er sein angenehmes Leben in New York mit einem sicher weniger komfortablen im zerstörten Wien tauschen wolle, erzählt Stolz, er wolle einfach „noch einmal die Minoritenkirche im Schnee“ sehen. Und er singt ihnen seinen Schlager „The Woods of Vienna are Calling“ vor, den ins Englische übertragenen Gassenhauer „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1975 schreibt Robert Stolz in seinen Lebenserinnerungen: „Ich war überzeugt, daß meine Musik einen kleinen Beitrag zur Wiedergenesung Österreichs und Deutschlands nach dem Nationalsozialismus würde leisten können.“
Aber selbst er, der große Star der Zwischenkriegszeit, kann nicht sicher sein, in der alten Heimat freundlich empfangen zu werden. Die Nazi-Presse hatte hemmungslos gegen ihn gehetzt: „Der ‚arische‘ Stolz-Hahn auf dem jüdischen Misthaufen“, hatte das NS-Organ „Völkischer Beobachter“ einen Artikel über ein Stolz-Konzert für österreichische Flüchtlinge in New York getitelt: „Das Charakterschwein Robert Stolz mit seinem ungewaschenen Rüssel spielt jetzt den Emigranten auf.“
Als Robert und Einzi Stolz 1940 nach New York kamen, waren sie zu zweit. Jetzt, bei Kriegsende, sind sie eine dreiköpfige Familie: Einzis siebenjährige Tochter Clarissa aus erster Ehe ist nach einer dramatischen Irrfahrt dazugekommen.
Einzi hatte vor der Flucht mit ihrem Ehemann, einem deutlich älteren Bankier, in der Wiener Löwelstraße gelebt. Unmittelbar nach der Ankunft an ihrem Fluchtort London hatte sie im März 1938 eine Tochter geboren. Sie gab ihr den Namen Clarissa. Aber die Geburt des Mädchens konnte die Ehe nicht mehr kitten. Einzi zog zu ihrem Bruder nach Paris, Clarissa blieb vorerst beim Vater in London.
Im September 1940 – da waren Robert Stolz und seine Retterin Einzi schon in New York – sollte Clarissa zur Mutter in die USA geschickt werden. Clarissas Vater arbeitete für den britischen Geheimdienst und konnte Plätze für die Zweijährige und ihre Nanny auf dem Passagierdampfer „City of Benares“ ergattern. Das Schiff lief in Liverpool aus und steuerte das kanadische Quebec an. An Bord waren 406 Personen, darunter 90 Kinder, die wegen der Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe auf englische Städte in Sicherheit gebracht werden sollten.
Am vierten Tag der Atlantiküberquerung, die „City of Benares“ befand sich gerade südwestlich von Island, wurde das Schiff bei schwerem Wellengang von einem deutschen U-Boot torpediert. Wegen der raschen Schräglage des Passagierdampfers konnte nur ein Teil der Rettungsboote zu Wasser gelassen werden. 248 Passagiere ertranken, also mehr als die Hälfte. Nur 6 der 90 Kinder überlebten. Clarissa und ihre Nanny schafften es in eines der Rettungsboote, die in diesem entlegenen Gebiet des eisigen Nordatlantik bei hohem Seegang zum Teil erst acht Tage nach dem Untergang der „City of Benares“ von der britischen Navy gefunden wurden.
Einige Monate später wurde Clarissa mit einem Flugzeug in die USA gebracht, wo sie im Mai 1945 als Siebenjährige das Kriegsende mit ihrer Mutter Einzi und ihrem bisher kinderlosen und daher besonders entzückten Stiefvater Robert Stolz erlebt.
Aber Einzi weiß noch nicht, dass ihre Mutter und ihre Schwestern in Treblinka ermordet wurden.
Neben Karl Farkas und Robert Stolz ist auch ein dritter großer Unterhaltungskünstler aus Wien bei Ende des Kriegs in New York: Hermann Leopoldi.
Wie die Schlager von Robert Stolz waren auch jene von Leopoldi vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten überaus beliebt: „In einem kleinen Café in Hernals“, „Schön is so a Ringlspiel“, „Schnucki, ach Schnucki, fahr ma nach Kentucky, in der Bar Old Shatterhand spielt a Indianerband“ – da konnte jeder mitsingen. Armin Berg, Hans Moser, Karl Valentin und viele andere traten in Leopoldis Lokal in der Wiener Rothgasse auf.
In der Nacht zum 12. März 1938 versuchten Leopoldi und seine Frau Eugenie mit demselben Zug wie Fritz Grünbaum Österreich Richtung Tschechoslowakei zu verlassen. Aber die Grenzen waren gesperrt. Die Leopoldis fuhren zurück in ihre Wohnung in der Marxergasse. Ende April 1938 kam die Gestapo. Hermann Leopoldi wurde in ein provisorisches Gefängnis in einer Schule in der Karajangasse gebracht, wo zu dieser Zeit auch ein Student namens Bruno Kreisky einsaß. Dann deportierte die Gestapo den 50-Jährigen ins Konzentrationslager Dachau und im September 1938 ins KZ Buchenwald.
Leopoldis Frau Eugenie durfte nach New York ausreisen, ihre Eltern lebten dort bereits seit einigen Jahren und betrieben ein Geschirrgeschäft. Im Februar 1939 gelang es Hermann Leopoldis Schwiegereltern, ihn aus Buchenwald freizukaufen. Das funktionierte damals noch, weil die Nazis froh waren, beim Volk besonders beliebte jüdische Häftlinge unauffällig loszuwerden. Außerdem brauchten sie Geld.
In New York trat Leopoldi in „Eberhardt’s Café Grinzing“ auf. Dort lernte er die um 26 Jahre jüngere Helly Möslein kennen, die schon 1930 mit ihren Eltern in die USA ausgewandert war. Bald traten die beiden nicht nur als Gesangsduo auf, sie wurden ein Paar.
Wie Robert Stolz amerikanisierte auch Leopoldi sein Repertoire: Aus „I bin a stiller Zecher“ wurde „I am a quiet Drinker“ und aus dem kleinen Café in Hernals „A Little Café Down the Street“.
Seinem Publikum im deutschsprachigen Stadtteil Yorkville um Manhattans 86. Straße bot er auch eine Art Lebenshilfe. In seinem Lied „Da wär’s halt gut, wenn man Englisch könnt’“ formulierte er seine und ihre Probleme: „Die Sprache, die ich früher sprach, die konnt’ ich fließend sprechen,/doch Englisch language, Schreck lass nach,/ da hab ich halt noch Schwächen.“
In der New Yorker Emigrantenszene hatte er einen besonderen Status. Einzi Stolz erinnerte sich später: „Leopoldi war für uns alle irgendwie ein Wesen von einem anderen Stern, hatte er doch das Grauen der KZ-Lager von Buchenwald überstanden.“
Hermann Leopoldi und Helly Möslein könnten in den USA durchaus ihr Glück machen. Aber Leopoldi hat Heimweh. A little Café down the Street kann ihm die Wiener Beisln nicht ersetzen.
Wie seine Freunde Karl Farkas und Robert Stolz wird er zu den ersten gehören, die es ins zerstörte Österreich zieht. Aber es dauert noch eine Weile, bevor sie diese Heimreise ins Ungewisse antreten können.
Los Angeles Mai bis Dezember 1945
„NEIN, ES IST KEIN GROSSES VOLK“
Thomas Mann rechnet mit den geschlagenen Deutschen ab, Alfred Polgar glaubt nicht an deren Schuldeinsicht – Franz Werfel stirbt – Und dann explodiert die erste Atombombe
Am 8. Mai 1945, dem Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs, schreibt Bertolt Brecht in sein „Arbeitsjournal“: „Früh um sechs Uhr im Radio hält der Präsident eine Ansprache. Zuhörend betrachte ich den blühenden kalifornischen Garten.“
Brecht ist zunächst fassungslos, dass es gelang, dieses bestialische Regime niederzuringen, das fast ganz Europa und sogar Teile Afrikas erobert hatte.
Der in Los Angeles zunehmend depressive Feuilletonist Alfred Polgar macht sich in diesem Mai 1945 Gedanken über die Resozialisierbarkeit seiner Landsleute, die anfeuernd dabeigestanden waren, als man die Juden in Wien die Gehsteige schrubben ließ. Er hat wenig Illusionen: „Um einen Übeltäter zu bessern, muss man ihm vor allem einmal zum Bewusstsein verhelfen, daß, was er getan hat, übel war. Bei den Nazis wird man aber auf Schwierigkeiten stoßen: Vergebliches Bemühen, ihnen einleuchten zu wollen, daß es hässlich ist, wehrlosen Nebenmenschen die Nieren aus dem Leib zu treten; sinnlos, ihnen bekannt zu geben, daß ihr Brauch, Juden zu zehntausenden in Gaskammern zu sperren und sie hernach, tot oder halbtot, zu Dungmittel für die heilige deutsche Erde zu verkochen, bei sehr vielen Leuten, sogar Antisemiten, Indignation hervorruft.“
Thomas Mann verfolgt in den letzten Kriegstagen fieberhaft die Ereignisse in Europa. Jedes Gerücht trägt er in sein Tagebuch ein: Göring sei schon tot, glaubt er Ende April 1945. Hitler sei in Dänemark, und zwar entweder verwundet oder von einem Schlaganfall niedergestreckt. In sterbendem Zustand habe man ihn nach Österreich gebracht, notiert Mann zwei Tage vor dem Selbstmord Hitlers in dessen Berliner Führerbunker. In München sei Revolution ausgebrochen, schreibt er einen Tag später.