die Zahl der hungrigen Mäuler zu stopfen. Unvergessen der erste Gang in den Vorratskeller nach gemeinsamer Ankunft in Esslingen. Inmitten eines geräumigen Gewölbekellers mit gestampftem Boden lag ein nur noch handbreit gefüllter Kartoffelsack, dessen weitgehend leere Hülle traurige Falten warf. In einer kleinen Holzkiste standen einsam drei Marmeladengläser. Unweit daneben einige wohl verkorkte, völlig verstaubte Flaschen: Gefüllt mit noch vom Großvater angesetztem Beerenwein. So deprimierend leer und öd er sich auch präsentierte, es war der schlechthin ideale Vorratskeller, wie ihn heutzutage leider niemand mehr baut. Ein Vorratskeller ohne Vorrat. Als Jahre später wieder Normalität in die Versorgungsstrukturen einkehrte, ließ sich hier völlig problemlos über die Winterszeit Obst und Gemüse einlagern: Es schimmelte und faulte nicht, bekam auch keine Runzeln.
Das Haus lag zwischen zwei Kasernen, der Funker- und der Becelaire-Kaserne, die nur ca. 500 Meter voneinander entfernt im sogenannten Gebiet „Hohenkreuz“ oberhalb der Burg standen. Daran anschließend der nächste Esslinger Vorort „Wäldenbronn“. Dorthin musste zur Gärtnerei Rayer pilgern, wer zur Gemüsezeit selbiges gegen Geld zu erstehen versuchte. Das „Erstehen“ war durchaus wörtlich zu nehmen: Um einigermaßen Aussicht auf Erfolg zu haben, begab man sich morgens gegen sechs Uhr auf den Weg. Nach ca. 40 Minuten konnte die Gärtnerei gar nicht verfehlt werden: Erkennbar an einer langen Menschenschlange, in die ich mich in den Sommerferien geduldig einreihte, um stundenlang zu warten, bis ich meine leere Einkaufstasche präsentieren durfte. Unsinnig die Vorstellung, eventuell einen Wunsch zu äußern. Genommen wurde, was es gab und wie viel es gab – wenn es überhaupt etwas gab. Nicht selten blieb der Betrieb einfach geschlossen, man hatte dann bewegungsmäßig etwas für seine Gesundheit getan. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, zu irgendeinem Zeitpunkt einmal Schwierigkeiten mit dem Heimtransport der Einkaufstasche gehabt zu haben. Ihr Gewicht sprengte nie den kindgerechten Rahmen, so sehr man sich das auch gewünscht hätte.
Der Broteinkauf gestaltete sich, was den Anmarsch betraf, nicht zeitaufwendig. Die Einkaufsquelle – Bäckerei Konzelmann – lag nur wenige Meter vom Haus entfernt. Gegenüber der Funker-Kaserne, strategisch günstig gelegen. Die Länge der Warteschlange stand allerdings der vor der Gärtnerei in nichts nach. Auch die Milchquelle war nicht weit von zu Hause, gegenüber der Becelaire-Kaserne, bequem erreichbar. Erstaunlich, dass es hier keinen Engpass zu geben schien: Ohne allzu langes Warten wurde – wie beim Brot gegen Marken versteht sich – die leere Milchkanne gefüllt. Es war Magermilch mit der untrüglich blass-blauen Farbe, die jedes eventuell noch anzutreffende Fettmolekül ausschloss. Wurst gab es keine, manchmal aber in der Metzgerei eine seltsame Mischung undefinierbaren Inhalts in Cellophan gepresst. Quell sehnsüchtiger Erinnerung an goldene Zeiten der „Sonne-Post“ in Murrhardt. Trockenes Brot, scheibenweise rationiert, gelegentlich mit dünnem Aufstrich selbst gemachter Marmelade, kaschierten notdürftig allgegenwärtige Hungerattacken. Mittags versuchte die Mutter eine mit Brot und Gemüse angereicherte Maggi-Brühe nicht allzu kalorienarm auf den Tisch zu bringen. Abends gab es meist Dickmilch in kleinen Schälchen und für jeden drei kleine oder zwei größere Pellkartoffeln. Es dauerte nicht allzu lange, dann zeigte die Mangelernährung deutliche Spuren. Ich bekam eine Kinderkrankheit nach der anderen: Masern, Scharlach, Keuchhusten, Mumps mit begleitender Orchitis. Eine Art Pemphigus mit großen Eiterbeulen auf behaartem Kopf, aber auch am Oberschenkel. Hiob lässt grüßen. Ich entwickelte den klassischen aufgetriebenen Hungerbauch mit Wassereinlagerung in den Beinen. Oberhalb des Nabels konnte man jede einzelne Rippe zählen. Wie frisch aus Biafra importiert. Den Geschwistern und Erwachsenen ging es auch nicht besser …
In dieser recht verzweifelten Situation entschloss sich die Mutter, betteln zu gehen. Es gelang ihr, einen Lastwagen aufzutreiben, der nach Stuttgart fuhr und uns zusammen auf der Ladefläche mitnahm. Wir hielten uns auf den dort gestapelten Milchkannen fest und hofften, dass das klapprige Gefährt unterwegs nicht schlapp macht. Der alte Holzvergaser überschritt wohl nur selten seine Grundgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern und musste besonders vor Steigungen durch kräftiges Stochern mit einem Metallstab an der Vergaserklappe zu Höchstleistungen stimuliert werden. Dann stolperte der kleine Junge an der Hand der Mutter auf der Suche nach einer ominösen Adresse, die zu einer Metzgerei führen sollte, durch das völlig zerbombte Stuttgart. In den Ruinen hockten, im Schatten gespenstisch in den Himmel ragender Mauerreste, müde wirkende Frauen verschiedenster Altersgruppen in abgerissenen Klamotten und klopften mit Hämmern gegen in der Hand gehaltene, aus dem Schutt aufgelesene Ziegelsteine. Bescheidener Beitrag zur Gewinnung von neuem Rohmaterial für den dringend notwendigen Wiederaufbau. Nur klopfendes Hämmern drang an das Ohr, sonst schien die Großstadt akustisch ausgestorben: kein Motorenlärm eines Autos oder sonstiges geschäftiges Klappern. An verrußten Hauswänden, die kein Innenleben mehr kannten, standen flüchtig eingeritzte Mitteilungen: Namen mit dem lapidaren Zusatz „noch am Leben“ oder „bei Tante Erna“. Nicht selten auch: „Familie Müller“ und dahinter ein Kreuz.
Ich erinnerte mich an das Happening auf grüner Wiese mit der Phosphorbombe in Freystadt und der Schippe Sand als Patentlösung. Beim Weiterstolpern an der Hand der Mutter summte ich leise vor mich hin: „Am Abend auf der Heide, da küssten wir uns beide …“. Die Mutter fand das der Lage entsprechend unangemessen – ich erntete einen strafenden Blick. Jahre später bekam ich ein Buch mit dem Titel „In Stahlgewittern“ eines gewissen Ernst Jünger in die Hand. Dort war von heldenhaften, kampferprobten Lichtgestalten die Rede, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Bei seiner Lektüre musste ich unwillkürlich an meinen Marsch durch das zerbombte Stuttgart denken. Es wurde mir klar: Sinn und Unsinn vieler Bücher erschließen sich dem Leser in Abhängigkeit seiner Lebenserfahrung. Wenn ich an Helden dachte, standen diese Trümmerfrauen vor mir. Die „Lichtgestalten“ des Herrn Jünger schrumpften zu bedauernswerten Würstchen, die ihnen unbekannte Menschen massakrierten. Dies alles angestiftet von Figuren, die immerhin meist so klug waren, selbst ungefährdet hinter dem warmen Ofen sitzen zu bleiben, während „auf dem Feld der Ehre“ in ihrem Namen verstümmelt und gestorben wurde. Bestürzend und ernüchternd zugleich: Der Vorgang hatte nichts Einmaliges an sich, er zog sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des „Homo sapiens“ – wer gab nur diesem Erdbewohner, dessen humanitäres Handeln seine evolutionäre Lücke demonstriert, solch irreführend hochtrabenden Namen? „Homo homini lupus“ – der Mensch ist des Menschen Wolf.
Derlei Gedankengänge beim Gang durch Stuttgart waren mir natürlich fremd und schnuppe. Ich hatte Hunger, war müde und quengelte. Die Anlaufstelle Metzgerei, betrieben von einer um viele Ecken mit der Esslinger Großmutter ververwandten Familie, erwies sich nicht nur als schwer auffindbar, sie entpuppte sich auch sonst in keiner Weise als Hauptgewinn im „Nahrungsmittel-Lotto“. Mühsam wurde der Verwandtschaftsgrad auseinander klamüsert. Das Ergebnis muss so ernüchternd gewesen sein, dass für die zwei einfallenden hungrigen Gestalten nur eine dünne, von jeglicher Fleischeinlage ungetrübte Wassersuppe nebst einer mal etwa fingerlangen Blutwurst als Wegzehrung für den Heimweg heraussprang. Zu Hause erwies sich die Wurst in erster Linie knorpelhaltig. Es war offensichtlich keine sehr gute Idee, zu diesen Zeiten von einer Stadt in eine noch größere Stadt zwecks Nahrungssuche zu pilgern. Außerdem reifte in mir schon in sehr jungen Jahren die Erkenntnis, dass ganz entfernte Freunde in der Not eine verlässlichere Stütze sein konnten als mehr oder weniger nahe Verwandte. Murrhardt hatte da guten Anschauungsunterricht geliefert.
Jedenfalls besann man sich nach diesem Ausflug auf ortsnähere Gefilde, z. B. die Region um Katharinenlinde und Jägerhaus. Beide in Spaziergangnähe des großmütterlichen Hauses. Im Herbst Fundstelle von Bucheckern, die mühsam vom Boden aufgeklaubt, in der Ölmühle gegen Öl eingetauscht wurden. In derselben Gegend beheimatete Eichen sorgten zu damaliger Zeit, dank Abschuss der Wildschweine und sonstigem Wild, als Nahrungsquelle für Zweibeiner. Auf dem Bollerofen geröstete Eicheln verloren ihre Bitterstoffe. Das aus ihnen mit Hilfe einer Kaffeemühle gewonnene Mehl konnte mittels Salz- und Wasserzusatz zu einer Art Brot gebacken werden. Dessen Geschmack wurde unter dem Motto: „Der Hunger treibt es rein“ mit dementsprechender Begeisterung konsumiert. Solange das Gebäck schwer wie Blei im Magen schlummerte, bewahrte es vor bohrendem Hungergefühl. Eine alternative, sozusagen edle Variante,