Obstschnaps gebrannt, der dem Bauern zu einem schwunghaften Tauschhandel mit den französischen Besatzern verhalf. Im Gegenzug gab es Bohnenkaffee, Schokolade, Orangen, Bananen. Dinge, die ich bisher vorwiegend aus Bilderbüchern kannte.
Immer wieder klopften ausgehungerte Gestalten an die Tür; sie hofften – leider oft vergeblich – auch einen Zipfel von diesem Paradies zu erhaschen. Bevorzugtes Tauschangebot waren Teppiche, von denen der Bauer schon in kurzer Zeit so viel entgegengenommen hatte, dass er mit ihnen auch noch den Kuhstall hätte auslegen können. Erstaunlich früh dämmerte dem Achtjährigen: Zur rechten Zeit am rechten Ort, das schützt vor Hunger, Kälte, Mord.
Trotz des längeren Weges bestand die Mutter auf regelmäßig sonntäglichem Kirchgang. Anschließend trieb ich mich gerne noch ein bisschen in Murrhardt herum, während der Rest der Familie den Geschwistern Horn einen kurzen Besuch abstattete. Der Rückweg nach Waltersberg wurde deshalb oft getrennt angetreten. Dabei benutzte man einen abkürzenden Fußweg durch den Wald. So auch ich an einem sonnigen Spätvormittag, als rechts von mir, hinter dichtem Gebüsch, unvermittelt lautes Stöhnen drang, das in seufzendes Röcheln überging. Vor Schreck gelähmt blieb ich wie angewurzelt stehen. In meiner Phantasie sah ich einen von mörderischer Hand dahingestreckten, bedauernswerten Menschen in seinem Blute schwimmen. Alles gleichermaßen überraschend wie Furcht einflößend. Der erste Reflex stellte das Signal auf sofortige Flucht – doch es überwog die kindliche Neugier. Auf Zehenspitzen näherte ich mich dem Gebüsch und schob so geräuschlos wie möglich die Zweige auseinander. Da stand in all seiner Pracht, nackt wie Gott ihn schuf, ein Mann mittleren Alters inmitten eines riesigen Ameisenhaufens. Er machte Anstalten, auch noch sein Gesäß nebst Zubehör ungeschützt in den Bau der in ihrer Ruhe aufgescheuchten Tierchen zu versenken. Ich hatte genug gesehen. Es konnte sich nur um einen Geisteskranken handeln, der allerdings einem anderen Bauern aus Waltersberg sehr ähnlich sah. So schnell meine Füße trugen, hastete ich nach Hause und berichtete von meinem Abenteuer im Walde. „Des ka bloß der Anton von gegaüber gwä sei. Der jommert doch älleweil wega seim Rheuma,“ wurde ich beschieden. So wandelte sich der Geisteskranke in einen vom Schmerz geplagten Naturheilkundigen, der sich seine Ameisensäure direkt vom Erzeuger abholte. Die Schwierigkeiten beim Erwerb von Linderung versprechenden Substanzen standen damals denen der Lebensmittelbeschaffung in nichts nach….
Der enge Kontakt mit der Natur und ihren Produkten, bot noch viel Abenteuer mit bisher Unbekanntem. Beim Schlachttag im Herbst tat mir das dafür auserkorene Schwein leid und bei seiner Tötung wollte ich keinesfalls zusehen. Die anschließende Verarbeitung verschaffte neue Eindrücke in die Anatomie. Staunend lernte ich, dass es beinahe nichts gab, was an diesem nützlichen Tier nicht zu verwerten war. Bauchspeck und Würste nahmen sich auf dem frisch gekochten Sauerkraut ganz allerliebst aus und schmeichelten dem Gaumen ungemein. In unbewachtem Augenblick gelang mir ein kräftiger Schluck aus der mit Obstler gefüllten Flasche. Ein erster Einblick in die verdauungsfördernde Eigenschaft dieses Wässerchens, das zusätzlich rote Bäckchen und allgemeine Fröhlichkeit schenkend, mir wie eine Allzweckwaffe vom lieben Gott erschien. Tage zuvor war bei der Kartoffelernte die geschmackliche Qualität der ersten, in der Glut auf freiem Feld gegarten Kartoffeln getestet worden. Eine völlig neue Welt! In ihrer Unbekümmertheit noch einmal vergleichbar mit einem Blick zurück, auf die für mich gleichermaßen glückliche Freystädter Kindheit.
Winter 1945 – 1947
Zur Großmutter nach Esslingen oder Paradies ade – Hunger tut weh!
Wie alles, das sich so glücklich anfühlt: Eine nur allzu schnell vorbeirauschende Gegenwart mutiert in ein Stück goldene Vergangenheit. „Glück ist, kaum hat man es empfunden, ein Zustand, welcher rasch entschwunden.“ Nicht Wilhelm Busch, sondern Wolfgang Seraphim, Jahrzehnte später als Reim kreiert – oder eventuell doch nur ein zweites Mal von mir nach Busch aus der Taufe gehoben? In Murrhardt ein Leben voll Abenteuer und Herausforderungen ohne erkennbare Verpflichtungen. Als eines Tages ein Brief von der Großmutter mütterlicherseits aus Esslingen bei Stuttgart eintraf. Mit ihm kündigte sich der nächste Wechsel in eine andere Welt an. Der Brief war ein einziger Hilferuf der betagten Großmutter, die sich in ihrem Einfamilienhaus, ohne den vier Jahre zuvor gestorbenen Ehemann, den komplizierten Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen sah. Man ahnte, dass die bisher so fantastisch funktionierende Lebensmittelversorgung mit dem Umzug nach Esslingen in ein völlig neues Stadium treten würde. Ohne allerdings vorherzusehen, wie dramatisch sich die Dinge entwickeln sollten. Für meine Mutter war auf jeden Fall völlig klar, sich dem Ruf ihrer Mutter nicht verschließen zu können. Sie wollte es auch nicht: Die Vorgaben ihrer in jungen Jahren genossenen Erziehung ließen ihr gar keine andere Wahl.
Bei den wenigen Dingen, die von Freystadt gerettet und den noch bescheideneren Neuerwerbungen aus Murrhardt, gestaltete sich der Umzug nicht problematisch. Nur die Zugverbindungen glichen immer noch einem Lotteriespiel: Man erfuhr zwar auf Nachfrage, in welche Richtung der auf dem Bahnsteig stehende Zug fahren sollte, aber nicht, wann er abfahren und wie weit er letztendlich fahren würde. Oft blieb man stundenlang auf freier Strecke stehen – Blümchen pflücken während der Fahrt verboten …
Die Großmutter war eine Seele von Frau, die ohne groß darüber zu reden, ein überzeugtes Christentum vorlebte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie jemals über einen anderen Menschen ein böses Wort verlor. „Unser Herrgott hat gar mancherlei Kostgänger.“ Dieser verschmitzt lächelnd vorgebrachte Satz gehörte zu ihren schärfsten Waffen offener Kritik. Unausgesprochen stand dahinter die Mahnung: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Es gab keinerlei Anpassungsprobleme. Im Gegenteil, ich hatte die liebevolle Frau bald in mein Herz geschlossen, was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Meisterhaft erzählte sie spannend biblische Geschichten – Frucht detaillierter Bibelkenntnis. Hatten sie doch in ihrer langjährigen, glücklichen Ehe Abend für Abend zusammen ein Kapitel nach dem anderen in der Familienbibel gelesen und auf diese Weise das dicke Buch mehrfach von vorne bis hinten durchgeackert. Sie war vielleicht nicht überdurchschnittlich gebildet, weil das nach Stand und Herkunft als Tochter der Wirtin aus dem „Gasthaus zum Rössle“ in einem kleinen Nest auf der Schwäbischen Alb zu damaliger Zeit gar nicht im Bereich des Möglichen lag. Sie hatte etwas viel Wertvolleres: Die tief von innen ausstrahlende unaufdringliche Herzlichkeit einer weisen Frau. Sozusagen ein wandelnder Beweis der Botschaft von Blaise Pascal, dass das Herz eine Vernunft hat, die der Verstand nicht kennt. Sie trug ihre Frömmigkeit nicht wie eine Monstranz vor sich her. Aber sie hat sie still und unaufdringlich gelebt. Sie hatte viel Humor und konnte sehr herzhaft lachen – auch über sich selbst. Noch nach Jahrzehnten keine Erinnerung an sie ohne ihre Lachfalten vor Augen. Alles an ihr war einfach, unkompliziert und authentisch. Kurzum eine Frau, die auf den Entwicklungsprozess eines jungen Menschen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss nahm. Ohne sich von ihr erzogen zu fühlen. Als sie drei Jahre später, 1948, für immer die Augen schloss, empfand ich zum ersten Mal tiefe Trauer. Am Morgen grub sie im kleinen Garten hinter dem Haus noch etwas Land um. Nach dem Mittagessen legte sie sich in ihr Bett: „Ich bin ein bisschen müde“. Es waren ihre letzten Worte. Sie hatte sich ganz leise von dieser Welt verabschiedet. Unspektakulär, wie ihr Leben – authentisch bis in den Tod. Als sie die Mutter zwei Stunden später wecken wollte, hatte sie sanft die Reise in eine andere Welt angetreten. Ein schöner Tod, wie sie sich ihn immer gewünscht hatte …
Entsprechend der allgegenwärtigen Wohnungsnot hatte die Großmutter noch ein kinderloses Ehepaar im Haus aufnehmen müssen. Das Miteinander auf nicht großzügig bemessenem Raum war keineswegs konfliktfrei. Der Herr der Schöpfung sprach gelegentlich, mehr als ihm guttat, dem Alkohol zu. Eigentlich nicht problematisch, wenn er sich dabei auf sein stilles Kämmerlein zurückgezogen hätte. Leider fühlte er sich aber im daraus resultierenden Hochgefühl eher ermuntert, in freie Wildbahn auszubrechen. Unbeschadet der Anwesenheit seiner eigenen Ehefrau, begann er der Kriegerwitwe aus Schlesien heftige Avancen zu machen. Erst nachdem man mehrfach auf dem Wohnungsamt der Stadt vorstellig geworden war, gelang es, die Leute auszuquartieren. Im Gegenzug wurde umgehend ein anderes kinderloses Ehepaar zugewiesen: Flüchtlinge aus Mährisch Ostrau, die sich durch ungebremsten Knoblauchverbrauch auszeichneten. Dieses offenbar unverzichtbare Symbol böhmisch-ungarischer Kochkunst sollte als penetranter Duft jedenfalls noch über Jahre,