Anhaltspunkte« für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Da die Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall sehr schwierig und komplex sein kann, haben Ärzte gemäß § 4 Abs. 2 KKG gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.146
Bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung sieht § 4 KKG ein abgestuftes Verfahren vor: Ärzte oder Angehörige eines anderen Heilberufes sollen zunächst die Situation mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten erörtern und gegebenenfalls bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hat dies keinen Erfolg und kann die Kindeswohlgefährdung nicht anders abgewendet werden, besteht die Befugnis, das Jugendamt zu informieren. Hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen wird damit in Frage gestellt.
9.7 Rechtliche Grundlage für eine Einschaltung der Polizei
Für eine Einschaltung der Polizei bietet das Bundeskinderschutzgesetz hingegen keine Grundlage. Hierfür kommt als Rechtfertigung nach wie vor allein der sogenannte rechtfertigende Notstand gemäß § 34 StGB in Betracht.
9.7.1 Notstandslage
Der rechtfertigende Notstand im Sinne von § 34 StGB setzt eine Notstandslage voraus. Eine solche zeichnet sich dadurch aus, dass eine Gefahr für eigene oder fremde Rechtsgüter nicht anders als durch den Bruch der Schweigepflicht abwendbar ist. Darüber hinaus muss bei einer Abwägung der widerstreitenden Interessen das gefährdete Rechtsgut wesentlich schwerer wiegen als das Interesse des Patienten an der Geheimhaltung seiner Daten. Dies ist im Einzelfall anhand aller relevanten Umstände sorgfältig abzuwägen.147
In Fällen des Verdachts auf Kindesmisshandlung besteht eine Gefahr für die Gesundheit und gegebenenfalls sogar das Leben des betroffenen Kindes. Kann das Kind durch eine Anzeige des Verdachts beim Jugendamt und/oder der Polizei vor weiteren Verletzungen geschützt werden, geht der Schutz des Kindes vor weiteren Misshandlungen der ärztlichen Schweigepflicht vor.148 Die Anzeige des Verdachts muss jedoch geeignet und angemessen sein.149 Bei der Frage der Angemessenheit der ergriffenen Maßnahmen zum Schutz des Kindes könnte allenfalls überlegt werden, ob es im Einzelfall möglich ist, als »milderes Mittel« anstatt der Polizei zunächst das Jugendamt zu informieren. Die Abwägung, ob das Jugendamt oder die Polizei informiert wird, ist im Einzelfall anhand des jeweiligen Gefährdungsgrades zu treffen (je akuter die Gefahr, desto mehr spricht für ein sofortiges Einschalten der Polizei).
Für eine Weitergabe von Informationen an die Polizei muss aber der begründete Verdacht einer Kindesmisshandlung vorliegen. Die Rechtsprechung sieht dafür ein typisches Verletzungsbild als ausreichend an.150 Ärzte sind danach nicht verpflichtet, einen möglichen Verdacht »auszuermitteln«. Dies fällt allein in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden. Ist demnach eine Kindesmisshandlung nur eine mögliche Erklärung für eine festgestellte Verletzung und kommen noch andere Geschehensabläufe als Erklärung in Betracht, ist es nicht Aufgabe der Ärzte, andere mögliche Geschehensabläufe auszuschließen.
9.7.2 Wiederholungsgefahr
Die Gefahr, aus der die Notstandslage resultiert, muss jedoch gegenwärtig sein, d. h. es muss eine Wiederholungsgefahr bestehen.151 Die Brechung der ärztlichen Schweigepflicht zu reinen Strafverfolgungszwecken ist nicht erlaubt. Dies darf nur zur Verhinderung weiterer Straftaten erfolgen.152 Wann genau von einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann, ist jedoch im Einzelfall äußerst schwierig zu beantworten. Die juristische Literatur sieht die abstrakte Feststellung, dass Kindesmisshandlungen typischerweise wiederholt begangen werden, nicht als ausreichend an. Erforderlich sei eine einzelfallbezogene Betrachtung.153 Aus der Rechtsprechung lassen sich für Fälle des Verdachts auf Kindesmisshandlung beispielhaft folgende Konstellationen ableiten, wobei dies keine abschließende Aufzählung ist und zahlreiche weitere Konstellationen denkbar sind:
• Die festgestellte Verletzung kann nicht mit dem geschilderten Unfallgeschehen in Einklang gebracht werden und es handelt sich um eine schwerwiegende, lebensbedrohliche Verletzung, die typisch für eine mögliche Kindesmisshandlung sein kann. In einem solchen Fall wurde die Wiederholungsgefahr bereits aufgrund der Schwere der Verletzung bejaht, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt nur eine Verletzung festgestellt werden konnte.154
• Die festgestellte Verletzung kann zwar mit dem geschilderten Unfallgeschehen in Einklang gebracht werden, es bestehen aber Hinweise auf ältere Verletzungen, die nicht mit dem aktuellen Unfallgeschehen erklärt werden können; eine Kindesmisshandlung könnte aber als mögliche Erklärung für diese Verletzungen in Betracht kommen. In einem solchen Fall wurde ebenfalls eine Wiederholungsgefahr angenommen.155
• Die festgestellte Verletzung kann ohne größere Zweifel mit dem geschilderten Unfallgeschehen erklärt werden und es bestehen keine Hinweise auf weitere Verletzungen oder andere Anhaltspunkte für den Verdacht einer Kindesmisshandlung. In einem solchen Fall wurde eine Wiederholungsgefahr abgelehnt und bereits das Vorliegen einer Kindesmisshandlung als unwahrscheinlich angesehen.156
9.8 Inhalt der Anzeige
Der Inhalt der Anzeige sollte sich auf eine sachliche Informationsweitergabe beschränken. Es sollten lediglich die auf eine mögliche Misshandlung hinweisenden Anzeichen objektiv mitgeteilt werden. Dabei sollten Verdächtigungen vermieden werden. Die Rechtsprechung erkennt an, dass Eltern aufgrund der Konfrontation mit dem aus ihrer Sicht ungeheuerlichen Verdacht einer Kindesmisshandlung psychisch belastet sind.157 Es sei daher wünschenswert, dass sich Ärzte und Krankenhäuser ihrer besonderen Verantwortung bei der Meldung von Verdachtsfällen an Polizei und Jugendamt bewusst seien. Konfrontationsgespräche mit den Eltern sollten auch aus dem Blickwinkel geführt werden, dass die Kindeseltern als nicht schuldig anzusehen seien und auch dementsprechend behandelt werden sollten, solange aufgrund von Ermittlungen nicht das Gegenteil feststehe. Gleichermaßen wünschenswert sei eine Sensibilisierung dafür, dass selbst ein sich letztlich nicht bestätigender Verdacht einer Kindesmisshandlung für die verdächtigten Kindeseltern gleichwohl schwerwiegende Folgen in verschiedener Hinsicht haben könne.158
9.9 Dokumentation
Darüber hinaus ist eine ausführliche Dokumentation insbesondere mit Blick auf mögliche gerichtliche Auseinandersetzungen empfehlenswert. Insbesondere die Gründe für das Bestehen eines Verdachts auf Kindesmisshandlung sollten sorgfältig dokumentiert werden (typisches Verletzungsbild; Schwere einer Verletzung; Feststellung älterer Verletzungen, die nicht mit dem aktuellen Unfallgeschehen erklärt werden können etc.). Es sollte beispielsweise auch dokumentiert werden, dass in einem abgestuften Verfahren, wie im Bundeskinderschutzgesetz vorgesehen, zunächst versucht wurde, die Situation im Gespräch mit den Personensorgeberechtigten zu klären und wie diese darauf reagiert haben. Darüber hinaus sollten