Herbert Lackner

Rückkehr in die fremde Heimat


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der Aufstieg des Faschismus irritiert? Hatten sie erkannt, welche Gefahr drohte? Sahen sie die von Michael Köhlmeier zitierten „vielen kleinen Schritte, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung“ und die dann doch zum „großen Bösen“ führten?

      Im September 2019 habe ich versucht, diese Fragen in meinem Buch „Als die Nacht sich senkte. Europas Dichter und Denker am Vorabend von Faschismus und der NS-Barbarei“ zu beantworten. Es ist die Vorgeschichte der im ersten Buch beschriebenen Flucht. Sie begleitet die oben Genannten, aber auch Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Albert Einstein, Bertolt Brecht und andere durch die zwei dramatischen Jahrzehnte zwischen dem Ende der Monarchie und dem Finis Austriae im Jahr 1938.

      Diese Arbeit ist nun der letzte Teil meiner Flucht-Trilogie. Es geht darin um die Rückkehr der Flüchtlinge in ein Land, in dem man sie beraubt hat, aus dem sie vertrieben wurden, in dem man ihre Lieben ermordet hat.

      Wie wird man sie empfangen? Haben Krieg und Shoah jene bekehrt, die lachend dabeigestanden sind, als Juden die Gehsteige schrubben mussten? Jene, die am Heldenplatz oder im Spalier ihrem „Führer“ zujubelten und nichts dabei fanden, sich ein wenig in den Wohnungen der vertriebenen Nachbarn „umzusehen“?

      Wie denken die Menschen im vom Nationalsozialismus befreiten Österreich?

      Mich hat der oft zitierte Satz „Wir haben unsere Geschichte nicht aufgearbeitet“ in seiner Unschärfe immer etwas ratlos zurückgelassen. Wie lief dieses Nicht-Aufarbeiten ab? Wer deckte zu, wer schaute weg? Wer forderte immer ganz schnell ein Ende der Debatte? Welche in die Gehirne gepflanzten NS-Irrlehren haben überdauert?

      Den Antworten auf solche Fragen versuche ich mich in diesem Buch zu nähern. Noch vor wenigen Jahren wäre eine Erzählung dieser Art nicht möglich gewesen. Seither wurden bis dahin nur schwer zugängliche Archive geöffnet und digitalisiert, etwa jene der Österreichischen Nationalbibliothek, der Wien Bibliothek, der Akademie der Wissenschaften und anderer Institutionen, denen dafür nicht genug gedankt werden kann.

      Wie in den beiden anderen Büchern habe ich auf das Setzen von ermüdenden Fußnoten verzichtet, Originalzitate kursiv gesetzt und die Quelle im Text angegeben. Sie sind jederzeit dokumentierbar.

      Dieses Buch ist eine Reise durch Nachkriegsösterreich – durch ein uns heute fremdes, aber in manchen Teilen doch erschreckend vertrautes Land.

      Herbert Lackner

       Los Angeles 1945

      DAS „FLÜCHTLINGSCAMP“ VON HOLLYWOOD

       Alma Mahler-Werfel trauert Mussolini nach – Thomas Mann glaubt, Adolf Hitler sei noch am Leben – Friedrich Torberg bespitzelt im Auftrag des FBI Bertolt Brecht

      „Ein alter, armer, kranker Mensch, geächtet auf der ganzen Welt“, schreibt Alma Mahler-Werfel am Abend des 29. April 1945 mitfühlend in ihr Tagebuch. Die Gattin des Erfolgsautors Franz Werfel hat in Beverly Hills eben von der Erschießung Benito Mussolinis durch italienische Partisanen erfahren.

      Neun Jahre zuvor waren Alma und Franz Werfel an der Seite von Österreichs Ständestaat-Kanzler Kurt Schuschnigg in Mussolinis Limousine durch die Toskana getourt. Damals, 1936 – wie fern das doch alles war! – hatte Schuschnigg mit dem italienischen Faschistenführer auf dessen Landgut in Rocca delle Caminate nahe Viareggio verhandelt. Nach den politischen Gesprächen hatte man die Schönheit der Toskana genossen und das Haus des wenige Jahre zuvor verstorbenen Komponisten Giacomo Puccini besucht, den Alma als Frau des damaligen Wiener Operndirektors Gustav Mahler natürlich persönlich gekannt hatte.

      Es war eine schöne Zeit und alle profitierten: Der Bundeskanzler schmückte sich mit dem berühmten Autor, die Werfels ließen sich im Gegenzug von den Mächtigen verwöhnen. Franz Werfel schrieb 1936 in der „Wiener Sonntagszeitung“ sogar einen öligen Jubel-Essay über Schuschnigg: „Die österreichische Menschlichkeit, die er, der geistige, empfindsame, unbeirrbare Mann in so hohem Maße selbst verkörpert – sie muß zum Heile Europas bewahrt werden.“

      Menschlichkeit? Zwei Jahre zuvor, im Februar 1934, hatte sich Schuschnigg als Justizminister geweigert, dem Bundespräsidenten Gnadengesuche von sozialdemokratischen Schutzbündlern vorzulegen und ließ acht Todesurteile sofort vollstrecken. Nach dem Erscheinen von Werfels Artikel in der „Wiener Sonntagszeitung“ wetterte die im Brünner Exil erscheinende „Arbeiter Zeitung“: „Eine unerhörte Literatenlumperei. Die Werfels fressen aus der Krippe und lecken die Handdie Verkörperung der menschlichen Dreckseele.“

      Jetzt, knapp vor Kriegsende, sitzt Alma Mahler-Werfel, 66, in einer eindrucksvollen Villa in Kalifornien, bedauert Mussolini und sorgt sich um ihren Mann: Franz Werfel, elf Jahre jünger als sie, ist schwer herzkrank. Er hatte schon Herzprobleme, als sie sieben Jahren zuvor vor den Nazis aus Wien flüchten mussten. Nach einer Irrfahrt durch Frankreich waren sie damals mit einem Fluchthelfer über die Pyrenäen geklettert, hatten in einem Flüchtlingsheer Spanien und Portugal durchquert, um schließlich im Oktober 1940 auf einem der letzten Dampfer aus Lissabon Richtung New York auszulaufen. Die „New York Times“ widmete der Ankunft des europäischen Starautors Franz Werfel fast die gesamte Titelseite.

      Nach einigen Wochen in einem Nobelhotel in Manhattan waren die Werfels damals nach Los Angeles weitergereist, wo sie ein ebenso stilvolles wie geräumiges Haus in Beverly Hills bezogen.

      Sie konnten sich diesen Luxus leisten. Werfels Romane warfen beträchtliche Tantiemen ab. Besonders erfolgreich war jener über den Völkermord an den Armeniern „Die 40 Tage des Musa Dagh“, erschienen 1933 und in viele Sprachen übersetzt.

      Schon wenige Monate nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten war ein neuer Roman Werfels erschienen, der auf recht kuriose Weise entstanden war: Auf der Flucht durch das von Nazi-Deutschland besetzte Frankreich war das Paar auch durch Lourdes, den berühmten Wallfahrtsort nahe der spanischen Grenze, gekommen, wo 1858 dem Hirtenmädchen Bernadette Soubirous die heilige Maria erschienen sein soll. In panischer Angst vor der Gestapo – Werfel stand auf deren Fahndungsliste ganz oben – gelobte der Autor, einen Roman über diese Bernadette zu verfassen, sollte er den Häschern entkommen.

      Schon während der Atlantik-Überquerung begann Werfel in seiner Kabine an der Lourdes-Geschichte zu arbeiten. Alma sah es mit Wohlwollen: Waren auch zwei ihrer drei Ehemänner Juden – Gustav Mahler und Franz Werfel –, war sie doch eine entschlossene christliche Antisemitin, die sich nichts sehnlicher wünschte als den Übertritt ihres Gatten zum katholischen Glauben.

      „Das Lied der Bernadette“ erschien 1941 im Verlag Bermann-Fischer in Stockholm und wurde sofort ein Erfolg. In der Bestsellerliste der „New York Times“ rangierte Werfels Roman wochenlang auf Platz eins. 1943 wurde er mit einem Staraufgebot in Hollywood verfilmt („The Song of Bernadette“). Das laut Filmkritik „episch breit angelegte historisch-religiöse Drama“ erntete vier Oscars.

      Den Werfels geht es also in ihrer neuen Heimat anders als vielen vor den Nazis geflohenen Künstlern und Autoren blendend. Wie in ihrer Wiener Villa auf der Hohen Warte ist auch ihr schmuckes Haus am North Bedford Drive in Beverly Hills Treffpunkt literarischer und musikalischer Größen: Die von den Nationalsozialisten aus Europa vertriebenen Komponisten Arnold Schönberg, Erich Wolfgang Korngold und Igor Strawinsky kommen in Almas Salon, Benjamin Britten bringt auch seinen Lebensgefährten mit. Der aus Wien geflüchtete Stardirigent Bruno Walter und die Regisseure Max Reinhardt und Fritz Kortner sind ebenso ständige Gäste wie die Autoren Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque und Friedrich Torberg. Torberg ist Franz Werfels engster Freund.

      Anders als praktisch alle hier – Gastgeberin Alma natürlich ausgenommen – ist Erich Maria Remarque nicht aus „rassischen“ Gründen emigriert, sondern weil ihn sein 1930 erschienener Antikriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ in Nazi-Deutschland zur Unperson gemacht hat.

      „Üppiges Mahl, kalifornischer moussierender Burgunder, Benediktiner zum Kaffee“, schreibt Thomas Mann im Oktober 1942 nach einem Abend bei Alma in sein Tagebuch. Thomas Mann, Nobelpreisträger von 1929 und Prinzeps der deutschen Literatur,