Wolfgang Seraphim

Attempto


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Ermahnung. Der Rubikon war allerdings überschritten, wenn zum Beispiel versucht wurde, im Nachbargarten bei Rektor Wehner mit einem in den Baum geworfenen Ast Süßkirschen zu ernten und bei dieser, mit untauglichem Objekt durchgeführten Prozedur, der Ast in der klirrend zerbrechenden Scheibe der Speisekammer des Rektors landete. Solch gravierende Vorkommnisse führten zu einer Verlängerung der Strafaktion um zehn Minuten …

      Wenn die Witterung das Spiel vor der Tür nicht zuließ, gab es im ersten Stock des Hauses genügend Räumlichkeiten, sich auszutoben. Im Flur waren eine höhenverstellbare Schaukel und eine ebenfalls in der Höhe variable Reckstange montiert. Direkt daneben ein großes Spielzimmer, an dessen Fensterseite zum Balkon eine mehrere Meter lange Spielplatte angebracht war. Daran angrenzend eine große Wandtafel, die nach Herzenslust mit bunter Kreide zur Bemalung einlud. Rechtwinklig dazu eine Sprossenwand zum Klettern und Turnen. Eine Fundgrube für Kreativität und ungebremstem Bewegungsdrang. In diesem Kinderparadies konkurrierte Holzspielzeug mit Schaukelpferd, einem Kaufladen und einer Puppenküche. Hier brutzelten auf kleinem beheizbarem Herd sogar kindgerechte Portionen. Zum Klassiker avancierten Pfannkuchen, die sich so großer Beliebtheit erfreuten, dass sie gelegentlich in unerwünschte Konkurrenz zu der von der Mutter gekochten Hauptmahlzeit gerieten.

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      Das Esszimmer hatte einen erkerartigen Ausbau Richtung Garten. Hier hielt sich die Mutter gerne zu Näharbeiten auf. Im Nähkörbchen lag das Mutterkreuz, das der „reinrassig deutschen Frau“ namens des tausendjährigen Reichs ab der Geburt einer mir nicht mehr bekannten Zahl von Kindern mit „Heil Hitler“ unterzeichnetem Begleitschreiben zugestellt wurde. Mit ein wenig Stoff und buntem Metall glaubte man offensichtlich, Deutschlands Frauen die Bereitstellung von Kanonenfutter für die kriegerischen Expansionspläne eines „Volks ohne Raum“ schmackhaft machen zu können. Ich fand es später gut, dass dieser Orden, meines Wissens von der Mutter verschmäht, nie getragen wurde.

      Für mich ist die Sitzgruppe im Erker um eine Schulbank erweitert worden. Von ihr versprach sich die Mutter eine in doppelter Hinsicht nützliche Funktion. Erstens die stramme aufrechte Haltung, zweitens eine damit verbundene bessere Konzentration bei der Bewältigung der Schulaufgaben. Beides ließ offensichtlich zu wünschen übrig. Ausdruck einer früh zutage tretenden Problematik: Mutters Jüngster und die Schule! Aufschlussreich, dass derlei Aufwand bei beiden älteren Geschwistern nicht für notwendig erachtet wurde. Wo unsereins mühsam ackern musste, lief bei ihnen alles wie am Schnürchen.

      Noch gut in Erinnerung meine erste Hausaufgabe, bei der es galt, eine Schiefertafel mit Spazierstöcken zu füllen: die erste Hälfte aufrecht, die zweite Hälfte auf dem Kopf stehend. Schon die erste Hälfte genügte den mütterlichen Idealvorstellungen nur selten. Es führte zu schmerzlichen, da den Arbeitseinsatz verlängernden Korrekturen. Als es an die Bewältigung der zweiten Hälfte ging, drohte eine ungebremste Tränenflut die Frucht geleisteter Arbeit, in Form mühsam auf die Tafel gemalter aufrecht stehender Spazierstöcke, hinwegzuspülen. Zwecks schöpferischer Pause begaben sich Mutter und Sohn in den Garten. Dort standen sie unter dem Reneklodenbaum, zu dessen Füßen ein Heer von Wespen an den am Boden liegenden Früchten nagte. Hier prophezeite sie, die Hände ringend, ihrem Sprössling, dass er später einmal nur zum Schweinehüten taugen werde. Ein für den Sohn beängstigendes Szenarium. „Könnten es nicht auch Gänse sein?“ Ich spürte den forschenden Seitenblick der Mutter. Ob ich mich womöglich über sie lustig machte? Aber dem Sohn war es bitterernst. Was sich da in meiner kindlichen Seele abspielte, sollte der Beginn eines jahrelangen, oft verzweifelten Kampfes mit der Wissensvermittlung an deutschen Schulen werden. Der in Aussicht gestellte Hütewechsel vom Schwein zur Gans ließen die Zukunftsperspektiven in einem freundlicheren Licht erscheinen. Kurzfristig erschien diese Berufswahl sogar verlockend. Vorausgesetzt sie wäre mit dem umgehenden Einstellen des Spazierstockmalens verbunden. Es war einer jener Augenblicke, in denen sich die Mutter, wie später noch so oft, den in Russland liegenden Vater herbeiwünschte …

      Zurückgekehrt zur Schiefertafel steckte alsbald der ältere Bruder seinen Kopf über die Schulter: „Na Bruderherz, wo steckt dein Problem?“ Dankbar wurde das in der Frage schwingende Mitgefühl registriert. Unter herzerweichendem Schluchzen erfolgte Aufklärung. Der Bruder lachte schallend: „Du Rindvieh, dreh doch die Tafel einfach auf den Kopf! Dann malst du wieder aufrecht stehende Spazierstöcke.“ Gibt es ein besseres Beispiel für Intelligenz? Dies wurde von der Mutter, die Zeuge der Unterweisung geworden war, keineswegs honoriert. Es folgte ein ordentliches Donnerwetter und kühlte die Bereitschaft zur Hilfestellung bei den Hausaufgaben des kleinen Bruders nachhaltig ab.

      Rechts neben dem Fenster im Erker des Esszimmers stand eine für damalige Verhältnisse prachtvolle Kombination von Radio, Plattenspieler und Plattenschrank. Hier lauschten die Kinder einer ihrer Lieblingsplatten: „Die Liebe der Matrosen“, zu deren Melodie die älteren Geschwister anlässlich sich jährlich wiederholender Kürbisfeste – so eine Art Halloween – ausgelassen mit ihren Freundinnen und Freunden durch die Wohnung tanzten. Die Zimmer waren mit ausgehöhlten Kürbissen und den darin geschnitzten Gesichtern magisch von dahinter brennenden Kerzen beleuchtet. Sie gaben diesen Veranstaltungen einen für mich immer leicht gruseligen Anstrich. Unvergessen mit dem Plattenspieler verbunden der Beginn von Beethovens Violinkonzert, das der Vater besonders liebte. Davon galt es, insgesamt sechs Platten – Marke Electrola, „his master’s voice“ – beidseitig abzuspielen, um das ganze Konzert zu hören. Da dies meist abends geschah, hörte ich immer nur den Anfang. Erste zaghafte Schritte Richtung klassischer Musik. Sie klang in den Ohren noch recht fremd, aber keineswegs unangenehm.

      Rechts von diesem Wunderwerk der Technik näherte man sich der Längsseite des Esstischs, für mich auch ein Ort ungeliebter Spinatfütterung. Ein Kommafehler bei der Berechnung seines Eisengehaltes Ende des 19. Jahrhunderts an der Universität Freiburg katapultierte dieses Grünzeug, völlig unbegründet, in die Spitzenklasse eines Schwermetallspenders. Darunter hatten dann ganze Generationen von Kindern zu leiden, die dieses Gemüse ebenso verabscheuten wie Vaters Jüngster. Nur weil dieser kleine, aber schwerwiegende Berechnungsfehler treu und brav von allen Lehrbuchautoren, ungeprüft abgeschrieben, übernommen wurde. Eine Doktorarbeit, an der Alma Mater Tubingensis, korrigierte gute 60 Jahre später diesen Irrtum. Die Kinder dieser Welt müssten diesem Doktoranden ein Denkmal setzen … Ich erledigte das auf meine Weise: Das ungeliebte Grünzeug wurde im Rahmen meiner fürsorglichen Fütterung in beiden Backentaschen gespeichert, bis der in der Mundhöhle sich entwickelnde Druck, entsprechend meinem physikalischen Feingefühl, groß genug war, um sich samt Inhalt explosionsartig in Richtung Esszimmerwand zu entleeren. Das danach sich an der Wand in hoffnungsvollem Grün abzeichnende „Gemälde“ war sozusagen mein Beitrag zu diesem Denkmal. Ich war damit der Zeit wieder einmal einen Schritt voraus. Mit diesem Protest in Kinderstuben aber keineswegs allein …

      Vom Esszimmer führte eine meist nicht verschlossene Schiebetür in das sogenannte „Damenzimmer“, mit in pastellfarbenem Stoff bezogener Sitzgruppe. Darüber, farblich gut miteinander harmonierend, ein Bild vom Matterhorn. Die Möbel waren im Biedermeierstil gefertigte, sündhaft teure Unikate. Vor der Fensterfront zum Garten ein dekorativer Schalenbrunnen aus Marmor. Rechts des Brunnens stand am Heiligen Abend der Weihnachtsbaum. Geschmückt mit Wachskerzen, vielen kleinen bunten Engels- und Zwergfiguren, Strohsternen und einem großen Abschlussstern an der Baumspitze. Für uns Kinder besonders wichtig: Kringel aus Schokolade und Fondant. Sie wurden, nur unter Aufsicht eines Elternteils und erst einige Tage nach Heiligabend, zur Plünderung „schaumgebremst“ freigegeben. Vorausgesetzt, die mit Süßigkeiten gefüllten Weihnachtsteller wiesen bereits Ebbe auf.

      Am Weihnachtsabend durften wir Kinder das Zimmer erst betreten, wenn ein Klingelton signalisierte, dass die Kerzen am Baum brannten und die „himmlischen Heerscharen“ den Raum verlassen hatten. Gemeinsam wurde „Oh du fröhliche …“ gesungen. Vater las stehend neben dem Baum die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium. Nach „Stille Nacht …“ stürzten wir uns auf die liebevoll von den Eltern ausgewählten Geschenke unter dem Baum. Sie wiesen – welch ein Wunder! – meist erstaunliche Übereinstimmung mit dem zuvor an den Weihnachtsmann adressierten Wunschzettel auf. Es folgte das Abendessen, bei dem es, nach Ostpreußischer Tradition, Heringssalat mit Apfelstückchen, Fleischbrühe und Speckkuchen