So ist zur Zeit immer noch die Nation der größte Organismus auf der Erde. Dabei ist die Nation ein vergleichsweise junges Konstrukt. Heute ist die ganze Welt in Nationen aufgeteilt, aber noch vor ein paar hundert Jahren waren wirkliche Nationen, also organisierte, stabile, anerkannte und geografisch klar definierte politische Entitäten, eher selten. Da gab es, von heterogenen Imperien wechselnder Zusammensetzung mal abgesehen, Königreiche, Baronien, Grafschaften, Nomadenvölker, Stämme, Volksgruppen, Clans... die teilweise durch ein Netz von Verträgen, Abhängigkeiten, Verflechtungen und Gewaltandrohung miteinander verbunden waren. Und auch heute noch gibt es auf der ganzen Welt Volksgruppen, die zwar nominell einer Nation zugerechnet werden, aber dieser nicht wirklich angehören, beispielsweise die Indianerstämme des Amazonas, die australischen Aborigines oder die Nomadenvölker im Einzugsgebiet der Sahara. Sie alle haben eine Stammesidentität, aber keine Identität als Nation oder Teil einer Nation.
Die Nation ist der bisherige Endpunkt einer Entwicklung. Sie bildete sich aus mehr oder weniger großen Zusammenschlüssen von Stämmen, Städten, feudalen Verwaltungseinheiten und Volksgruppen, die sich individuell aus immer kleineren Lebenseinheiten zusammensetzen, und die kleinste Einheit ist nach der Groß- und Kleinfamilie das Individuum.
Dieses unterliegt in seinem Wirken und seiner Informationsverarbeitung im Wesentlichen zwei Einflüssen: der wie auch immer gearteten Gruppenidentität und dem Wunsch nach individueller Identität, also Selbstverwirklichung. Das Zusammenspiel dieser beiden Dinge formt das Bewusstsein und die Persönlichkeit. Die Wahrnehmung der Welt, die Gruppenidentität und der Einfluss der Gesellschaft wirken dabei von ihrem Charakter her wie eine nach außen ziehende, zentrifugale Kraft; unser inneres Wesen, unsere ureigensten Wünsche und Bedürfnisse wirken dagegen nach innen ziehend, also als zentripetale Kraft. Für eine gesunde Entwicklung müssen sich diese beiden Kräfte einigermaßen die Waage halten. Eine übermäßige Betonung der zentripetalen Kräfte führt zu einem egoistischen, im Extremfall soziopathischen Charakter, für den nur die eigenen Interessen von Bedeutung sind. Musterbeispiele dafür sind die Chefs der großen Finanzinstitute, Konzerne und Industrien, denen ihr Geld und ihre Macht alles, die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerungsmehrheit auf diesem Planeten nichts bedeuten. Bei einem deutlichen Übergewicht der zentrifugalen Kräfte hingegen opfert man die individuelle Persönlichkeitsentwicklung einem größeren Ganzen, einer Gruppenidentität, und das führt dann zu religiösen Fanatikern, Fundamentalisten und Ultraorthodoxen, zu Terroristen für die „gute Sache“ und zu totalitären Politikvorstellungen.
Allerdings ist dieses Ausmaß und Verhältnis der Kräfte keine fixe, unabänderliche Sache. Ganz im Gegenteil ist das Spiel dieser beiden Einflüsse eine Triebkraft der Persönlichkeitsentwicklung. Je mehr man etwa seinen Bewusstseinsfokus nach innen verlagert, desto mehr wandert auch der Kreis des Bewusstseins für die Umgebung nach innen; dieses Bewusstsein und damit die Einbettung in die Gesellschaft wird also kleiner. Wenn man dagegen mehr im Außen lebt, unterwirft man sich den Einflüssen und Strömungen der Gesellschaft und vergrößert so quasi mechanisch seinen inneren Kreis, füllt diesen aber nicht durch ein entsprechendes Bewusstseinswachstum aus und schwächt so seine innere Mitte.
Eine gesunde, ausgeglichene Persönlichkeitsentwicklung läuft aber anders ab. Man könnte sagen, dass unsere Oberflächenpersönlichkeit, also das, was wir für gewöhnlich als unser Selbst betrachten, der Ring oder die Schale ist, welche am Berührungspunkt dieser beiden Kräfte steht. Dieser Ring, die Persönlichkeit, ist die Schnittstelle zwischen Innen- und Außenleben. Um im Bild zu bleiben, bedeutet das Persönlichkeits- oder auch Bewusstseinswachstum eine Vergrößerung dieses Kontaktkreises, und das gelingt nur dann auf harmonische Weise, wenn die nach innen und nach außen gerichteten Kräfte, also die zentripetalen und zentrifugalen Kräfte, sich einigermaßen im Gleichgewicht befinden und in gleichem Maße wachsen.
Das wird natürlich nur selten synchron und mit gleicher Intensität geschehen, weshalb die meisten Menschen immer irgendwie unausgeglichen sind. Aber andererseits kann diese Unausgeglichenheit auch zu einem Wachstumsmotor werden, wenn man bereit ist, jedem Wachstumsschritt in einer Richtung eine Bemühung um Wachstum in die andere Richtung entgegenzusetzen. Wenn man also einen inneren Fortschritt macht und so den inneren Kreis ausweitet, muss man diesen nach außen tragen, indem man sein Umgebungs- und Gesellschaftsbewusstsein wachsen lässt oder sich um ein entsprechendes Wachstum bemüht, was dann eine Ausweitung des äußeren Kreises bedeutet, oder man versucht, das innere Wachstum im äußeren Leben künstlerisch, literarisch, sozial, kommunikativ... auszudrücken. Und wenn man umgekehrt von der gesellschaftlichen oder politischen Entwicklung oder sonstigen Umständen nach außen gezogen wird, muss man versuchen, in seiner inneren Entwicklung zu wachsen, um Schritt halten und das innere Gleichgewicht wiederherstellen zu können.
Für eine sehr lange Zeit bestand unsere Umgebung aus der Familie, engen Freunden, dem Clan oder Stamm und dem Dorf oder der Grafschaft, in der man lebte. Allenfalls gab es noch ein vages Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Volks- oder Sprachgruppe oder zu einem Land. Von den kleinsten Gesellschaftseinheiten ausgehend pendelten sich Innen und Außen immer aufeinander ein, und dieses Gleichgewicht drückte sich auch in der jeweiligen Kultur aus und wurde zur Grundlage der Bewusstseinsentwicklung der nachfolgenden Generationen. Auf diese Weise hielt der Mensch in seinem Wachstum mit der allmählich komplexer werdenden Welt Schritt.
Und auf diese Weise begann er auch, eine Beziehung zu den politischen, nationalen, kulturellen und sozialen Bedingungen aufzubauen, in denen er lebte. Und die stärksten Beziehungen baut er dorthin auf, wo das Äußere und die Kultur am meisten mit seiner Bewusstseinsentwicklung übereinstimmen. Und viele Konflikte auf dieser Welt resultieren aus dieser banalen und einfachen Tatsache. Wenn die Türkei etwa ein Kurdenproblem hat, dann kommt dies nicht nur daher, dass diese unabhängig sein wollen, sondern dass Kurden und Türken einander nie in ihr kulturelles Wachstum einbezogen und sich eher gegenseitig ausgegrenzt haben. Beide haben sich auf ihre „althergebrachten“ Bewusstseinswurzeln gestützt und Änderungen in Hinblick auf die nationale Identität ausgeschlossen.
Aber wenn man genau hinsieht, dann gibt es so etwas wie eine nationale Identität eigentlich kaum, zumindest keine statische, unveränderliche, historische Identität. Wenn etwa ein Bayer auf seine bayerischen Wurzeln stolz ist, dann ist er auf etwas stolz, das es in dieser Form eigentlich nicht gibt, denn es gab nie einen originären Stamm der Bajuwaren. Die Volksgruppe, die heute gemeinhin als Bajuwaren bezeichnet wird, entwickelte sich aus keltischen Boiern und vermischte sich mit Markomannen, Goten, Langobarden, Alemannen und schließlich mit den multinationalen Römern. Vor allem im groß-europäischen Raum gibt es kaum Volksgruppen, die auf eine Geschichte zurückblicken können, die nicht von Zuwanderungen und Verschmelzungen, vor allem auch aus der Zeit der Völkerwanderungen und diverser Kriege, geprägt ist. Eine nationale Identität hat also wenig bis nichts mit Geschichte und biologischer Abstammung zu tun, und sie ist vor allem nicht statisch, sondern verändert sich kontinuierlich. Die deutsche Identität ändert sich heute durch die türkischen und südeuropäischen Gastarbeiter und die osteuropäischen Flüchtlinge genau so wie sie sich früher durch die Völkerwanderungen geändert hat. Ein Zeitraum von fünfzig Jahren seit Beginn der Gastarbeiterzuwanderung mag, vor allem angesichts der mangelnden Integration mancher Türken, als große Zeitspanne erscheinen, ist geschichtlich aber nur eine Marginalie. Es ist sicher nicht so, dass die Einflüsse zuwandernder Kulturen auf die damalige Bevölkerung schmerzlos und ohne Ressentiments abliefen, und die Integration dauerte sicher hundert bis zweihundert Jahre, aber was die Zuwanderer damals mitgebracht haben, betrachten wir heute als integralen Bestandteil unserer Kultur.
Eine Kultur ist nur dort lebendig, wo sie sich bewegt, wo sie neue Elemente in sich aufnimmt und Dinge neu betrachtet. So gesehen sind Dinge wie kulturelle Reinheit oder etwa Trachtenvereine als Totengräber der lebendigen Kultur Dinge für das Museum. Nationale Kultur und Vitalität braucht ebenso wie ein Mensch und auch jedes andere Lebewesen Wachstum, Veränderung und andauernde Entwicklung, denn in der Stagnation, im ausschließlichen Beharren auf dem Althergebrachten liegt nicht nur der körperliche