Wolfgang Seraphim

Attempto


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mit seltsamen permanenten Kaubewegungen, die verdächtig an Kühe auf der Weide erinnerten, in die ersten Strahlen der Frühjahrssonne. Sie sahen sehr gelassen in ihre Zukunft. Allen war klar: Es war nur eine Frage von kurzer Dauer, bis aus den Bewachten Bewacher werden würden. Hier sah ich auch zum ersten Mal Menschen schwarzer Hautfarbe leibhaftig vor mir. Das Rätsel mahlender Kaubewegungen sollte sich erst später lüften.

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      Etwa zu gleicher Zeit tauchte, wie Zieten aus dem Busch, auch der ältere Bruder auf, womit so schnell niemand gerechnet hatte. Gebannt lauschte ich den Schilderungen über seine Odyssee als Flakhelfer in Breslau zum sicheren Murrhardt. Er hatte wirklich mehr Glück als Verstand. Die meisten Mitschüler seiner Klasse waren ebenfalls zu den Flakhelfern nach Breslau abkommandiert worden. Er mit Abstand der kleinste und schmächtigste von allen. Es sollte seine Rettung werden. Eines Tages baute sich der Kompaniechef beim Morgenappell vor ihm auf und sagte: „Mensch, du bist ja so klein, dass du nicht mal über den Schützengraben rausgucken kannst, da brauchen wir ja eine extra Leiter für dich. Du bist uns hier nur im Weg, sieh dass du heimkommst zu Muttern!“ Sprach’s und stellte ihm einen vorläufigen Entlassungsschein nach Leipzig aus. Dort meldete er sich als Deutschlands letzte Wunderwaffe im Aufgebot gegen den Volksfeind auch brav auf der Ortskommandantur. Ein zufällig anwesender Feldwebel nahm sich seiner dankbar an: „Du kommst gerade recht, wir stellen eben eine Einheit zusammen, die an die Ostfront verlegt wird.“ In diesem Augenblick klingelt das Telefon. Der Feldwebel, den Hörer am Ohr, schlägt die Hacken zusammen: „Jawohl Herr Major, komme sofort Herr Major!“, wirft den Hörer auf die Gabel und befiehlt beim Verlassen des Zimmers barsch: „Du wartest hier!“ Kurz darauf betritt ein Hauptmann das Zimmer; er betrachtet den Dreikäsehoch in Uniform ausgiebig von oben bis unten: „Was in aller Welt willst du denn hier?“ „Ich soll an die Ostfront verlegt werden, Herr Hauptmann.“ Der Offizier lässt sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen. „Du lieber Himmel, jetzt sollen wir schon mit Kindern den Krieg gewinnen! Wo steckt denn die Familie?“ Minuten später verlässt der Bruder mit einem Entlassungsschein nach Stuttgart in Windeseile die Kommandantur, ehe es sich irgendein Endsieg-Enthusiast noch einmal anders überlegen könnte. Breslau war inzwischen zur Festung erklärt worden. Von allen Schulkameraden, letztendlich ja alles noch Kinder wie er, sollte keiner überleben. Sie waren einfach ein paar Zentimeter zu groß …

      Natürlich kannte der Jubel in Murrhardt keine Grenzen. Die Mutter war in Tränen aufgelöst; erst ganz allmählich wich die Anspannung der letzten Monate: Nur nicht neben dem Mann auch noch den Sohn im Krieg verlieren!

      Ende April schlugen auch in Murrhardt die letzten Stunden des Großdeutschen Reiches. Die Amerikaner näherten sich dem kleinen Städtchen – eigentlich ja nur eine zu vernachlässigende Randerscheinung ihres schnellen Vormarsches. Unglücklicherweise lagen aber in den Wäldern um die Stadt versprengte Einheiten der Waffen-SS. In heroischer Nacht- und Nebelaktion sprengten sie ein wenige Meter langes Brückchen, das über die Murr führte. Dieses Rinnsal war eigentlich das ganze Jahr über bequem auch zu Fuß zu durchwaten, ohne dass das Wasser die Knöchel nennenswert überspült hätte. Kurzum, die strategische Bedeutung dieses Brückchens nebst Bach stand in keinerlei Verhältnis zu der Hingabe, mit der sich die SS dieser absurden „Verteidigungsmaßnahme“ annahm. Dafür fiel die Antwort der Amerikaner für Murrhardt umso drastischer aus: Das Städtchen wurde mit Brandgranaten beschossen. Währenddessen saß die Familie nebst den Geschwistern Horn bei Kerzenlicht im Keller und zuckte bei jedem Granateneinschlag zusammen. Es war das ungute Gefühl, völlig machtlos dem ausgesetzt zu sein, was da von draußen jeden Moment auf jeden einzelnen zukommen könnte: Qualvolles Leiden, schneller Tod oder nichts von allem? Nach einigen Stunden ließ der Beschuss nach, verebbte schließlich ganz. Der Bruder hatte sich nach draußen gewagt und kam bald mit der Nachricht zurück: Murrhardt brennt. Löschversuche hatte er nicht beobachtet. Man entschloss sich umgehend, noch in der Nacht mit dem nötigsten Gepäck hinauf in den kleinen bäuerlichen Weiler Waltersberg, oberhalb Murrhardt, zu begeben. Die Geschwister Horn kannten dort einen Bauern, der ihnen schon in der Vergangenheit mit seinen landwirtschaftlichen Produkten immer wieder ausgeholfen hatte, wenn ihr Lebensmittelkartendeputat erschöpft war. Diese Flucht in der Nacht mit Blick zurück auf das lichterloh brennende Murrhardt mit krachend einstürzenden Dachgiebeln und grell in den Nachthimmel aufschießenden Flammen und Funkenregen war ebenso unvergesslich wie der beißende Gestank nach verbranntem Holz, der in dichter Wolke über dem Städtchen hing. All das war so schaurig faszinierend, dass die Mutter die Kinder immer wieder antreiben musste, nicht stehen zu bleiben. Als Jahre später im Geschichtsunterricht der von Nero angezettelte Brand von Rom erörtert wurde, kam ich nicht umhin, in Erinnerung an die nächtlichen Bilder vom Brand in Murrhardt, diesem Despoten ein beachtliches Maß an Sinn für schaurig schöne Inszenierungen zuzubilligen.

      Am nächsten Morgen sah man von Waltersberg aus immer noch den Rauch über der Stadt im Tal. Die Amerikaner waren rasch weitergezogen, man ging wieder zurück in das praktisch unbeschädigte Haus am Markt. Nur ein vom Granatsplitter durchbohrtes Eisenblech an der Eingangstüre zum Wohntrakt war am Haus selbst wie ein Wundmal von den Ereignissen der vergangenen vierundzwanzig Stunden zurückgeblieben. Wenige Meter vom Haus entfernt, auf der Seite zur Schule, riss eine Granate einen tiefen Trichter auf und einige Häuser am Markt waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Es herrschte eine gespenstische Stille, allerdings nur von kurzer Dauer. Die Amerikaner waren bis auf einige wenige verbliebene Posten abgezogen. Ihnen folgten Franzosen, sogenannte De Gaulle’sche Vergeltungstruppen, die sich zunächst über die restlichen Weinvorräte im Städtchen, dann – von Siegesrausch und Alkohol beflügelt – vereinzelt auch über einige Frauen der Bevölkerung hermachten. Dabei hatten die Gastwirte, in weiser Voraussicht, schon Tage zuvor, die meisten Weinvorräte kostenlos an die Murrhardter ausgeschenkt. Noch gut in Erinnerung, dass ich mehrmals mit einer Milchkanne bewaffnet, beim Gasthaus „Zum Engel“ am Marktplatz auf Anweisung der Geschwister Horn zwecks Unterstützung der Alkoholvernichtung aufgekreuzt bin. Damals allerdings noch unfähig, diese großzügige Spende gebührend zu würdigen: Das Gebräu schmeckte furchtbar! Den Geschwistern Horn war das um weitere Ingredienzien wie Honig und Nelken angereicherte Naturprodukt, leicht erhitzt im Sinne einer Art Glühwein, als Hausmittel sehr willkommen.

      Die Herren aus Frankreich erwiesen sich zunächst nicht sehr chevalresque. Sie begannen zu plündern und vereinzelt in unsinniger Zerstörungswut Möbel aus den unbeschädigt gebliebenen Häusern auf die Straße zu werfen. Die ältere Schwester auf dem Dachboden zu verstecken erschien unter diesen Gegebenheiten keine übertriebene Vorsichtsmaßnahme. Kurz darauf betraten auch schon einige französische Offiziere das Haus und erklärten die Wohnräume im Erdgeschoss für beschlagnahmt: Rekrutiert für eine Art Ortskommandantur. Man wusste die wenigen Französischbrocken, die der ältere Bruder aus dem Gymnasium herübergerettet hatte, durchaus zu schätzen. Dass er einmal als Soldat eingezogen worden war, kam ihnen gar nicht in den Sinn: Sie mussten sich ja geradezu zu ihm herunterbücken, wenn sie ihre Hand auf seinen Kopf legen wollten. Die Einquartierung erwies sich bald in mehrfacher Hinsicht als vorteilhaft. Jetzt waren Haus und Laden vor Plünderungen sicher. Eine kleine, an die Hausecke gemalte Trikolore diente als Zeichen des Sonderstatus, den das Haus ab sofort genoss. Nach wenigen Tagen hatten sich alte und neue Bewohner bei „Horn am Markt“ soweit aneinander gewöhnt, dass sich der Umgang zunehmend freundlicher gestaltete. Neben einigen Schokoriegeln wechselte ein ganzes Päckchen Kaugummi den Besitzer. Damit lüftete sich endlich das Rätsel um die dem Hornvieh ähnelnden permanenten Kaubewegungen, die ich Tage zuvor bei den gefangen genommenen Amerikanern noch nicht einzuordnen wusste.

      Solch sich behutsam entwickelnden zarten Triebe erster Völkerverständigung zwischen Siegern und Besiegten ließen den Entschluss reifen, das Mädchenversteck aufzugeben. Dies natürlich nicht ohne ausgiebige verbale Vorbereitung. Die Offiziere fanden das alles sehr lustig, als die Schwester aus der Versenkung auftauchte und man war natürlich froh, dass sie das Versteckspiel nicht übel nahmen.

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      Eines Tages fuhr vor dem Hotel „Sonne-Post“ eine stattliche Anzahl von Nobelkarossen mit Mercedes-Stern auf der Kühlerhaube vor. Zum damaligen Zeitpunkt ein an Zahl und Glanz höchst ungewöhnlicher