Fuchs und Hirsch (vorn, 3. und 2. von rechts) erzielten 1912 im Länderspiel gegen die Niederlande alle fünf Tore für Deutschland.
Erik Eggers/Jan Buschbom
Vergessene Wurzeln: Jüdischer Fußball in Berlin
Der Urahn, geistige Vater und Wegbereiter des Berliner Fußballs, so vermerken es jedenfalls die meisten Annalen, hieß Georg Leux. Jener Fußballpionier, der später auch als Bildhauer und Schauspieler bekannt wurde, gründete 1885 mit dem »BFC Frankfurt« den ersten Berliner Fußballverein und hob drei Jahre später die Germania 1888, den heute ältesten noch existierenden Fußballverein Deutschlands, aus der Taufe. Doch gründete Leux eben nur den ersten »deutschen« Fußballverein. Zuvor schon kickten Mitglieder des vom Engländer Tom Dutton gegründeten »Berliner Cricket-Club von 1883« auf dem Tempelhofer Feld, unter ihnen viele (deutsche) Schüler des Friedrich-Wilhelm- und Askanischen Gymnasiums, die an gleicher Stelle den Barlauf, Schlagball und andere heute vergessene Turnspiele betrieben.1 Damals beteiligten sich schon zwei Brüder, die von der offiziellen Fußballgeschichtsschreibung fortan zumeist nur deswegen nicht auf eine Stufe mit Leux gestellt wurden, weil sie in England geboren und Juden waren: die Gebrüder Manning.
Es ist insbesondere der detailversessenen Spurensuche des Bonner Anglisten und Sporthistorikers Heiner Gillmeister zu verdanken, dass die wahrlich verschlungenen Biografien dieser Fußballpioniere, die den frühen deutschen und Berliner Fußball maßgeblich prägten, inzwischen aufgehellt sind.2 Geboren wurden die Brüder Manning 1871 bzw. 1873 im Londoner Stadtteil Lewisham, wohin ihr Vater Gustav Wolfgang Mannheimer, ein ursprünglich aus Frankfurt stammender Kaufmann, übergesiedelt war. Anfang der 1880er Jahre verkaufte der Vater schließlich seine Firma und zog nach Berlin, behielt indes wie die ganze Familie den anglisierten Namen Manning. Sofort schlossen sich Vater und Söhne jenem Berliner Cricket-Club an, um das zu tun, was sie in England in ihrer Freizeit auch getan hatten: Cricket und Fußball spielen. Vor allem der ältere Friderich, der sich seit dem Londoner Aufenthalt Fred nannte und in Berlin stolz seinen exaltierten englischen Habitus weiterpflegte, avancierte seiner Spielstärke wegen bald zu einem Vorbild für alle deutschen Anfänger. Er spielte unter anderem um 1890 beim besten Berliner Klub jener Zeit, beim noblen English FC, und war außerdem Mitglied der Auswahlmannschaft des »Deutschen Fußball- und Cricket-Bundes« (DFuCB), die 1892 gegen (aus Engländern bestehende) Teams aus Leipzig und Dresden verlor. Zudem war Fred 1890 und 1891 beteiligt an den ersten (und vorerst gescheiterten) Versuchen in Berlin, den Fußball in Dachverbänden zu organisieren. 1893 kehrte er für zwei Jahre nach London zurück und arbeitete dort unter anderem als Korrespondent des anspruchsvollen Sportjournals »Sport im Bild«, das sein Freund Andrew Pitcairn-Knowles in Berlin herausgab. Zurück in Berlin, gründete er 1896 eine Firma für Sportstättenbau und gab zwischen 1904 und 1916 das Golf- und Tennis-Journal »Der Lawn-Tennis-Sport« heraus. Während des Ersten Weltkrieges wurde er wie alle Engländer Berlins im Gefangenenlager Ruhleben interniert, danach ging er zurück nach England und verdiente dort als Kaufmann sein Geld. Mit Sport indes hatte Fred Manning danach nie wieder etwas zu tun; zuletzt, zwischen 1950 und 1958, arbeitete er als Fischhändler in der Küstenstadt Portsmouth. 1960 starb er im Alter von 90 Jahren.
Ungleich bedeutender für den deutschen und internationalen Fußballsport war indessen sein Bruder Gustav Rudolf, der sich nach dem Englandaufenthalt Gus Randolph nannte. Auch er spielte in diversen Vereinen Berlins Fußballs, unter anderem seit 1893 beim VfB Pankow. Dort freundete er sich sofort mit seinem Vereinskameraden Franz John an, der im Februar 1900 einen Klub namens FC Bayern München gründen sollte. Nach seinem Abitur studierte Gus zunächst drei Semester Medizin an der Humboldt-Universität, beendete sein Studium jedoch in Freiburg/Breisgau, wo er im Dezember 1897 den Freiburger FC aus der Taufe hob. Seit 1898 als Assistent an der Universität Straßburg tätig, war der Doktor, da er die einflussreichen süddeutschen Vereine vertrat, die alles entscheidende Figur bei der Konstituierungsdebatte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) 1900 in Leipzig.3 Den formalen Antrag zur DFB-Gründung stellte übrigens sein Bruder Fred, als Delegierter des VfB Pankow.
Gus Manning trieb den Ausbau der notwendigen Strukturen innerhalb des DFB energisch voran, indem er, immer das englische Modell zum Vorbild nehmend, unter anderem die ersten DFB-Statuten ausarbeitete. 1905 emigrierte er aus beruflichen Gründen in die Vereinigten Staaten und wurde dort 1913 Gründungsvorsitzender des amerikanischen Fußballverbandes. Als 1950 beim FIFA-Kongress in Rio de Janeiro die Wiederaufnahme des DFB in den Weltverband verhandelt wurde, gehörte Gus Manning, der mittlerweile als Vertreter der USA in der FIFA-Exekutive saß, zu den stärksten Befürwortern des schließlich angenommenen Antrags. Ohne Manning, hat Gillmeister diesen Vorgang einmal süffisant kommentiert, wäre Deutschland 1954 also womöglich nicht Weltmeister geworden.4 Manning selbst hat diesen ersten deutschen WM-Triumph nicht mehr erleben dürfen, denn am 1. Dezember 1953 starb er in seinem Wohnort New York, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag.
Pionier in Berlin: Gustav R. Manning
Auch von weiteren zumeist jungen Pionieren im Berliner Fußballsport ist bekannt, dass sie Juden waren. Walter Bensemann etwa, der an anderer Stelle dieses Buches ausführlich gewürdigt wird, war 1898 aktiv für den Klub Britannia und organisierte von Berlin aus die beiden berühmten internationalen Begegnungen in Paris und außerdem die so genannten »Ur-Länderspiele«. Zu diesem Kreis gehört auch der deutschstämmige John Bloch, der in Birmingham aufgewachsen war und wie die Manning-Brüder beim »Berliner Cricket-Club 1883« spielte. Bloch wurde im Januar 1891 gar zum ersten Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Fußballspieler gewählt, zog aber nach offenbar schweren, leider nicht en detail nachvollziehbaren Auseinandersetzungen mit seinem deutschnationalen Konkurrenten Georg Leux zurück. Dieser wollte das Fußballspiel unbedingt so deutsch wie möglich gestalten; er gab dem Spiel deutsche Regeln, wählte deutsche Spielausdrücke und achtete vor allem darauf, dass in der Leitung des Bundes nur Deutsche saßen. Bloch indes stand schon kurze Zeit später dem Konkurrenzverband Deutscher Fußball- und Cricket-Bund (DFuCB) vor, in dem beinahe alle englischen respektive anglophilen Fußballer vertreten waren. Auch wenn sich beide Verbände bald wieder auflösten, so gelten diese Dachorganisationen dennoch als wichtige Vorläufer des DFB. Die Figur Bloch ist außerdem interessant, da er wie Fred Manning zu den ersten, an Ideen wahrlich nicht armen deutschen Sportpublizisten gehörte. Bereits 1891 gab er die Zeitschrift »Spiel und Sport« heraus, die zum wichtigsten Forum im noch jungen Berliner Fußball avancierte, vor allem aber ein unverzichtbares Kommunikationsinstrument bedeutete. Zudem zählten diese frühen sportjournalistischen Blätter zu den ersten Versuchen in Deutschland, mit Sport auch Geld zu verdienen. Die meisten Projekte indes endeten mit großen finanziellen Verlusten.
»Kolonisatoren des Fortschritts«
Es war keineswegs Zufall, dass junge Juden wie die Mannings, Bloch oder Bensemann in Berlin sich ausgerechnet dem Fußballspiel widmeten – und es wäre keineswegs überraschend, wenn sich noch bei weiteren Pionieren eine jüdische Konfession herausstellen würde. Am Ende des 19. Jahrhunderts nämlich wohnten überproportional viele deutsche Juden in der Reichshauptstadt, die sich bald als Wiege des deutschen Fußballsports erweisen sollte. Vor allem zwei Faktoren befeuerten in dieser Pionierzeit das damals ausschließlich großstädtische Phänomen Fußball. Zum einen die Immatrikulation englischer Studenten an deutschen Hochschulen, die sich um eine geeignete Freizeitgestaltung bemühten und angewiesen waren auf deutsche Mitspieler. Und zum anderen verbreitete der rege deutsch-englische Austausch in vielen kaufmännischen und technischen Bereichen allmählich dieses neue Spiel.5 Bald stießen zahlreiche ältere, gut gebildete Schüler zu den neuen Fußballvereinigungen, und darunter eben viele Juden. Schließlich stellte diese (zugegeben äußerst heterogene) Gruppe um die Jahrhundertwende in Berlin ein Viertel der Gymnasiasten und