Mundfunk.
Auf Ellis Island im Hafen von New York wurde Karl Farkas sofort interniert: Er hatte ja kein Affidavit, also keine Garantieerklärung von amerikanischen Gastgebern, die sich bereit erklärten, im Notfall für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Die US-Grenzbehörden drohten, ihn mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa zu schicken. Bereits in die USA geflohene Freunde, eilig zusammengetrommelt vom Autor Alexander Roda-Roda – er war auf demselben Schiff wie Farkas nach New York gekommen –, erlegten 5000 Dollar Kaution (nach heutiger Kaufkraft etwa 85.000 Euro) und bekamen ihn frei.
Farkas machte sofort wieder, was er an seinen früheren Fluchtorten gemacht hatte: Er spielte in kleinen Cafés und Theatern Kabarett, um auf eigenen Beinen stehen zu können.
Ein Jahr nach seiner Ankunft in den USA bekam er eine kleine Rolle in einem Emigrantentheater: In „Die letzten Tage der Menschheit“ gab Karl Farkas einen Reporter. Dann trat er im „Zigeunerbaron“ auf und als „Frosch“ in der „Fledermaus“.
Es lief gut für den Flüchtling Farkas, es gab ja Publikum. In Yorkville rund um Manhattans 86. Straße war ein deutschsprachiger Stadtteil gewachsen. Hier lebten Zuwanderer aus Deutschland und Österreich, die bald nach der Jahrhundertwende gekommen waren. Vor den Nazis geflohene Neuankömmlinge fanden das Stadtviertel als Ersatzheimat und siedelten sich ebenfalls hier an.
Der aus Wien vertriebene Komponist Emmerich Kálmán schrieb 1944 in New York eine Operette mit dem Titel „Marinka“, in der es um Kronprinz Rudolf und dessen Ende in Mayerling ging. Karl Farkas arbeitete am Libretto mit. Das Stück lief 32 Wochen lang am berühmten „Winter Garden“-Theater am Broadway.
Und nun, Ende April 1945, also der Auftritt in der Carnegie Hall.
Farkas ist einer der wenigen, die es in den USA geschafft haben, aber er leidet, weil er seit fünf Jahren keinen Kontakt mit seiner Familie hat. In Paris hatten Anny und Karl Farkas 1940 vor der Trennung einen damals beliebten Schlager von Tino Rossi ins Herz geschlossen: „J’attendrai“ („Ich werde warten“):
„J‘attendrai
Le jour et la nuit
J‘attendrai, toujours
Ton retour.“
Sie hatten zwei Platten gekauft und jeder der beiden spielte die seine in diesen fünf Jahren der Trennung wohl Hunderte Male.
Ende August 1945 erreicht Karl endlich der erste Brief seiner Frau. Sie erzählt ihm von den harten Kriegsjahren im südböhmischen Dorf und von Sohn Bobby, der jetzt 17 ist: „Er ist größer geworden, größer als Du. Er ist ein Kind, lieblich und gut gewachsen. Er ist mehr aktiv geworden, aber das ist für ihn und seine Umgebung nicht günstig. Manchmal lacht er grundlos. Er spricht, aber meist nur Dummheiten. Und immer dieselbe Sache.“
Beide Schwestern Karls wurden ermordet, schreibt Anny. Aus der Familie Farkas hat nur eine nach London geflüchtete Nichte den Terror der Nazis überlebt. Die letzte Zeile des Briefs lautet: „Deine Anny, die sehr müde ist.“
Karl Farkas will nicht zurück nach Wien, in die Stadt, aus der man seine Familie und seine Freunde in Vernichtungslager verschleppt hat, um sie dort umzubringen, nicht in dieses Trümmerfeld. Er will, dass Anny und Bobby nach New York kommen, hier hat er Erfolg, hier werden sie gut leben.
Aber der Plan zerschlägt sich rasch. Bobby hat mit seiner Behinderung auch nach dem Krieg keine Chance, die strengen Gesundheits-Checks auf Ellis Island im Hafen von New York zu bestehen. Und in einem Heim wollen die Eltern ihren Sohn nicht zurücklassen. Karl Farkas entschließt sich schweren Herzens zur Rückkehr nach Wien. An Anny schreibt er: „Ich weiß, es ist eine Dummheit New York gegen Wien einzutauschen, ich weiß, daß ich nie mehr im Leben solche Angebote und soviel Geld haben werde.“ Und noch etwas anderes quält ihn: „Glaubst Du, daß ich in Wien arbeiten könnte? Wie ist die Einstellung gegenüber den Juden und den Flüchtlingen?“
Die Frage kommt nicht von ungefähr. Karl Farkas weiß, dass die Nazi-Presse eine üble und absurde Kampagne gegen ihn und andere bekannte Emigranten geführt hat.
Gleich nach seiner Flucht hatte die Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ geschrieben: „Im Stadttheater konnte man vom Schnürboden aus die widerlichsten Szenen beobachten, zu denen Farkas Girls und arme Schauspielschülerinnen zwang. Wer sich seinen Wünschen entgegenstellte, flog unweigerlich aus dem Vertrag.“ 1941 „jiddelte“ das Nazi-Blatt sogar, um Farkas zu diskreditieren: „Die Neuyorker können stolz darauf sein, was ihnen ihr jüdischer Präsident Roosevelt für einen jüdischen Misthaufen mitten in Neuyork aufgeschichtet hat: Hermann Leopoldi, die Comedian Harmonists und – endlach ist er bei saine Lait – der ‚geistvolle‘ Karl Farkas, das jüdische Brechmittel.“ Immer wieder erinnert der „Völkische Beobachter“ an „die widerliche Grimasse Karl Farkas“.
Farkas will nun also durchaus zu Recht wissen, wie die Einstellung der Österreicher zu Juden und zu ihm selbst ist. Annys Antwort ist nicht ermutigend: „Du fragst mich, ob Du noch ein Publikum hättest? Ich glaube, daß sich alles sehr verändert hat. Die Dichter und Denker wurden getötet oder vertrieben. Und die anderen? Ich glaube nicht mehr an das goldene Wienerherz. Sie waren so böse und ich habe Angst, daß sich ihre Meinung nicht geändert hat.“
Karl Farkas hat in New York mit einem anderen, in Friedenszeiten noch berühmteren Österreicher eng zusammengearbeitet, mit dem Komponisten und Dirigenten Robert Stolz.
Stolz, ein gebürtiger Grazer, ist bei Kriegsende 65. In Deutschland und Österreich war er vor seiner dramatischen Flucht ein großer Star. An jeder Straßenecke wurden seine Schlager gesungen: „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“, „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ und natürlich „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“. Stolz schrieb das Lied 1916, als er mit den „Deutschmeistern“ im Biergarten „Schweizerhaus“ im Wiener Prater aufspielte.
Als Hitler 1933 die Macht in Deutschland übernahm, arbeitete Robert Stolz gerade in Berlin an der Musik zu Tonfilmen, eine aufregende Neuerung, die ihn fesselte. Er war kein Jude, hatte nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Das NS-Regime hätte sich gern mit ihm, dem beliebten Komponisten und Dirigenten, geschmückt. Aber Robert Stolz verachtete die Nazis und ihre Führer.
In den folgenden Jahren brachte er immer wieder jüdische Freunde aus Deutschland über die Grenze nach Österreich. Stolz versteckte sie unter den Rücksitzen seiner Gräf & Stift-Limousine. Seinen Chauffeur ließ er zur Tarnung ein Hakenkreuz-Fähnchen am Kotflügel aufstecken.
Die Grenzposten kontrollierten den Promi nicht, sie salutierten.
Im März 1938 floh Robert Stolz wie viele seiner Freunde von Wien nach Paris. Nach Kriegsbeginn im September 1939 wurde auch er interniert – in einem Fußballstadion nahe der Hauptstadt.
Der Komponist, er war jetzt 59, hatte kurz zuvor eine ebenfalls aus Wien geflohene polnische Jüdin namens Yvonne Louise Ulrich kennengelernt. Sie war 24 und betreute Emigranten. Joseph Roth brachte sie Rotwein, der ebenfalls von ihr umsorgte Operettenkomponist Paul Abraham nannte sie „Einzi“, die Einzige, die sich um die Flüchtlinge aus Wien kümmert.
Robert Stolz wurde von Einzi das Leben gerettet. Durch ihre guten Beziehungen gelang es ihr, den an einer Lungenentzündung Erkrankten im November 1939 aus dem Stadion freizubekommen. Die Rettungsaktion mündete in eine Lebensliebe. Im März 1940 verließen Robert Stolz und Einzi auf einem von Genua auslaufenden Transatlantik-Schiff Europa.
In den USA konnte der Komponist bald an seine frühere Karriere anknüpfen: Zweimal war seine Filmmusik für den Oscar nominiert, seine Stücke wurden zuerst in New York und Boston und dann auch in anderen großen Städten der USA aufgeführt.
Die Meldung, dass Adolf Hitler tot ist und Nazi-Deutschland die bedingungslose Kapitulation unterschrieben hat, platzt am 8. Mai 1945 in ein von Robert Stolz dirigiertes Operettenkonzert im Chicagoer Grant Park. Die fast 60.000 Zuschauer erheben sich und singen „God Bless America“. „Es war, als seien wir alle soeben von einem besonders abscheulichen Alptraum