Jan-A. Bühner

Jesus und die himmlische Welt


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in dieser von Gese beschriebenen kultischen βασιλεία-Verkündigung und -Erfahrung ein raum-zeitliches Konzept von Eschatologie entsteht: Sie ist himmlische Größe, deren kultische Vermittlung zugleich auf die eschatologische Totenauferstehung verweist.

      Da nach Gese Jesus das Abendmahl als Erfahrungsrahmen und Vermittlung der Realität seiner Auferstehung gestiftet hat, wird von diesem kultgeschichtlichen Ansatz her ein Zugang zum Zentrum der Jesustradition sichtbar. Die βασιλεία-Verkündigung Jesu bildet gleichsam die Konstante in der Traditionsgeschichte; Jesus selbst rezipiert die kultisch-apokalyptische βασιλεία-Theologie der Psalmen und gibt sie seiner Gemeinde in der eschatologisch realisierten Form einer Feier seines Todes und seiner Auferstehung weiter.

      In seiner auf akademische Vorträge in Schweden zurückgehenden Untersuchung ‚Kultus und Evangelium‘ legt E. Lohmeyer 1942 eine Programmschrift vor, die konsequent auf die Bedeutung der Kulttheologie des 2. Tempels für das Verständnis der Jesustradition hinweist.75 Lohmeyer geht aus von einem damals in Deutschland nicht häufig anzutreffenden, in der nordischen Schule entwickelten, positiven Kultusbegriff. Kultus gründe auf Offenbarung Gottes76, er sei Gnadeninstitution77, durch die sich Gott binde, eine Ordnung der Entsühnung und Neuschaffung78; wie Jeremias weist Lohmeyer dem Kultus eine Kosmos und Geschichte ordnende Funktion zu. In ihm laufen Protologie und Eschatologie zusammen;79 der Kultus als Tat Gottes am Menschen eröffne eine Spannung zur Lebenserfahrung des Einzelnen und zur Geschichtserfahrung Israels und treibe so die Geschichte in die Perspektive der eschatologischen Verwirklichung einer Befreiung von Sünde, Tod und Teufel.80 Lohmeyer stößt zu der forschungsgeschichtlich bemerkenswerten These vor, dass aus dem Kultus die Apokalyptik erwachse.81 Der Kult als Gnadenordnung und Zentrum der Geschichtsvermittlung stehe über dem Gesetz, welches ihm nur zudiene.82 Das „Spätjudentum“ sei nicht so sehr Religion des Gesetzes als vielmehr Religion des Kultes.83 Der Kultus erschließe Israel eine gegenwärtige, lebendige Beziehung zum Vater im Himmel,84 ja gewähre Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde.85

      Lohmeyer bringt zum Ausdruck, dass kultische Heiligkeit und sittliche Vollkommenheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern im Kultus immer auf einander bezogen sind. Es bleibe darin aber eine Spannung, in der der Kultus auf die eschatologische Neuschöpfung weise.86 Die ältere prophetische Kultkritik habe auch nicht auf sich selbst gestanden, sondern komme aus der eschatologischen Perspektive, in der der Kultus selbst seine Vollendung schaue.87 Z. Zt. des Neuen Testaments seien alle religiösen Bewegungen aus dem Kult selbst kommende Beerbungs- und Umsetzungsversuche.88 Lohmeyer macht vor diesem Hintergrund Ernst mit der alten exegetischen Beobachtung, dass die Aussage von Gottes Königtum eine kultische Tradition sei: Der Reich-Gottes-Begriff in Jesu Verkündigung ziele auf das himmlische Haus Gottes.89 Die christlichen Sakramente seien eschatologische ‚Aufhebungen‘ der Opfer, insofern sie eschatologisch wirksam von den zuvor kultisch angegangenen Negativ-Größen Sünde, Tod und Teufel befreiten.90 Lohmeyer kommt vor diesem Hintergrund zu einem stark hochpriesterliche Züge tragenden Jesusbild,91 wie wir unten entfalten werden.

      Hier bleibt festzuhalten, dass Lohmeyer eine Programmschrift vorgelegt hat, die er leider selbst nicht mehr hat ausgestalten können. Er weist den Weg für eine konsequente kultgeschichtliche Betrachtung des NT – ja bereits der Jesustradition – vor dem Hintergrund der Kulttheologie des Alten Testaments und des Judentums. Lohmeyers These vom Kultus als Grundlage für die Ausbildung spezifischer Traditionen hat durch die spätere Entdeckung der Qumran-Texte eine grundsätzliche Bestätigung erfahren.

      Noch vor der beginnenden Auswertung der Qumrantexte kam G. von Rad in einer Untersuchung zu ‚Gerechtigkeit und Leben in den Psalmen‘92 im Anschluss an Mowinckels kultgeschichtlicher Betrachtung der Psalmen93 zur Erhebung einer bestimmten Kultspiritualität. Der Kultus in Israel sei eingespannt in ein vertikal ausgerichtetes Weltbild, welches von dem der grundsätzlich geschichtlich denkenden Propheten letztlich unaufhebbar verschieden sei.94 ‚Leben‘ und ‚Tod‘ treten danach im kultisch erschlossenen Dasein als gegensätzliche Mächte auf, so dass gleichsam Scheol und Himmel im Griff nach dem Menschen sich gegenüberstehen.95 Der Kultus spreche in diesem Welt- und Daseinsgefüge Leben zu und dränge Scheol-Kräfte zurück. Teilhabe am Kultus bedeute deshalb, in der Sphäre himmlischen Lebens zu stehen. Zum Kultus gehört also eine von ihm erschlossene Lebensmystik, insofern der Fromme sein Leben unter dem Blick auf die himmlische Herrlichkeit zu führen vermag.96 Gelte dies nur potentiell von jedem Kultteilnehmer,97 so jedenfalls in gesteigertem Maße von dem, der ständig im Bereich des Tempels und seiner Symbolik zu Hause sei: „Die Kenntnis der Form kultischer Rede, das Umgehen mit sakralen Überlieferungen, ihre Bearbeitung und ständige Neugestaltung – das war Sache eines Berufes, einer bestimmten Vollmacht, ja auch eines Handwerks …“98 Die Lebendigkeit des Kultus, so könnte man sagen, hängt davon ab, dass bestimmte Kreise des Kultpersonals die Kulttheologie, die Ausdrucks- und Erlebnisformen des Kultus ständig neu interpretieren und verdichten. Daraus entsteht eine Spiritualisierung, die aus dem Kultbetrieb selbst erwächst. Der Kultus ist damit nach v. Rad grundsätzlich aus sich selbst und um seines zentralen Anliegens willen, die gnädige Gegenwart Gottes und seiner Heilsgüter erfahrbar zu machen, reformierbar, erneuerungsfähig. V. Rad denkt insonderheit an die Leviten, die, vom täglichen Dienstbetrieb des Opfers etwas entfernt, aus ihrer alten Priestertradition um die vertieften Dimensionen der Kultsymbolik wissen.99 Sie kennen das Geheimnis der Gottesschau im Kultus, sie wissen, dass die kultisch gewährte Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinausreicht; die Hoffnung auf ein Entrücktwerden im Tod gehöre deshalb zur Kultanthropologie dieser levitischen Spiritualen.100

      Der Einfluss der Kulttheologie mit der in ihr ermöglichten räumlich und präsentisch-eschatologisch ausgerichteten Frömmigkeit auf Bereiche des nachbiblischen Judentums wurde unübersehbar mit der Entdeckung der Qumran-Texte. Schon das 19. Jahrhundert entnahm den Darstellungen bei Josephus und Philo, dass es sich bei den Essenern um priesterliche Kreise handeln müsse.101 1955 folgerte L. Rost aus der im AT feststellbaren Gruppenbildung, dass die Gemeinschaft der am Tempel diensttuenden Priester dem inneren Kreis der Qumrangemeinde am ehesten entspreche.102 Den Einfluss der älteren Kulttheologie und ihre Übertragung auf den יחד von Qumran hat dann neben anderen J. Maier untersucht103: Die Qumrangemeinschaft, der יחד, ist der neue Tempel; der kultische Vollzug in vollkommener ritueller Reinheit ermögliche Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde der Engel und eine starke Betonung der Gegenwart eschatologischen Heils in der Gemeinde.104 Religionsgeschichtlich sieht Maier eine Verbindung von kultisch-räumlich-vertikalem Denken mit dem eschatologischen Geschichtsbild prophetischer Tradition und der eschatologischen Bußbewegung der Makkabäerzeit.105 Allerdings führe die Verbindung zu einer Dominanz des räumlich-kosmologischen Denkens, einer Dominanz, die zur Gnosis hinführen könne, wie in der späteren Merkaba-Mystik des Judentums stärker sichtbar würde.106

      Dem kultgeschichtlichen Thema ‚Enderwartung und gegenwärtiges Heil‘ widmete H.-W. Kuhn 1966 eine Monographie.107 Kuhn geht aus von der kultischen Gebundenheit vor allem der Gemeindelieder und der in ihnen präsentisch verstandenen Heilsaussagen: ‚Auferstehung‘, ‚Neuschöpfung‘, ‚Engelgemeinschaft‘, ‚Himmelsaufstieg‘.108 Mit Becker109 konstatiert Kuhn den Einfluss der Kultspiritualisierung in der ‚Mystik‘ bestimmter Psalmen.110 Vermutlich gehöre ein Teil der levitischen Tempelsängerschaft zu den Gründern des יחד.111

      In folgendem Zitat kommt die Grundfrage zum Ausdruck, mit der Kuhn auf diesem Hintergrund zu tun hat: „Dass man in den atl. Psalmen noch keine direkte Parallele für den Satz, dass der Fromme schon in den Himmel versetzt ist, findet, liegt daran, dass erst in der Apokalyptik der Himmel in die Spekulationen und Wünsche der Frommen stärker einbezogen wird.“112 In der Anm. zu diesem Satz verweist Kuhn auf Ps 73,24f., wo שמים und ארץ für die Zeit nach dem Tod des Frommen, aber auch für die Gegenwart, so auf einander bezogen werden, dass der Bereich des Himmlischen das Irdische in sich aufnimmt.113 Kuhn hält trotz dieser vorsichtigen Einschränkungen durchgängig und grundlegend an einer Trennung von kultisch-räumlich-präsentischen und apokalyptisch-zukünftig-geschichtlichen Traditionen fest.114 Es handle sich bei ‚Kultus‘ und ‚Apokalyptik‘ um zwei Grundpfeiler der theologischen Struktur in der Gemeindefrömmigkeit Qumrans, die nebeneinander und in Spannung zueinander stünden. Für die Apokalyptik sei die Gegenwart heilsleer, insofern sie das Heil ausschließlich aus der Zukunft erwarte; für die Kultfrömmigkeit sei andererseits