Jan-A. Bühner

Jesus und die himmlische Welt


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und in einem diachron-teleologischen Entwicklungsdenken sich bewege.22 Mit der kultgeschichtlichen Betrachtung ist aber nach Bertram durch den ihr vorgegebenen Gegenstand eine ‚Übernatürliches‘ einschließende Geschichtskonzeption gefordert, da rational-immanenter Historismus den ständigen Bezug zum Himmlischen nicht aufnehmen könne.23 Bertram scheint diese Verbindung von Eschatologie und Mystik und damit das Zusammenfallen von Aspekten, die normaler historischer Betrachtung auseinanderfallen, letztlich hermeneutisch im lebensphilosophischen Sinne zu verstehen: Es sei in dieser Verbindung enthalten ein Hinweis der Urgemeinde, ja Jesu selbst, auf die Unergründlichkeit und das Geheimnis des eigentlichen Lebensprozesses.24 Da wir auf Bertrams kultgeschichtliche Jesusdeutung unten nochmals eingehen werden, halten wir als Eigenart der Bertram’schen Betrachtung fest seinen Hinweis auf die phänomenologisch konstatierbare Eigenart, dass kultische Reflexion der Gemeinde in ihrem transzendenten, mystischen Zug die Immanenz, die diachrone Teleologie und die rationale Verkettung der Ereignisse aufbreche.25 Diesen Zusammenhang von Eschatologie und Mystik im Kultus bestimmt Bertram nicht eigentlich religionsgeschichtlich. Er will die Gegenüberstellungen in der ‚normalen‘ Forschung (Bousset, Heitmüller, Bultmann) durch einen der inneren Gesetzmäßigkeit kultischen Denkens abgelauschten Begriff höherer Einheitlichkeit überwinden. Dabei begreift er den urchristlichen Kult nicht als religionsgeschichtlich abgrenzbares Phänomen, sondern als Grund und Ausdruck der psychologischen Einstellung der Gläubigen.

      Einen Ansatz zur Überwindung des Gegensatzes von eschatologischer und kultischer Frömmigkeit hat nicht zuletzt J. Weiss aufgewiesen. Schon in der 2. Aufl. von „Jesu Predigt vom Reiche Gottes“ nennt er neben der Eschatologie stehende religiöse Grundmotive, die für die Gegenwart Erfüllung vom Himmel her bedeuten.26 In seiner 1913 veröffentlichten Untersuchung zum Problem der Entstehung des Christentums deutet Weiss auf die Religion der Synagoge hin, welche in Gebeten und Schriftlesungen den Glauben an Gottes gnädige Nähe zum Ausdruck bringe und eine, in gewisser Weise, sogar mit Heil gefüllte Gegenwart für den Frommen erschließe. „Aber, wie gesagt, schon lange vor der Entstehung des Christentums hat dieser eschatologischen Stimmung eine Gegenwartsfrömmigkeit entgegengewirkt, die streng genommen zu ihr in Widerspruch steht. Denn wer schon im gegenwärtigen Leben die Hilfe und Gnade Gottes erfährt und auf sie vertrauen gelernt hat, der hat damit den metaphysischen Dualismus und die Spannung auf die Zukunft im Grunde überwunden.“27 Weiss leitet diese Beobachtung, die ihm dann auch für das Verständnis der Urgemeinde und Jesu wichtig wird, aus der Synagogenfrömmigkeit ab. Er weist damit auf einen wesentlich anderen kultgeschichtlichen Hintergrund für die Verbindung von Eschatologie und Mystik hin: Hinter der Synagoge wird die Frömmigkeit der Tempelgemeinde sichtbar.

      Die kultgeschichtliche Betrachtung als ein Fundament der Formgeschichte hat offenbar in ihrer ersten Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die innere Dynamik entwickelt, den Gegensatz von Eschatologie und Mystik zu entschärfen und für die Urgemeinde und Jesus sogar als in nuce aufgehoben zu postulieren. Der eschatologische ‚Ausbruch‘ bei den ‚Konsequenten‘, den J. Weiss und A. Schweitzer selbst mit der urchristlichen Kultmystik in Einklang zu bringen suchten, hat im Wesentlichen über Bultmann die folgenden Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung in Deutschland bestimmt. Dieser von Bousset und Bultmann gegen den Hauptteil der kultgeschichtlichen und formgeschichtlichen Betrachtung des NT durchgehaltene Gegensatz von Eschatologie und Kultmystik hatte auf seiner Seite die angeblich rein hellenistische Basis des urchristlichen Kult- und Sakramentsverständnisses und die Logik des älteren Baur-Harnack’schen Geschichtsverständnisses der dialektischen Entwicklung. Es bleibt aber festzuhalten, dass die genannte kult- und formgeschichtliche Forschung zu einem theologisch, christologisch und historisch wesentlich einheitlicheren Bild des NT tendierte, welches im Urchristentum von Anfang an ‚Mystik‘ als Umgang mit dem Himmlischen neben die eschatologische Erwartung stellte und beide in einem sich gegenseitig verstärkenden und durchdringenden Verhältnis sah.

      Diese Tendenz zur Überwindung des angeblichen Gegensatzes von Kultus und Eschatologie konnte aber solange nicht zu dem gewünschten Ziel kommen, als es nicht möglich war, für die kultischen Elemente des Urchristentums eine religionsgeschichtliche Basis zu finden, die nicht von vornherein mit dem Problem des ‚doppelten Ansatzes‘ belastet war.

      In dieser Situation bedeutete es einen großen Fortschritt, die eigene kultische Tradition des palästinischen Judentums und damit auch des palästinischen Urchristentums wahrzunehmen, den Tempelkult Jerusalems. Auch der jüdische Kult enthält eine ausgesprochen räumliche, himmlische Dimension, die das Leben des Kultteilnehmers mit dem im Tempel anwesenden Herrn zu verbinden verspricht.

      In dieser Geschlossenheit wohl als erster untersuchte J. Jeremias die mit der Kreuzigungsstätte verbundenen und aus der Jerusalemer Tempeltheologie stammenden und teilweise bereits in der Jesustradition wirksamen Kultsymbole.28 Jeremias wies auf die Tradition, wonach Adam, der Urmensch, vom Tempel aus erschaffen, in ihm auch beerdigt sei und man nunmehr seinen Schädel unter dem Kreuz Jesu begraben denke.29 Der Kultort bilde in der Tempeltheologie die Mitte der Erde, zugleich ihren höchsten Punkt, der in den Himmel hineinrage, ja zugleich Eingang in das Erdinnere sei: Golgatha als Nachfolgegröße des Zentralheiligtums übernimmt nach Jeremias diese kosmischen Kennzeichen.30 Auf Golgatha übertragen werde auch die jüdische Tradition, wonach am Brandopferaltar des Tempels die ‚Opferung Isaaks‘ stattgefunden habe, an dem Ort, wo zuvor der Hohepriester Melchisedek amtete.31 Am heiligen Felsen als der kosmischen Mitte liege danach der Ausgangspunkt der kosmischen und geschichtlichen Entwicklung. Er ist der Punkt, von dem her die creatio continua sich vollziehe und auf den hin die Geschichte ihren eschatologischen Zielpunkt nehme.32 Es sei klar, dass von diesem einzigartig qualifizierten Ort her Offenbarung geschehe, ja, dass Aufsteigen auf den Stufen des Altars am heiligen Felsen Aufstieg in den Himmel bedeute. Dieser kosmische Punkt sei zugleich himmlischer und irdischer Ort.33 Insonderheit die Opferung im Tempel sei Offenbarungszeit.34 Beim Felsen beginne die Wohnung der Himmlischen, beginne der Thron Gottes, unter dem das Paradies liege.35 Als Offenbarungsort und Stätte der kosmischen Erhaltung sei der heilige Fels der Möglichkeit und Gefahr magischer Einwirkung ausgesetzt, war doch auf ihm der heilige Gottesname eingeschrieben.36 Nach Jeremias darf betont werden, dass dies in gewissem Sinne statische Weltbild des durch den heiligen Felsen festgemachten Kosmos, an dem Himmel und Erde sich berühren und die Gemeinde mit den Himmlischen zum Gottesdienst zusammenkommt, gerade auch die Dimension der Geschichte aufnimmt, nämlich Protologie und Eschatologie, sowie die auf beide bezogene Offenbarung einer Neuschöpfung, vermittelt.37

      Jeremias sieht in Lk 20,17f. Anklänge an diese Tempelsymbolik: Jesus sei der Schlussstein im himmlischen Heiligtum;38 nach Joh 7,37-40 sei Jesus Spender des kultischen Lebenswassers, das mit dem Heiligen Geist segnet. Das Laubhüttenfest mit seinem kosmisch-magischen Wassersegen habe sich in Christus gleichsam zum himmlischen Urbild und zur eschatologischen Vollendung erhoben.39 Schließlich sei nach Mt 16,16-18 Petrus zum unzerstörbaren Felsen der neuen, ganz im Einklang mit der himmlischen Gemeinde stehenden ἐκκλησία bestimmt, deren Halacha zugleich die der Himmlischen sei.40 Jeremias deutet so bestimmte Züge der Jesustradition als himmlische und eschatologische Vollendung der Kultsymbolik des Jerusalemer Heiligtums. Das Verdienst dieser Arbeit besteht nicht so sehr im christologischen Teil, sondern im Aufweis der Wirksamkeit der Kultsymbolik des Judentums, ja der Wirksamkeit eines gefestigten, kultischen Weltbildes und damit der im Judentum liegenden Möglichkeiten einer kultischen und, in gewisser Weise, ‚mystischen‘, ‚ekstatischen‘, ‚magischen‘ Erschließung des himmlischen Hintergrundes, ja der Möglichkeit einer intensiven religiösen Qualifizierung der Gegenwart.

      Für die religionsgeschichtliche Neubestimmung der kultischen und ‚mystischen‘ Phänomene des Urchristentums weniger bedeutsam, jedoch wegen ihrer Geschlossenheit hier zu nennen, ist die 1932 erschienene Arbeit von H. Wenschkewitz über die Spiritualisierung der Kultbegriffe.41 Wenschkewitz geht von einem weiteren Kultbegriff der gesamten spätantiken Welt aus, für den das 'da ut des' Grundlage des Opferverständnisses sei.42 Hier liege ein Gegensatz zum ethischen Gottesbegriff, man denke grundsätzlich an eine Wirksamkeit ex opere operato.43 Im Judentum stünde dieses Opferverständnis im Gegensatz zum sittlich-religiösen Pathos der klassischen Propheten.44 Mystik könne wohl aus dem Kult herauswachsen, aber durch ihre spiritualisierende, freiere und direktere Gottesbeziehung nähme sie eine gebrochene Stellung zum Kultus.45 Mystik verinnerliche Religion: Der Gott der Mystik wohne nicht mehr im Tempel, sondern