Jan-A. Bühner

Jesus und die himmlische Welt


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und die irdische Zeitlinie überholenden Ausdrucksformen verbunden. Noch deutlicher bezog K.L. Schmidt die Jesus-Tradition ein in die kultgeschichtliche Betrachtung der Evangelien in seinem Aufsatz von 1923 über die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte.22

      Schmidt bezeichnet die Evangelien als Kultlegenden; sie partizipierten an den für diese Gattung wesentlichen Kennzeichen: Die Geschichte des Kultheros sei hier zum Übergeschichtlichen hin verdichtet. Diese Verdichtung bemächtige sich aber nicht sekundär einer davorliegenden, schlichteren und ‚irdischeren‘ Überlieferungsstufe, ja vor dem Kultheros liege nirgends die an sich, historistisch, positivistisch greifbare irdische Person, sondern schon im Schülerkreis um den irdischen Lehrer herum werde dieser zur mystisch geschauten, legendarischen Gestalt.

      Schmidt sieht die nächsten Analogien zum Jesusbild der Evangelien im sehr viel späteren jüdischen Chasidismus, wo sich die Chasidim um den Zaddiq scharen und in diesem Gemeindekreis die Geschichtlichkeit erfahren, die in der Überlieferung sich in der vom Heros berichtenden Kultlegende ausdrückt.

      „Die chassidische Legende ist geradezu gesättigt mit kultischem und auch mythischem Gehalt. In ihm liegt ihre eigentümliche Kraft, wie auch beim Urchristentum die Frage nach seiner Kraft die wesentliche ist. Der Zaddik, der aus der Menge der Chassidim herausragt, ist der besondere Liebling des Himmels; durch ihn schenkt Gott der Welt seine Gnadengaben. Ihn zu lieben und zu hören ist die Pflicht jedes Chassid. Der Zaddik ist also der Mittler zwischen Gott und den Menschen.“23

      Alles kommt an auf die Verbindung zwischen Zaddik und Gemeinde, wie sie sich kundtut im gemeinsamen Beten. Und wenn auch der Zaddik in einem abgesonderten Raum betet, kann er doch mit seiner Gemeinde verbunden sein. Solche Verbindung geht über die einzelnen Örtlichkeiten hinaus: Es schließt sich ein Ring. In einer jüdischen Schilderung24 heißt es: ‚An Sabbaten und Feiertagen nehmen die Chassidim die ‚heilige Mahlzeit‘ am Tische des Zaddik ein. Während des Essens herrscht Schweigen. Zuweilen ‚sagt‘ der Zaddik ‚Tora‘; d. h. er erklärt Bibelstellen, die dem Tage entsprechen. Der Zaddik kostet wenig von jedem Gange. Die ‚Scherajim‘ (Reste) werden unter die Gäste verteilt. Den Tisch des Zaddik nennen die Chassidim ‚Altar Gottes‘, das Mahl ‚Opfer Gottes‘. Indem der Zaddik von den Speisen genießt, ist er der Hohepriester, der Gott das Opfer darbringt. Nach dem Mahle versammeln sich die Chassidim und verweilen in Gesprächen über ihren Zaddik. Sie wägen jedes Wort, deuten jeden Wink, jeden Augenaufschlag, den sie bemerkten, und suchen den ganzen geheimnisvollen Inhalt ihrer Beobachtungen zu ergründen. Während dieser Aussprache sitzen alle dicht beieinander; einer spricht, die andern lauschen. Jeder Unterschied zwischen Groß und Klein, Arm und Reich ist ausgelöscht. Das gesprochene Wort ist dabei von Seiten des Zaddik gar nicht das Wesentliche; dieser achtet gar nicht auf die schöne, die absichtsvolle Menschenrede. Vielmehr wird im chassidischen Schrifttum immer wieder verlangt, man solle ‚von allen Gliedern des Zaddiks lernen.‘ Man achte auf den Eindruck, den der Zaddik auf seinen Kreis macht. Er ist eine kultische Persönlichkeit schon zu seinen Lebzeiten.25

      Schmidt verwies dazu auf R. Otto, der vom „numionse(n) Eindruck Jesu auf seine Schüler“26 und davon sprach, Jesus sei entsprechend analogen Phänomenen der religiösen Gruppenbildung „… ein Heros bei Lebzeit …“27 gewesen. Schmidt fasst zusammen: „Wie der Zaddik seiner Gemeinde, seinen Jüngern, so ist auch Jesus zu seinen Lebzeiten, aber auch als der Erhöhte, der pneumatische, das πνεῦμα seiner Gemeinde, seinen Jüngern gegenwärtig gewesen.“28

      Konsequenterweise spricht Schmidt von Jesus als dem Kultstifter des Urchristentums.29 Diese bestechende These, die die dem Kultus eigene Mittlerschaft zum Himmel auf den irdischen Jesus zurückführen will, hat in der Forschung kaum Anklang gefunden: Sie ist zu strukturalistisch und zu sehr allgemein religionsphänomenologisch gehalten – um den romantischen Beigeschmack nicht zu betonen – und arbeitet weder religions- noch traditionsgeschichtlich. Der Sprung von der formgeschichtlichen Gattungsbestimmung ‚Kultlegende‘ in das dafür vorausgesetzte Milieu der Tradenten bleibt ein Postulat, das durch die Analogisierung mit dem Chasidismus des 18. Jahrhunderts keine ausreichende Basis erhält.

      Dennoch enthält Schmidts Arbeit Hinweise, wie religions- und traditionsgeschichtlich weitergearbeitet werden könnte: Die kultischen Denkformen mit ihren mythischen, über die innerweltliche Geschichte hinausweisenden himmlischen Komponenten sind ja offenbar noch im späten Chasidismus in Analogie zum kultischen Ritual des Jerusalemer Tempels verstanden worden. Dies führt zur Frage nach einer möglichen traditionsgeschichtlichen Rückbindung der chasidischen Kultrezeption an die frühjüdische Zeit. Die Qumran-Texte haben grundsätzlich auf das Recht dieser Fragestellung hingewiesen: Die Ideologie des Kultes ist schon in vor-neutestamentlicher Zeit umgesetzt worden in eine nicht mehr am Tempel hängende, pneumatische Gemeindelehre.

      Damit entsteht die den Ansatz von Schmidt traditionsgeschichtlich tragende Frage, ob Jesu Eschatologie und seine Beziehung zum Himmel in eine Tradition der Rezeption und Umsetzung des schöpfungsordnenden Anspruchs des Jerusalemer Kultes gehören.

      In Fortsetzung seiner Untersuchung zum traditionsgeschichtlichen Zusammenhang neutestamentlicher und frühkirchlicher Kultmotive mit der Tempelideologie des Judentums hat J. Jeremias in seinem Beitrag ‚Jesus als Weltvollender‘, 1930, diese kultgeschichtlichen Zusammenhänge auf die Frage nach den theologischen Leitmotiven Jesu zugespitzt.30 Jeremias kontrastiert, ganz im Sinne der ‚Kultgeschichtler‘, den abendländischen Rationalismus und seinen auf Entwicklung bedachten Geschichtsbegriff mit dem zyklischen des Alten Orients und der Bibel: Geschichte beruhe auf dem Wissen um eine Schöpfungsordnung und den zyklischen Versuchen, durch kultische Vermittlung zu ihr zurückzukommen.31 Jesu Auftreten stehe so unter dem Anspruch, die eschatologische Rückkehr zum Urstand der reinen, himmlisch-irdisch verbundenen, einen Schöpfung einzuleiten.32

      Jeremias orientiert sich zunächst am Rahmengerüst des triplex munus, wobei er eine Steigerung mit Kulmination im königlichen Amt sieht.33 Auffällig und interessant ist freilich, dass Jeremias den Anspruch Jesu auf Weltvollendung stark als quasi hochpriesterliches Wirken zeichnet. Er nehme die vielfältigen, kultisch tradierten Kosmos-Symbole auf; er beziehe sein Auftreten auf das Bild vom Mantel des Hohenpriesters mitsamt seiner kosmischen Symbolik,34 er sei Baumeister des himmlisch-eschatologischen Heiligtums;35 er beziehe auf sich die Kultmotive, die kosmische Ernährung und Versorgung anzeigen;36 er dränge, stärker als dies je der Tempel konnte, Sünde, Tod und Teufel zurück;37 ja sein Vollmachtsanspruch münde in seinem jenseits allen Davidismus liegenden Menschensohn-Amt. Als dieser sei er Herr der himmlischen, eschatologischen Kultordnung.38

      Der Anspruch auf Weltvollendung, die Jesus einleitet, äußert sich nach Jeremias also in einer Übernahme orientalischer und jüdischer Kultsymbolik. Der königliche, auf die ganze Schöpfung zielende Herrschaftsanspruch Jesu ziehe deshalb eine hochpriesterliche Vollmacht auf sich, weil er die kultisch verwaltete und erschlossene Schöpfungsordnung, am Tempel Jerusalems vorbei, in den eschatologischen Urzustand der gereinigten Einheit von Himmel und Erde bringen wolle.

      Jeremias verzichtet auf ein Auszeichnen kultgeschichtlicher Zusammenhänge, sondern verbleibt stärker auf der motivgeschichtlichen Ebene. Zusammenhänge bestehen vor allem mit dem unten zu referierenden Buch Lohmeyers über ‚Kultus und Evangelium‘. Die bei Jeremias und Lohmeyer – durch eine Betonung der gemeinsamen, Jesus und Urgemeinde, Bibel und Alten Orient verbindenden Motive – mögliche Betrachtung auch der Jesus-Tradition im einheitlich – kultgeschichtlichen Sinne hat in der weiteren Forschungsgeschichte dennoch immer wieder dem mit der Kultgeschichte in ihrer hellenistischen Anfangsphase verbundenen Ausweichen auf einen doppelten Ansatz Platz machen müssen. Von diesem Trend sind auch spätere Arbeiten geprägt, die die Kultfrömmigkeit der Qumran-Gemeinde in Hinsicht auf das Neue Testament untersuchen.

      Beckers forschungsgeschichtlich bedeutsame Arbeit zur Soteriologie der Qumrantexte39 nennt als religionsgeschichtlich mit dem NT und der Jesus-Tradition vergleichbare Struktur das hebräische Sphärendenken, in dem sich Gottesherrschaft und Satansherrschaft gegenüberstünden und aus dem heraus es dem qumranitischen Kultdenken möglich sei, zu einer Qualifizierung der Gegenwart unter dem himmlischen und eschatologischen Aspekt der Gottesherrschaft zu kommen. Diese religionsgeschichtlich in den Grundzügen wohl unumstrittenen Strukturen versucht Becker auch beim irdischen Jesus als wirksam zu erweisen. Er nimmt also, wenn