und Sportvereine (VINTUS) beschränkte sich auf den Westen Deutschlands. Im Gegensatz zum national-jüdisch agierenden Makkabi gab sich VINTUS bewusst unpolitisch.7 Dies korrespondierte mit der allgemeinen Haltung der deutschen Juden zum Judentum. Um 1930 bekannte sich die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden zum assimilatorischen Centralverein, in dessen 555 Ortsgruppen und 21 Landesverbänden ca. 60.000 Einzelmitglieder organisiert waren. Zuzüglich der ihm angeschlossenen Vereine und Körperschaften, u.a. auch des RjF, konnte der Centralverein für sich die Vertretung von 300.000 Juden bzw. über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Deutschlands reklamieren. Die jüdisch-nationale Zionistische Vereinigung Deutschlands zählte dagegen nur 20.000 Mitglieder, was etwa 3,5% der jüdischen Bevölkerung entsprach. »Für die meisten Juden in Deutschland war die Identität, Deutscher und Jude zu sein, eine Selbstverständlichkeit. «8
Leider galt dies keineswegs für viele ihrer christlich-deutschen Mitbürger. »Ein auf Gegenseitigkeit beruhendes ›deutsch-jüdisches Gespräch‹ (…) hat in Wirklichkeit nicht stattgefunden. Jedenfalls ist es über seine ersten Ansätze nicht hinausgekommen. Gewiss, die Juden haben sich nach Kräften, oft sogar unter Preisgabe ihrer Individualität, um ein Gespräch mit den ›Deutschen‹ bemüht, in zahlreichen Bekenntnissen sich der Umwelt zu erklären versucht und auch diese auf die Fruchtbarkeit der Spannungen aufmerksam gemacht. Die Umwelt war aber nur in den seltensten Fällen bereit, die Juden überhaupt anzuhören, geschweige denn sie zu verstehen und zu achten. Auch da, wo man sich mit ihnen auf eine Auseinandersetzung im humanen Geist einließ, beruhte diese auf der ausgesprochenen oder stillschweigenden Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden. Jüdische Beteuerungen über die ›geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen‹ stießen in breiten Kreisen auf heftige Ablehnung.«9
Als Folge des Verstoßes der Juden aus den paritätischen Vereinen ab 1933 erfuhren die exklusiv jüdischen Klubs zunächst einen Aufschwung. 1936 waren 42.500 Juden Mitglied der jüdischen Verbände Makkabi oder Schild, was ca. 10% der jüdischen Gesamtbevölkerung Deutschlands entsprachen. Aber aus der Mitte der Gesellschaft wurden die jüdischen Funktionäre, Trainer, Fußballer und Mäzene ausgeschlossen. Nach der Reichspogromnacht wurden auch die jüdischen Sportvereine zerschlagen.
Wo Juden im Fußball Erfolge errangen, taten sie dies in der Regel in paritätischen Vereinen. Der berühmte Wiener SK Hakoah war hier eher eine Ausnahme. Viele der in diesem Buch vorgestellten Mäzene, Funktionäre, Trainer und Spieler waren zwar bei so genannten »Judenklubs« (Bayern München, Eintracht Frankfurt, Tennis Borussia Berlin, Austria Wien, MTK Budapest etc.) engagiert, doch von ihrem Anspruch und ihrer Zusammensetzung handelte es sich bei diesen um paritätische Vereine. Ein jüdischer Mäzen oder ein jüdischer Vereinsvorsitzender mag den einen oder anderen jüdischen Trainer oder Spieler angezogen haben. Bei Vereinen, die Juden in führenden Positionen besaßen und über ein »jüdisches Umfeld« verfügten, fühlte sich ein jüdischer Spieler sicherlich eher heimisch und sicher. Auch zog ein derartiger Verein häufig im überproportionalen Maße jüdische Fans an. Das alles reichte aus, um einen solchen Klub in den Augen seiner Gegner als »Judenklub« erscheinen zu lassen, selbst wenn die Zahl der Juden unter den Aktiven und Fans bei weniger als 10% lag.
Von Europa nach New York und ins gelobte Land
1939 lebten in Europa noch fast zehn Millionen Juden. Während des Krieges wurde mehr als die Hälfte von ihnen ermordet. Emigration und sinkende Geburtenrate verringerten die jüdische Bevölkerung bis 1994 auf weniger als zwei Millionen.
Die größte jüdische Gemeinschaft, die Hitlers Holocaust überlebte, befand sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit 1.971.000 Mio. in der UdSSR, die sich allerdings bis zur Jahrtausendwende durch Emigration erheblich reduzierte. In Westeuropa blieben nur die 370.000 Juden zählende Gemeinde Großbritanniens, die kleineren Gemeinden in den neutralen Staaten Irland, Schweden und Schweiz sowie die 8.500 Juden Dänemarks, denen der dänische Widerstand über die Grenze nach Schweden verhalf, vom Holocaust relativ unbeschadet. Hingegen wurden ca. drei Viertel der 140.000 niederländischen und zwei Drittel der 65.000 belgischen Juden ermordet. Von den 300.000 Juden Frankreichs wurden ca. 75.000 vernichtet. Von den 500.000 in Deutschland selbst lebenden Juden gelang ca. der Hälfte noch vor Kriegsausbruch und Einsetzen der Vernichtung die Emigration. In den von Hitler besetzten Gebieten Europas außerhalb der UdSSR überlebten insgesamt weniger als eine Million. Die größte Zahl jüdischer Opfer kam aus Polen und den westlichen Provinzen Russlands, seit Jahrhunderten Kernland des europäischen Judentums. Lebten 1937 noch 3.250.000 Juden in Polen, so wurden 1946 nur noch 215.000 gezählt.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sich der Schwerpunkt des jüdischen Fußballs aus Europa in die USA und hier insbesondere nach New York verlagert. Bereits im 19. Jahrhundert war die Zahl der Juden sprunghaft angestiegen, als mehr als eine Million Osteuropäer in der Stadt am Hudson River eintrafen. In den 1930er und 1940er Jahren erfuhr die jüdische Gemeinde ein erneutes Wachstum, bedingt durch den Nationalsozialismus. Unter den Flüchtlingen befanden sich u.a. die Diamantenhändler Antwerpens und Amsterdams sowie Intellektuelle und Künstler wie Isaac B. Singer, Hannah Arendt und Marc Chagall. New York avancierte zur jüdischen Metropole schlechthin, die heute mit ca. 1,3 Mio. Juden die weltweit stärkste Ansammlung von Juden in einer Stadt aufweist. (Mit ca. 6 Mio. Juden besitzen die USA heute die weltweit größte jüdische Gemeinde. In Europa liegen diesbezüglich Frankreich und Russland vorn, gefolgt von Großbritannien.)
Zu den Pionieren des Soccer in der »Neuen Welt« gehörten auch Juden wie Nathan Agar, ein Immigrant aus England und Besitzer der Brooklyn Wanderers, und der bereits erwähnte Gus Manning. 1926 und 1927 absolvierte Hakoah Wien ausgiebige US-Tourneen, von denen sich die amerikanischen Organisatoren eine Popularisierung des europäischen Soccer versprachen. Beim souveränen 4:0-Sieg der Wiener über eine Auswahl der American Soccer League (ASL) kamen 46.000 Zuschauer ins Stadion, für über 40 Jahre Zuschauerrekord für ein Soccer-Spiel in den USA. Soccer war in den USA primär eine »ethnische« Angelegenheit europäischer Einwanderergruppen, die ethnische Teams und ethnische Ligen gründeten. Zwischen 1926 und 1928 heuerten nicht weniger als 15 Hakoah- und Austria-Akteure bei den New Yorker Klubs New York Giants und Brooklyn Wanderers an.
Der zweite neue Schwerpunkt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von einem jungen Staat gebildet: Israel. Seit seiner Gründung 1948 bildete es den ideologischen Anziehungspunkt für viele Juden: »Eine Gesellschaft, die einzigartig ist, da sie über eine jüdische Mehrheit verfügt und zu dem spezifischen Zweck, das jüdische Überleben zu sichern, geschaffen wurde und nun aufrechterhalten wird.«10 Der Holocaust, das Scheitern der jüdischen Assimilationsbemühungen und das Versagen liberaler Demokratien beim Schutz vor Antisemitismus gab dem politischen Zionismus Auftrieb. 1970 war erstmals eine exklusiv jüdische Nationalelf beim Weltturnier vertreten.
In Europa erfuhr der »jüdische Fußball« hingegen durch den Holocaust und die erzwungene Emigration eine nachhaltige Schwächung. Die einst so ruhmreiche Fußballabteilung des SK Hakoah wurde in Österreich zwar 1945 wiedergegründet, spielte aber nur noch eine untergeordnete Rolle und löste sich 1950 sogar auf. In Wien gab es nur noch 5.000 Juden. Den Mannschaftssportarten fehlten deshalb eine ausreichende Zahl jüdischer Jugendlicher.
Auch die ehemaligen Donaufußballklubs MTK Budapest und Austria Wien waren nicht mehr so »jüdisch« wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg, was insbesondere für den FK Austria gilt. Nichtsdestotrotz firmieren MTK und Austria, aber auch Ajax Amsterdam und in London Tottenham Hotspur bei gegnerischen Fans unverändert als »Judenklubs«. Der Antisemitismus benötigt Juden nicht in größerer Zahl. So etablierte sich in einigen Fußballstadien ein Antisemitismus ohne Juden.
Im Fall von Ajax und Tottenham führte dies zur Konterkarierung des gegnerischen Antisemitismus durch einen militanten Pro-Semitismus bzw. sympathisch-skurrilen Akt von pro-jüdischer Solidarität, bei dem sich auch Tausende von Nicht-Juden zu Juden erklärten: »Obwohl die Affinität zwischen Tottenham und jüdischen Fans schon lange bestand, hatte das Phänomen