– mit Einverständnis der Alliierten – einige kluge deutsche Köpfe hier zusammentrafen, um die Grundzüge der neuen Verfassung des Landes Württemberg auszuarbeiten. Unter ihnen neben Carlo Schmid auch ein junger Mann namens Huber. Später Landrat des Ostalbkreises. Ich besuchte ihn kurz vor seinem Tod im Aalener Krankenhaus. Es gelang, dem müden alten Mann noch ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, als die Rede dies historische Ereignis streifte. Eine kleine Messingtafel erinnert an jenem Haus in Murrhardt an diese für das Land Württemberg historisch bedeutsame Zusammenkunft.
Die „Sonne-Post“ war damals aus noch ganz anderen Gründen bedeutsam. Es war der einzige Gasthof weit und breit, in dem zu jener Zeit wenigstens ab und zu – auf Lebensmittelmarken versteht sich – einigermaßen preiswert eine Mahlzeit eingenommen werden konnte, die diesen Namen ehrlich verdiente. Das heißt, es gab dort eine Bratwurst, die zwar höchstens zu etwa zehn Prozent aus Wurst bestand, aber die restlichen neunzig Prozent Brot, Kartoffeln und Quark waren so hervorragend gewürzt, dass man mindestens eine halbe Stunde anstehen musste, ehe man in der Gaststube einen Platz eroberte, um diesem Wunder schwäbischen Erfindungsgeistes die Ehre erweisen zu können. Es lag in der Natur damaliger Rationierungszwänge, dass dieses Bratwurst-Event beileibe nicht täglich und wenn, dann auch nur zeitlich sehr begrenzt zelebriert werden konnte. Da fügte es sich glücklich, den gleichaltrigen jüngeren Sohn des Wirtes als Spielkameraden zu haben. Es garantierte einen nicht zu unterschätzenden Informationsvorsprung bezüglich der Speisekarte. Beide Söhne dieses Wirtes namens Bofinger blieben in der Tradition der Familie und bewirtschafteten später im Neubau einen ganz hervorragenden, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Landgasthof. In diesem, aber auch schon zuvor im alten Gasthof, beobachtete ich gelegentlich einen Herrn namens Hans Bayer, wie er gemütlich vor einem Glas Rotwein sitzend, eifrig und gelegentlich schmunzelnd, mit einem Bleistift Notizen zu Papier brachte. Als seltsame Marotte war dessen Stammplatz regelmäßig durch eine bunte Kordel isoliert von jedweder Nachbarschaft abgegrenzt. In kindlicher Unbekümmertheit sprach ich die alte Frau Bofinger hinter der Theke auf dieses Kuriosum an. Noch heute präsent, der aus ihrem Dirndl wogende gewaltige Busen der alten Dame, als sie sich zu mir herunterbeugte, um zu erklären: „Bua, des verstoscht du net – der schreibt für Deutschland!“ Nun war ich um einen feuchten Traum reicher, aber, die Kordel betreffend, arm an Erkenntnis wie zuvor. Bekannt wurde der so sorgsam Eingehegte unter seinem Künstlernamen Thaddäus Troll. Mit unnachahmlich trockenem schwäbischem Humor schuf er so wunderbare Bücher wie „Deutschland, deine Schwaben“ oder „Der Entaklemmer“. Humorist und Clown haben nicht selten gemeinsam, dass es in ihrem Inneren gar nicht so lustig aussieht wie man vermuten möchte. Das galt auch für diesen Literaten, der als Nationalsozialist sich später nie verziehen hat, diesem Ungeist mutig entgegengetreten zu sein. Ihn plagten furchtbare Depressionen. Da sich Antidepressiva nicht mit Alkohol vertrugen, verbot ihm seine Ärztin den regelmäßigen Schoppen Rotwein. Am 5. 7. 1980 setzte sich dieses Denkmal deutscher Literatur mit einer Überdosis Schlaftabletten selbst ein Ende. Keiner hat den Schwaben, scharf beobachtend, bissig formuliert mit so viel Herz eingewickelt porträtiert wie er. In seinem Abschiedsbrief bat er, statt um Blumen oder Nachrufe, um eine Spende für „Pro Asyl“. Auf dem Sitzplatz hinter der Kordel in der „Sonne-Post“ zu Murrhardt war ich einem Mensch begegnet, von dem ich nicht ahnen konnte, wie viel uns im Geist miteinander verband. Ein Geist, der Jahrzehnte später Europa und teilweise auch meine geliebten Schwaben spalten sollte. „Arschlöcher gibt’s überall!“ wäre vermutlich sein freimütiger Kommentar dazu gewesen.
Obwohl sich 1945 die Versorgung mit Lebensmitteln in diesen ländlichen Regionen ungleich unproblematischer gestaltete als in den Großstädten, war auch im Hause „Horn am Markt“ diesbezüglich die Situation alles andere als rosig. Die Ankunft des Bruders verschärfte das Problem. Es bot sich deshalb an, den vielköpfigen Neuzugang dort unterzubringen, wo man in der Nacht des Feuerüberfalls schon einmal Zuflucht gefunden hatte: beim Bauern Bay in Waltersberg. Dieser stimmte zu und damit begannen für mich so etwas wie wie Ferien auf dem Bauernhof.
Ferien auf dem Bauernhof
„Zur rechten Zeit am rechten Ort, das schützt vor Hunger, Kälte, Mord“
Alte Spruchweisheit
Es war ein florierender Hof mit Kühen, Ochsen, Schweinen, Hühnern, Gänsen und sogar einer bescheidenen Nutriazucht in einem kleinen See hinter dem Wohnhaus. Technische Gerätschaften beschränkten sich ausschließlich neben Pflug und Egge auf einen Traktor, der sich aber gut in Schuss präsentierte – in damaliger Zeit eher ungewöhnlich. Dennoch verließ man sich bei der Fahrt auf die nicht weit voneinander entfernten Felder lieber auf die biologische Zugmaschine in Gestalt des Ochsens Herrmann. Ein Prachtexemplar von einem Tier, der alle anderen Vierbeiner im Stall an Größe deutlich überragte und gleichermaßen bedächtig, gutmütig sowie zuverlässig alle ihm gestellten Aufgaben erledigte. Herrmann hatte im Laufe seines Ochsendaseins gelernt mitzudenken. Er war in der Lage, ohne besondere Dienstanweisung aus seinem Erfahrungsschatz abzurufen, was von ihm erwartet wurde. Klapperten zum Beispiel die Milchkannen beim Aufladen hinter ihm auf dem Wagen, setzte er sich automatisch nach einem kurzen „Hüscht!“ in Richtung Murrhardt in Bewegung. Es bedurfte dann keiner weiteren Anweisungen. Er trottete quasi im Alleingang zielsicher rechts oder links abbiegend bis vor die ca. drei Kilometer entfernte Milchsammelstelle, wo er an der Rampe stehen blieb, um geduldig das Abladen der Kannen abzuwarten. Nach erneutem „Hüscht!“ trat er ebenso gewissenhaft wieder gemächlich den Heimweg an. Das war eine Beschäftigung so recht nach meinem Herzen: Hinten auf dem Wagen sitzen, still vor sich hin träumend mit dem Gefühl, zu etwas nutze zu sein. In diesen Zeiten aufregender Veränderungen ein Hort der Ruhe und Entspannung – die unverhoffte Win-Win-Situation schlechthin.
Insgesamt war aber für Erwachsene die Arbeit hart und anstrengend. Die Bäuerin heizte spätestens morgens um fünf Uhr den Herd in der Küche an, setzte einen Topf mit Kartoffeln auf und begab sich zum Melken der Kühe in den Stall. Wenn sie mit einem Eimer frischer, noch warmer Milch zurückkam, waren die Kartoffeln gekocht, alle anderen hatten mittlerweile um den Küchentisch Platz genommen. Eine Prise Salz auf dem Teller verhalf der ungeschälten Kartoffel in der Hand zu zusätzlichem Geschmack. Dazu trank man die noch warme Milch aus großen Bechern. Es ging meist sehr schweigsam zu, in dieser Morgenstunde. Ich empfand das tägliche Ritual als ausgesprochen wohltuend. Vergleichbar mit einer Art Morgenandacht, als Einstimmung auf die vor mir liegende Arbeit. Eine schweigende Gemeinschaft, in der sich alle noch einmal darauf besannen, was der Bauer am Abend zuvor beim Nachtmahl für den kommenden Tag an Arbeit vorgegeben hatte.
Nach dem Melken und Füttern der Kühe ging es mit dem Wagen hinaus zur Feldarbeit. Im Morgentau lässt sich das Gras besser mähen als in den Mittagsstunden. Ich lernte schnell den Umgang mit der Sense, war aber doch vorwiegend dafür verantwortlich, dass der vergorene Most in den mitgeführten Zinnkannen immer schön im kühlen Schatten lag. Das Vesper in Form von Speck, selbst gemachter Butter, Käse und im Holzofen gebackenem Brot, stand stets zur allgemeinen Verfügung. Man könnte auch sagen: Ich war für die Futterage zuständig. Essen wie Trinken und Wolfgang, eine lebenslänglich verlässliche Liaison. Garant für eine sichere Bank, die Leib und Seele zusammenhält. Die orale Phase, kein auf kindliches Daumenlutschen begrenztes Event. Bedenkt man, dass die Schule auf unbestimmte Zeit ihre Tore geschlossen hatte, wird nachvollziehbar, warum ich mich im Gras auf dem Rücken liegend und den blauen Himmel betrachtend, wie im Paradies fühlte. Genieße froh die Tage, des Lebens holde Gunst – auch wohldosierte Faulheit ist ein Stück Lebenskunst. Was für eine Insel der Seligen inmitten eines Ozeans von Zerstörung, Mangel, Leid und Verzweiflung! Getreu dem Motto, die Dosis macht das Gift, griff ich auch dann und wann zum Rechen, um das Gras zu wenden, oder mich sonst nützlich zu machen. Am späten Vormittag verließ die Bäuerin das Feld, um das Mittagessen vorzubereiten: Häufig mit Gurken angereicherter Kartoffelsalat, kaltem Braten, selbst gemachter Wurst oder Fleisch in Dosen aus eigener Schlachtung; manchmal aber auch nur eine Rinderbrühe mit abgeschmälzten Zwiebeln, Kartoffeln oder altbackenem Brot. Obligatorisch aber der sonntägliche Hühnerbraten mit Spätzle, der für Schwaben unvermeidlichen Soße und grünem Salat. Letzterer ebenso wie Bohnen, Tomaten, Kohl, Kartoffeln und Küchenkräuter aus eigenem Anbau. Es