geschützt werden. Nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen geht der Schutz des Kindes vor weiteren Misshandlungen der ärztlichen Schweigepflicht vor. Eine Anzeige ist somit als angemessene Maßnahme zum Schutz des Kindes anzusehen.115 Bei der Frage der Angemessenheit der ergriffenen Maßnahmen zum Schutz des Kindes könnte allenfalls überlegt werden, ob es im Einzelfall möglich ist, als »milderes Mittel« anstatt der Polizei zunächst das Jugendamt zu informieren. Die Abwägung, ob das Jugendamt oder die Polizei informiert wird, ist im Einzelfall anhand des jeweiligen Gefährdungsgrades zu treffen (je akuter die Gefahr, desto mehr spricht für ein sofortiges Einschalten der Polizei). Das Jugendamt hat gemäß § 8a Abs. 3 SGB VIII116 seinerseits die Polizei einzuschalten, sofern deren sofortiges Tätigwerden zur Abwendung einer Gefährdung erforderlich ist.117
• Teilnahme am Straßenverkehr trotz Fahruntauglichkeit
Lässt sich ein Patient, der infolge seiner Behandlung oder Erkrankung (z. B. Sehschwäche) fahruntauglich ist, nicht vom Gebrauch seines Kraftfahrzeuges abhalten, kann der Arzt hierüber die Polizei oder die zuständige Straßenverkehrsbehörde informieren, um eine Gefahr von anderen Verkehrsteilnehmern abzuwenden.118 Nach Abwägung der widerstreitenden Interessen ist das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs höher zu bewerten als die Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht. Die Anzeige der Fahruntüchtigkeit bei der Polizei oder der Straßenverkehrsbehörde ist als angemessenes Mittel zum Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer anzusehen. Wichtig ist aber, dass dabei der Umfang der Information auf das unbedingt Notwendige beschränkt wird. Bei einer Meldung an die zuständige Straßenverkehrsbehörde reicht es beispielsweise, unter Bezeichnung der Diagnose mitzuteilen, dass Zweifel an der Kraftfahrtauglichkeit bestehen. Nicht erforderlich ist es hingegen, der Behörde den gesamten Entlassungsbericht zu übermitteln. Dadurch wird der Umfang der Offenbarungsbefugnis überschritten.119
• Drohende Ansteckung mit einer schweren Erkrankung
Die Offenbarung von Patientengeheimnissen kann auch bei einer drohenden Ansteckung von Angehörigen oder Kontaktpersonen mit einer übertragbaren schweren Krankheit des Patienten gerechtfertigt sein, wenn sich der Patient uneinsichtig zeigt und nicht selbst für die notwendige Aufklärung sorgt.120 Die drohende Ansteckungsgefahr kann durch eine Information der betroffenen Kontaktpersonen abgewendet werden. Nach Abwägung der widerstreitenden Interessen steht beispielsweise bei einer Aids-Erkrankung der Schutz der Gesundheit und des Lebens der Kontaktpersonen über der Beachtung der ärztlichen Schweigepflicht.121 Der Arzt muss jedoch vorher alles versucht haben, den erkrankten Patienten dazu zu bewegen, seine Angehörigen oder seinen (Ehe-) Partner selbst über seine Erkrankung aufzuklären.122
Neben den hier aufgezählten sind weitere Fallgestaltungen denkbar.
8 Verhalten bei Verdacht auf Straftaten
Die Frage, inwieweit eine Offenbarung von Patientendaten aufgrund von Notstandssituationen gerechtfertigt ist, stellt sich im Krankenhausalltag häufig im Zusammenhang mit der Frage, wie mit dem Verdacht auf Vorliegen einer Straftat umzugehen ist. Darf beispielsweise bei der Behandlung eines Vergewaltigungsopfers oder eines Patienten mit Stich- oder Schussverletzungen die Polizei informiert werden, damit diese wegen einer möglichen Straftat ermittelt?
8.1 Berechtigung zur Anzeige
Die Unterrichtung der zuständigen Behörden über den Verdacht des Vorliegens einer Straftat kann zur Preisgabe der durch § 203 StGB geschützten Geheimnisse des Patienten führen, wodurch sich der Arzt in einer solchen Situation strafbar machen würde. Das Problem der Strafbarkeit besteht jedoch – wie bereits dargestellt123 – nur, wenn der betreffende Arzt die Patientengeheimnisse unbefugt offenbart. So kann die Weitergabe von Patientendaten bei der Anzeige des Verdachts auf Vorliegen einer Straftat zum Schutz des Opfers vor weiteren Straftaten gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sein.124
Zu beachten ist jedoch, dass das Gesetz die Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht zunächst nur zur Verhinderung bevorstehender Straftaten erlaubt, während bei bereits begangenen Straftaten das reine Strafverfolgungsinteresse in der Regel nicht ausreicht, die Offenbarung von Patientengeheimnissen zu rechtfertigen.125 Will also beispielsweise das (erwachsene) Opfer einer Straftat (z. B. Vergewaltigung oder Misshandlung) keine Anzeige erstatten, so hat der Arzt dies zu akzeptieren. Er ist nicht dazu berechtigt, die Polizei gegen den Willen des Opfers zu informieren, damit diese wegen einer möglichen Straftat ermittelt. Der Wunsch des erwachsenen Patienten auf Geheimhaltung des Verdachts auf Vorliegen einer Straftat ist grundsätzlich zu respektieren (unabhängig davon, dass selbstverständlich jede mögliche Hilfestellung gegeben werden sollte, damit sich das Opfer für eine Anzeige der Straftat entscheidet).
Etwas anderes gilt aber, wenn die Gefahr besteht, dass es weiterhin zu erheblichen Straftaten kommen wird.126 So ist die Sachlage selbstverständlich anders einzuschätzen, wenn für das Opfer – ggf. sogar noch im Krankenhaus (etwa weil sich der Täter dort aufhält und mit weiteren Misshandlungen droht) – eine akute Gefahr besteht, erneut das Opfer einer Straftat zu werden. Bei einer solchen Sachlage ist aufgrund der Wiederholungsgefahr zum Schutz des Opfers und ggf. sogar zum Schutz der eigenen Krankenhausmitarbeiter aufgrund der Notstandssituation die Nichtbeachtung der ärztlichen Schweigepflicht gerechtfertigt.
8.2 Pflicht zur Anzeige
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Berechtigung des Arztes zur Anzeige des Verdachts auf Vorliegen einer Straftat diesen in Notstandssituationen auch gleichzeitig zur Anzeige verpflichtet. Vom Grundsatz her ist festzuhalten, dass der rechtfertigende Notstand gemäß § 34 StGB zunächst nur die Befugnis zur Offenbarung von Patientengeheimnissen beinhaltet und der Arzt nicht gleichzeitig in jedem Fall auch zur Offenbarung verpflichtet ist.127 Die im Rahmen des § 34 StGB vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen und die daraus resultierende Entscheidung, die ärztliche Schweigepflicht zu brechen, steht ausschließlich dem Arzt zu. Dementsprechend kann dem Arzt grundsätzlich nicht vorgeworfen werden, wenn er sich auf seine ärztliche Schweigepflicht beruft, obwohl er aufgrund einer Notstandssituation den Verdacht einer Straftat möglicherweise hätte anzeigen dürfen. Von dieser Regel gibt es jedoch folgende Ausnahmen:
8.2.1 Garantenstellung
Das Recht zur Offenbarung von Patientengeheimnissen kann beispielsweise dann in die Pflicht zur Offenbarung des Geheimnisses umschlagen, wenn den Arzt eine so genannte Garantenstellung trifft. Der juristische Begriff der Garantenstellung bedeutet im Wesentlichen, dass durch sie die Pflicht zur Abwendung einer Gefahr für einen Dritten besteht.128 Nach der Rechtsprechung entsteht im Verhältnis zwischen Arzt und Patient durch die tatsächliche Übernahme der Behandlung des Patienten eine Garantenstellung des Arztes gegenüber dem Patienten. Mit der Übernahme der Behandlung erwecke der Arzt beim Patienten in der Regel das Vertrauen, ihm unter Einsatz seiner ärztlichen Fähigkeiten beizustehen.129