bestand hatte.
Eine enge Freundschaft entwickelte sich zu Armin Winkler, dem Sohn eines Schrankenwärters der Reichsbahn. Zu den markanten äußeren Kennzeichen von Armin gehörte eine stets laufende Nase. Deren auf der Oberlippe unübersehbar dokumentierte Spuren wurden von den Geschwistern belustigt als „Positionslaternen“ apostrophiert. Armin war ungemein gutmütig, gelegentlich hart an der Grenze zur Einfalt. Nach einer sonntagnachmittäglichen Kaffeetafel kam eines der Kinder auf die Idee, Armin, mit einem großen blühenden Fliederzweig versehen, nach Hause zu schicken, damit ihm seine Mutter aus dem daraus zu gewinnenden Honig ein Butterbrot bestreicht. Kinder können schon recht gemein sein … Jahrzehnte später saß Armin völlig überraschend unangemeldet vor meinem Schreibtisch in meiner Praxis. Er hatte zufällig im Vorbeifahren auf einem Schild den ihm aus der Kindheit vertrauten Namen gelesen. Ausstaffiert mit todschickem Anzug und dazu passender Krawatte, von Beruf Lehrer für Griechisch und Latein in einem altsprachlichen Gymnasium. Was für eine Freude, was für eine Überraschung! Erfolgreiche Propheten warten die Entwicklung der Ereignisse ab …
Es gab auch Ausflüge aus dem Freystädter Paradies. Im Sommer fuhr man zum Großvater nach Königsberg, präziser: zu seiner Residenz in Cranz, einem mondänen Badeort vor den Toren der Stadt. Ort wunderbarer Ferien für uns Kinder und Eltern in traumhaft schöner Umgebung. Auf dem Grundstück am Strand stand eine Verkaufsbude, die von einer reizenden jungen Dame, von den Kindern „Limonaden-Fräulein“ getauft, betrieben wurde. Onkel Viktor, ein hoch dekorierter Offizier, der im Ersten Weltkrieg mit seinem Doppeldecker mehrfach abgeschossen worden war, aber stets überlebte, war uns ob seiner Spendierfreudigkeit besonders ans Herz gewachsen. Er beauftragte das „Limonaden-Fräulein“, alle Wünsche zu erfüllen, was mir in schöner Regelmäßigkeit bei jedem Besuch in Cranz am ersten Tag eine limonaden-bedingte Revolte des Magen-Darmtraktes bescherte. Auch anderweitig entpuppte sich für mich ein wahres Paradies, das zu den unterschiedlichsten Entdeckungsreisen animierte. Auf dem weitläufigen Grundstück der Großeltern stand auch ein kleines Häuschen, das eine stramme Maid in den besten Jahren bewohnte, um bei allen anfallenden gröberen Arbeiten zur Hand zu gehen. An einem frühen Sommermorgen führte mein Weg an eben diesem Häuschen vorbei, dessen Türe einen Spalt offen stand. Gebannt starrte ich durch diesen Spalt auf das, was sich dem unschuldigen Kinderauge offenbarte: die rückwärtige Partie jener dort residierenden Schönheit, die nackt und bloß, wie Gott sie schuf, mit ihrer Morgentoilette beschäftigt war. Schon damals kein Freund von halben Sachen überwog die Neugier nach der dazugehörigen Vorderansicht die Furcht vor den mit der Erkenntnis eventuell verbundenen Gefahren. Auf Zehenspitzen schlich ich durch den leicht geöffneten Spalt auf das Objekt meiner Begierde zu, ohne zunächst entdeckt zu werden. Mutig hob ich die kleine Hand, stellte mich auf die Zehenspitzen und bohrte den Zeigefinger behutsam in die mir zunächst gelegene Pobacke der Dame. Nicht ohne mit schüchterner Stimme zu fragen: „Darf ich mal anfassen?“ Das Resultat der Recherche war umwerfend: Mit spitzem Schrei des Entsetzens drehte sich die junge Frau einmal um ihre eigene Achse. Ich trat nach kurzer Schrecksekunde übereilt die Flucht nach hinten an, wobei ich, in Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten, in einen schräg hinter mir stehenden Wassereimer plumpste. Für Sekunden starrten wir uns beide wie elektrisiert an. Langsam wich das Entsetzen des weiblichen Gegenübers einem befreienden Glucksen, das nahtlos in schallendes Gelächter überging. Instinktiv ahnte der kleine Entdeckungsreisende, dass damit wohl der gefährlichste Teil seines Abenteuers glücklich überstanden war. Dankbar ließ ich mich von zarter Hand aus etwas misslicher Situation, weil sehr beengt und feucht, befreien. Dabei die Gelegenheit nutzend, den ursprünglichen Ausgangspunkt meiner Forschungsreise betrachtend nachzuholen. So sehr ich mir auch in späteren Zeiten gelegentlich den Kopf zermarterte: ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ob die gewonnenen Einblicke – genauer gesagt der Anblick – eingedenk des Schreckens, denn auch der Mühe wert gewesen waren …
Immerhin durfte ich das nach vielen Jahren einmal selbstbewusst unter der Rubrik „Früheste Einblicke und Erkenntnisse in die Anatomie am Lebenden“ subsumieren. Schließlich ein durchaus ernst zu nehmendes Unterrichtsfach jeder vorklinischen Ausbildung eines Mediziners.
Auf