erschienen auf die Sekunde pünktlich, die andern folgten bald.
Es waren noch zwei andre Geistliche zur Probepredigt nach Rodenburg geladen, die gleichfalls gefielen. Aber der erste Bürgermeister trat mit Entschiedenheit für die Wahl von Hans Warsow ein, und da er einen Einfluss in der Stadt hatte wie nie ein andrer vor ihm, so wurde diese mit ziemlicher Einstimmigkeit vollzogen.
Nun hatte Hans Warsow sein Ziel erreicht, er hatte ein grosses Pfarramt inmitten einer blühenden Stadt, die im Herzen seiner geliebten Heimat lag, er konnte wirken und schaffen.
Und er tat es. Leicht war seine Tätigkeit nicht. Sein Vorgänger, ein älterer, kränklicher Herr, hatte den grössten Teil der Arbeit dem jüngeren Amtsbruder überlassen, und Diakonus Brettschneider hatte sich ein reiches Feld in der Gemeinde geschaffen. Aber Hans Warsow hatte eins vor allen seinen Amtsbrüdern voraus: seine Predigten übten eine starke Anziehungskraft, der Kirchenbesuch stieg. Leute, die sonst nie in der Kirche zu sehen gewesen, stellten sich jetzt ein, man sprach von seinen Predigten, was in Rodenburg bisher nie geschehen war.
Aber das alles, so schön es sich anliess, dauerte nur eine kurze Zeit. Die Teilnahme an seinen Predigten hörte zwar nicht auf, verlor jedoch ihre Lebendigkeit, als der Reiz der Neuheit dahin und seine Tätigkeit etwas Gewohntes war. Da seinem Wesen zudem jenes Gleichgewicht abging, das sich weder durch Zudringlichkeit noch durch Überspanntheit von manchen seiner weiblichen Schutzbefohlenen aus der Fassung bringen liess, da er als Denker zu oft mit allerlei Fragen und Erwägungen beschäftigt war, um jedem Besucher, jedem seiner Gemeindeglieder auf der Strasse gleich mit jener fertigen Liebenswürdigkeit und Anteilnahme entgegenzukommen, die man nun einmal von „seinem“ Geistlichen verlangte, so hielt sich das allgemeine Interesse, das er im Anfang erregt hatte, nicht auf seinem Höhepunkt.
„Gewiss, klug ist er, und was er sagt, ist schön,“ meinte eine Dame der besseren Kreise, die ihm zuerst mit begeisterter Hand Pforten gebaut, „aber ich kann mir nicht helfen, Herr Brettschneider ist so sehr viel netter, es kommt alles so herzlicher und so liebevoller bei ihm heraus.“
„Er ist ein bisschen von sich eingenommen. Das sind die geistvollen Leute immer,“ äusserte eine andre, mit der er sich gelegentlich einer Tauffeier sehr anregend unterhalten, die er aber bei einer späteren Gelegenheit nicht wiedererkannt und infolgedessen wenig beachtet hatte.
„Predigen kann hei, aber trösten kann hei nich!“ sagte eine einfachere alte Frau, die es dem neuen Pfarrer übelgenommen hatte, dass er nach einem halbstündigen Vorklagen ihrer sämtlichen Leiden der Reihe nach nicht mehr ganz bei der Sache war. Bei der Menge wirkt ein liebenswürdiges Wesen bei weitem mehr als geistige Vorzüge; diese schliessen aus, jenes zieht an. Hans Warsow war noch harmlos genug, zu glauben, dass es im Leben zuerst auf das ernste Wollen und die Kraft des Könnens ankomme. Die Leute wollen gestreichelt sein, warm muss der Blick sein und weich die Hand, die sie berührt. Und Hans Warsows Blick war nicht immer warm, und nicht immer weich die Hand, die er reichte.
Bei alledem durfte er sich nicht beklagen: ein sehr grosser Teil, nicht nur der Nikolaigemeinde, sondern der ganzen Stadt, hielt unentwegt zu ihm. Er zog seine Predigten jeder andern vor, er suchte ihn für ihre Amtshandlungen. Er bemühte sich, in einen persönlichen und gesellschaftlichen Verkehr mit ihm zu kommen. Dies war freilich nicht leicht, denn am Tage arbeitete er in der Gemeinde, und seine Abende waren geistigen Studien gewidmet, die er keineswegs vernachlässigte, oder er war mit der Vorbereitung für die zweite Auflage seines Werkes über Ostpreussen beschäftigt, das einen wachsenden Anklang in der Provinz, ja über sie hinaus gefunden hatte.
Eine Erholung gönnte sich Hans Warsow inmitten all seines angestrengten Arbeitens: er fuhr dann und wann nach Bärwalde.
Es war ja immer eine grössere Reise, aber sie trug ihren Lohn in sich. Sowie er die Luft Bärwaldes atmete, all die Stätten auf dem Hofe, in Feld und Wald betrat, an die ihn die schönsten Erinnerungen seiner Kindheit knüpften, dann fühlte er sich wohl und war von Herzen froh und jung.
Da stand das alte stolze Herrenhaus, in seinem früheren Teil an eine ferne Vergangenheit mahnend, der linke weitausreichende Flügel und das obere Stockwerk später angebaut. Aber nur der kennende Blick konnte die alte und die neue Zeit hier unterscheiden, denn ein verständnisvoller Königsberger Architekt hatte die Neuerung bewerkstelligt und dem Vorhandenen einheitlich zugefügt. Und alles war mit der grössten Sorgfalt gepflegt und erhalten.
Vor der nach dem Hof hinausschauenden Front standen zu beiden Seiten der offenen hölzernen Veranda zwei gewaltige uralte Pappeln, die so mancher Sturm zerzaust, mancher Blitz getroffen, und die dennoch stark und trutzig mit dem kahlen Haupt in den Himmel ragten, als wären sie hingestellt wie zwei schützende Riesen, das Bärwalder Herrenhaus vor den feindlichen Elementen des Himmels und der Erde zu bewahren. Ihnen gegenüber ein grosser ovaler Platz, mit allerlei Sträuchern und jungen Bäumen angepflanzt, unter denen der gepflegte Rasen schimmerte; rechts von ihm, durch eine breite mit Kies bestreute Einfahrt getrennt, der herrschaftliche Kutschstall mit dem Turm darauf, dem Hahn über ihm als Wetterfahne und der Glocke im Dachgestühl, die zur Arbeit rief und die Feierstunde kündete.
Wie vertraut war ihm dieser Laut, wie redete er seine eigne Sprache, die nur er verstand! Er und allenfalls Fritz, aber der war viel jünger als er und hatte erst später erfahren, was er lange durchlebt. Und auch wieder auf seine Weise, denn sie beide hatten ihre bestimmte Eigenart, die sie einte und trennte. Nur in einem waren sie gleich: in der Liebe zu diesem Gute ihrer Väter, zu jedem Gebäude, jedem Baume, jedem Grashalm auf ihm. Bärwalde bedeutete für sie den Kern der Heimat, in der sie wurzelten.
Und in der Tat: dies alte Gut mit seinen tiefen Flächen und Weiten, seinen grünen Triften und fetten Weiden, dem gewaltigen Kranze uralter Wälder, der den ganzen Horizont umschloss, dem breiten Deichgraben, der es an seiner Grenze durchschnitt, und den Brücken mit den schwarz und weissen Geländern, die über ihn dahinführten — es war wie ein Ausschnitt des fruchtbaren, gesegneten Ostpreussenlandes. Und wenn Hans am dämmernden Abend mit dem alten Onkel auf der Hofveranda auf der hölzernen Bank sass und die rauschenden Pappeln über ihnen das Lied der Zeit, seine ewige Melodie von Werden und Vergehen, spielten, wenn auf der Hofstrasse, jenseit des ovalen Platzes, die grosse Herde heimwärtsgezogen kam, der Ton ihrer Glocken mit dem behaglichen Gebrüll sich einte, und hinter ihnen die Schnitter mit Sensen und Gerät ihren Häusern auf dem Gehöft zuwanderten, wenn über alledem die Sonne wie eine glühende Scheibe am lohenden Himmel stand und mit ihrem letzten Schein die alte Pronitter Kirche dort drüben am fernen Horizont jenseit des grossen Deichgrabens grüsste, dann überkam ihn ein wunderstilles, heimlich glückliches Gefühl der Geborgenheit, und er empfand nichts als das beseligende Bewusstsein, nun endlich nach langer Wanderung wieder daheim zu sein im heissgeliebten, oft entbehrten Ostpreussenland! Er sprach kein Wort, jede Silbe wäre ihm Entweihung gewesen.
Auch auf den welken Zügen des alten Onkels lag etwas wie feiernde Ruhe und schimmerte wider in seinen trüben Augen, die nicht viel mehr sehen konnten, aber, als sie jung waren, geradeso hinausgeblickt hatten auf diese gesegnete Landschaft, diesen friedumhegten Gutshof mit seinen alten, aber gut erhaltenen Gebäuden und Bäumen, deren scharfem Blick damals nichts entging, was sich auf dem grossen Hof ereignete.
Der Alte hatte eine eigne Art. Meist sass er stumm, wie teilnahmlos da, wenn die andern um ihn herum redeten. Dann griff er mit einemmal in das Gespräch ein, und sofort wusste man, dass er alles gehört und wohl verstanden hatte. Nun sprach er seine Ansicht aus, und was er dann meist in kurzen, knappen Worten sagte, hatte alles Hand und Fuss und traf den Nagel auf den Kopf. Besonders Hans unterhielt sich über geistige Dinge mit niemand so gern wie mit dem Alten, und es war schwer zu entscheiden, wer von beiden mehr gab oder empfing.
Lange konnte der alte Herr den Aufenthalt im Freien nicht vertragen. Obwohl er im Wintermantel sass, fröstelte ihn bald; dann ging man ins Haus. Da hatte Fräulein Hutemach inzwischen das Abendbrot bereitet. Sie war aus Litauen gebürtig; von ihrer frühesten Jugend an in die Welt und in die verschiedensten Stellungen verschlagen, hatte sie sich eine umfassende Bildung, viel Geschick und Takt im Umgang mit den Menschen und eine gute Dosis persönlichen Mutes angeeignet, der sie nie verliess. Als der Bruder des Bärwalder, der alte Geheimrat in Berlin, für jenen eine Gesellschafterin suchte, konnte ihm das Glück keine geeignetere zuführen als diese.