»Überreaktion« der Strafverfolgungsbehörden oder des Jugendamtes verantwortlich gemacht werden kann.
9.2 Feststellung aktueller und älterer Verletzungen
In einem weiteren Fall wurde ein Säugling aufgrund einer Sturzverletzung in die Rettungsstelle der beklagten Klinik gebracht.138 Dort wurde die Diagnose einer subakuten Blutung mit Anzeichen von Hirndruck gestellt. Diese Verletzung konnte zwar mit dem von den Eltern geschilderten Unfallgeschehen in Einklang gebracht werden. Im Rahmen der Untersuchung gab es aber neben der frischen Blutung auch Hinweise auf ältere Verletzungen, die sich nicht mit dem akut geschilderten Unfallgeschehen erklären ließen. Mitarbeiter des Krankenhauses informierten hierüber das zuständige Jugendamt, welches vorläufig einen Antrag auf Entzug der Personensorge stellte. Nachdem nicht eindeutig geklärt werden konnte, dass den Verletzungen tatsächlich eine Kindesmisshandlung zugrunde lag, wurde das Kind wieder in die häusliche Obhut der Eltern aus dem Krankenhaus entlassen. Die Eltern verlangten vom Krankenhaus Schadensersatz und Schmerzensgeld. Die von den Ärzten des Krankenhauses erhobenen Behauptungen seien völlig unberechtigt gewesen. Dadurch seien ihre Persönlichkeitsrechte verletzt worden. Sie seien in entwürdigender Weise zu einer Anhörung durch das Jugendamt geladen worden, in der sie stark unter Druck gesetzt worden seien, ohne dass zuvor der Versuch einer Klärung des Sachverhaltes ohne Beteiligung des Jugendamtes unternommen worden sei.
Auch in diesem Fall waren die erkennenden Richter des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts der Ansicht, dass die Einschaltung des Jugendamtes gerechtfertigt war. Der Zustand des Kindes habe eine mehrfache Kindesmisshandlung zumindest nahegelegt. Angesichts der akuten Verletzung und des Befundes, der auf ältere Verletzungen hindeutete, konnten die behandelnden Ärzte als Ursache durchaus eine mehrfache Kindesmisshandlung annehmen und von einer Wiederholungsgefahr ausgehen. Die behandelnden Ärzte mussten nach Meinung des Kammergerichts auch keine weiteren diagnostischen Untersuchungsmethoden durchführen, um den Verdacht auf Kindesmisshandlung zu erhärten oder auszuschließen, bevor sie die Behörden informierten. Das Landgericht Berlin wies auch hier darauf hin, dass es nicht mehr in der Verantwortung des Krankenhauses lag, ob und was das Jugendamt nach Eingang der Anzeige unternahm.
9.3 »Typischer Spielunfall«
Demgegenüber hat das Landgericht München I in einem anderen Fall einen Schadensersatzanspruch betroffener Eltern bejaht.139 Der Fall ist zwar nicht ganz mit den zuvor geschilderten Konstellationen vergleichbar, da Hintergrund für die geltend gemachten Ansprüche nicht die Weitergabe von Informationen an die zuständigen Behörden war, sondern dass die Diagnose »Verdacht auf Kindesmisshandlung« unter Verstoß gegen die ärztliche Sorgfalt gestellt wurde. Gleichwohl können aus den Entscheidungsgründen Rückschlüsse gezogen werden, wann eine Anzeige gegenüber Polizei oder Jugendamt im Einzelfall nicht gerechtfertigt sein könnte. Im zugrundeliegenden Fall konnten die Verletzungen eines vierjährigen Kindes mit dem von den Eltern geschilderten Unfallgeschehen in Einklang gebracht werden. Es bestanden außerdem keine Hinweise auf weitere Verletzungen. Weder die von den Eltern konsultierte Kinderärztin noch die Ärzte des erstbehandelnden Krankenhauses äußerten den Verdacht einer möglichen Kindesmisshandlung. Dennoch fand eine erneute Untersuchung des Kindes in einem anderen Krankenhaus statt. Diese wurde durch eine Mitarbeiterin des zuständigen Jugendamtes veranlasst, die das Kind zufällig im Kindergarten gesehen hatte. Im Rahmen dieser zweiten Untersuchung wurde der Verdacht einer Kindesmisshandlung diagnostiziert, was zu einer Inobhutnahme und Unterbringung des Kindes in einem Kinderheim sowie einer gerichtlichen Einschränkung des Sorgerechts der Eltern führte.
Das Landgericht München I sprach den betroffenen Eltern Schadensersatz und Schmerzensgeld zu, weil die Diagnose »Verdacht auf Kindesmisshandlung« unter Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt worden sei. Die Verletzungen des Kindes hätten lebensnah und zwanglos mit der Unfalldarstellung der Eltern erklärt werden können. Derartige »Spielunfälle« seien geradezu typisch für Kinder. Hinzu kam, dass über die Unfallverletzungen hinausgehende Verletzungen unstreitig nicht gefunden werden konnten und auch aus dem Verhalten der Eltern kein Anhaltspunkt für eine Kindesmisshandlung abgeleitet werden konnte.
9.4 Bundeskinderschutzgesetz
Anhaltspunkte für den Umgang mit einem Verdacht auf Kindesmisshandlung ergeben sich auch aus dem am 01.01.2012 in Kraft getretenen Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen.140 Für Krankenhäuser sind insbesondere die Regelungen des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz von Interesse.141 Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 KKG sollen Ärzte oder Angehörige eines anderen Heilberufes, wenn ihnen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt werden, die Situation mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
Gemäß § 4 Abs. 2 KKG haben Ärzte oder Angehörige eines anderen Heilberufes zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren.
Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach § 4 Abs. 1 KKG aus oder ist ein Vorgehen nach § 4 Abs. 1 KKG erfolglos und halten die in § 4 Abs. 1 KKG genannten Ärzte oder Angehörige eines anderen Heilberufes142 ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die in § 4 Abs. 1 KKG genannten Ärzte oder Angehörige eines anderen Heilberufes befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen (§ 4 Abs. 3 KKG).
9.5 Mitteilungspflichten gegenüber den Krankenkassen
Bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden bestehen außerdem Mitteilungspflichten gegenüber den Krankenkassen. Gemäß § 294a Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen Ärzte und Krankenhäuser den Krankenkassen die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher mitteilen. Bei möglichen Kindesmisshandlungen wurde allerdings die Befürchtung geäußert, durch die Mitteilung und sich daran anschließende Schritte der Krankenkasse gegen den möglichen Verursacher könnten Konflikte im Umfeld der Betroffenen oder sonstige Wirkungen hervorgerufen werden, die den Behandlungserfolg gefährden könnten.143 Der Gesetzgeber hat daher 2013 für diesen Bereich eine Ausnahme geschaffen. Gemäß § 294a Abs. 1 Satz 2 SGB V besteht bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden, die Folge einer Misshandlung, eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen seien können, keine Mitteilungspflicht gegenüber den Krankenkassen.144 Diese Ausnahmeregelung betrifft aber explizit nur die in § 294a Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgesehenen Angaben gegenüber den Krankenkassen. Die in § 4 Abs. 3 KKG genannten Mitteilungsbefugnisse gegenüber dem Jugendamt bleiben hiervon unberührt.145
9.6 Rechtliche Grundlage für eine Einschaltung des Jugendamtes
Das Bundeskinderschutzgesetz bietet Ärzten mit