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Sternstunden der Wahrheit


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leitete der freundliche Bürgerkönig den sehr hungrigen Ralf S. an die Theke, wo speziell für den späten Gast ein letztes Menü gefertigt wurde. Der 46-jährige S., der angeblich aus Irland stammen und dort für eine bekannte deutsche Tageszeitung arbeiten soll, verzehrte das köstliche Nachtessen geschwind, bedankte sich überschwenglich und mit goldenem Händedruck beim Personal des Gasthauses und hinterließ beim Abschied einen ihm freudestrahlend zuwinkenden Bratfürsten. S. aber strich sich glücklich über das jetzt wieder wohl gefüllte Bäuchlein und trollte sich still heim.

      (26.5.2000)

      Eier sind Fehlkonstruktionen. Was hat sich die Natur eigentlich dabei gedacht? Im Supermarkt muss man die Kartons öffnen, um die Unversehrtheit der Eier zu überprüfen, beim Einpacken an der Kasse muss man beachten, dass man nichts auf den Eierkarton stellt, und dann reißt die Tüte und man hat den Eiersalat. Kurzum: Hühnerprodukte sind wie rohe Eier zu behandeln.

      Doch nun ist Schluss damit. Britannien, die Insel der kulinarischen Überraschungen, hat das Problem genial gelöst: Eier aus der Plastikflasche. Deans Food, die Erfinder des schalenlosen Eis, bejubeln ihr Produkt als Durchbruch auf dem Gebiet der Lebensmittelsicherheit: »Die ganze Frische ohne die Schale«, so die Werbung. Wie oft komme es vor, fragt Deans’ Forschungsdirektor Barry Vigus, dass beim Eiaufschlagen ein Stück der Schale abbreche und im Rührei lande? Möglicherweise sterben täglich dutzende Briten an verschaltem Rührei, und niemand hatte bis jetzt etwas dagegen unternommen.

      Die Flasche in Form einer Eieruhr enthält fünf pasteurisierte Eier und kostet umgerechnet zwei Mark. Ist die Flasche einmal geöffnet, muss man den Inhalt binnen drei Tagen verbrauchen. Und das geht spielend: Man kann das Flaschenei direkt in die heiße Pfanne quetschen, und fertig ist das Rührei.

      Auf wen zielt das Produkt jedoch ab? Wer zu faul ist ein Ei aufzuschlagen, wird auch mit der Eierflasche nicht zum Hobbykoch. Und wer zu blöd ist ein Ei sachgemäß zu behandeln, sollte erst recht die Finger vom Herd lassen. Das machen übrigens immer mehr Briten. Sie verbringen nur noch eine Stunde und 50 Minuten in der Woche mit Kochen aus Vergnügen. Vor zehn Jahren standen sie noch doppelt so lange am Herd. Seitdem sind allerlei nützliche Produkte auf den Markt gekommen, mit deren Hilfe sich Zeit sparen lässt, die man vorher mit der lästigen Essenszubereitung verplempert hat.

      Wer hat sich beim Frühstück nicht schon mal über die Umstände geärgert, die ein Teller Cornflakes macht: Karton aus dem Schrank nehmen, Milch aus dem Kühlschrank holen, beides nacheinander in einen Teller geben und obendrein einen Löffel aus der Schublade ziehen. Endlich hat der Cornflakesterror ein Ende – dank Rumblers. Das sind kleine Cornflakes-Schachteln mit eingebautem Behälter, in dem sich gerade so viel fettarme Milch befindet, wie man für die Cornflakes benötigt. An der Seite der Schachtel ist ein Klapplöffel befestigt: Aufklappen, Schachtel aufreißen, Milch über die Cornflakes, schlucken, fertig. Und der Rest wandert in den Müll.

      Auch an Vitamin C kommt man inzwischen ohne Werkzeug heran, und man muss sich nicht mehr die Fingernägel verbiegen. In den Supermärkten gibt es geschälte und in mundgerechte Häppchen zerlegte Orangen in Frischhaltefolie.

      Eine Herausforderung bleibt jedoch für britische Wissenschaftler: Falls es einem von ihnen gelingt, das Leibgericht der Nation – Roastbeef mit Quetschkartoffeln und zerkochtem Gemüse – in eine Tube zu zwängen, wird ihn die Queen zum Ritter schlagen. Gourmets werden ihn lieber aufgeschlagen in die Pfanne hauen.

      Ralf Sotscheck (24.7.2000)

      Herzlichen Glühwurm! Die bekotzte Teppichfliese feiert im Jahr 2000 ihren 30. Geburtstag. Was? Sie verstehen nicht? Wissen nicht, was eine bekotzte Teppichfliese ist? Dann haben Sie noch nie in die Supermarkt-Kühltruhe gegriffen und eine Tiefkühlpizza herausgezogen – die bezeichnet man nämlich im Volksmund als bekotzte Teppichfliese. Selbstverständlich nicht wegen ihres vorzüglichen Geschmackes, sondern wegen reiner Äußerlichkeiten: Die Tiefkühlpizza zum Beispiel von Dr. Oetker sieht schlicht so aus. Spätestens, wenn sie aus dem Ofen kommt. Die Arme feiert also jetzt ihren 30. Geburtstag und hat all ihre Freunde eingeladen: den gefrorenen Quader Rahmspinat, die eisigen Fischstäbchen, das tiefgekühlte Pfannengemüse, das bibbrige Vanilleeis und wie sie alle heißen. Und wie jedes Jahr wird die bekotzte Teppichfliese Seit an Seit mit ihren Gästen regungslos verharren, bis ihr Geburtstag wieder vorbei ist. Und wie jedes Jahr wird die Partystimmung später als »etwas unterkühlt« kritisiert werden. Wenn nicht jemand den Teppich vollkotzt.

      (8.11.2000)

      Wahre Lokale: Das sandalöse antike Striptease-Restaurant »Pirr« in Moskau

      Jahrzehntelang schilderte die sowjetische Presse detailliert und genüsslich, wie die bourgeoise Kultur drüben im Westen schillernd verfault. Wie die Kapitalisten sich verzweifelt mit immer neuen Portionen Sex, Drugs und Rock ‘n’ Roll kaputtmachen, wie sie vergeblich versuchen, damit ihrem sinnlosen kapitalistischen Leben einen letzten Halt zu geben, bevor sie endgültig vom Sozialismus überrollt werden. Der sowjetische Bürger las darüber in der Zeitung, beneidete die Genossen im Westen und trank seinen aidssicheren Wodka in der Küche weiter. Als der Sozialismus dann plötzlich den Geist aufgab, dachten die Russen: Na also! Jetzt werden wir uns wohl auch so toll amüsieren, genauso wie die Kollegen drüben: wilder Sex, laute Musik und teurer Alkohol an jeder Ecke, mit einem Wort – Unterhaltung pur.

      Die russischen Experten fuhren sofort nach Europa und Amerika, um alles genau zu studieren. Und schon 1990 stand im Moskauer Park für Kultur und Erholung der erste gepanzerte Striptease-Container. Für 25 Rubel konnte man dort durch das kugelsichere Glas zwei blonden Frauen zuschauen, wie sie sich langsam auszogen und langsam wieder an. Der Container hatte auch ein kleines Loch, gerade so groß, um einen Zeigefinger durchzustecken. Für einige Rubel extra näherte sich eine Stripperin dem Loch, und der Glückliche durfte mit dem Zeigefinger an ihren Brustwarzen knipsen. Immer wieder versuchten besonders schlaue Kunden, auch andere Körperteile in das Loch reinzukriegen. Für solche Fälle stand in dem Container eine Axt in der Ecke, mit der die Frauen virtuos umgehen konnten.

      Wenig später eröffneten Dutzende von Striptease-Bars und -Restaurants in der russischen Hauptstadt: Frauen in Unterwäsche und Männer in Badehosen, die alle wie Tarzan und Jane aussahen, drehten sich um Eisenstangen herum und verlangten dafür vom Publikum, dass es ihnen Dollarscheine in die Höschen stopfte. Die Russen hatten sich die süßen Wonnen des entwickelten Kapitalismus irgendwie anders vorgestellt. »Was soll dieser Scheiß?«, fragten sie ihre Unterhaltungsexperten. »Wir habe es genau wie im Westen gemacht«, argumentierten die. »Es sieht aber pissig aus«, meckerten die Russen. Die Experten wurden entlassen, und das Volk nahm die Unterhaltungsbranche selbst in die Hand.

      Seit Mitte der Neunzigerjahre entwickelt sich nun eine eigene kapitalistische Unterhaltungskultur in Russland, und das mit großem Erfolg. In der Hauptstadt wird jeden Monat ein neues Striptease-Restaurant eröffnet, und jedes Mal ist es etwas Einzigartiges, wovon der Westen nur träumen kann. Als ich letztens dort war, besuchte ich die Neueröffnung »Antikes Striptease-Restaurant Pirr« in der Nikitskaja-Straße. Zusammen mit den In-Clubs »Imperium der Leidenschaft« und »Nackter Bär« gehört diese Einrichtung zur Avantgarde der postsozialistischen Erotik. Die Haupthalle sah aus wie eine Gruft, war großzügig mit antiken Gegenständen vollgestellt und mit vielen Kerzen ausgeleuchtet. Die männliche Bedienung hatte man als Gladiatoren verkleidet, die weiblichen als Hetären. Das Personal darf sich nicht anders als nur in Reimen äußern.

      »Für unsere wertvollen Gäste erfüllen wir jede noch so verrückte Geste«, begrüßte uns eine junge Kellnerin, die eine antike Toga und Sandalen trug, als mein Freund Mischa und ich uns setzten. Mischa hatte gerade eine mehrmonatige Trunksucht hinter sich und war wieder auf wilde Abenteuer scharf. Laut Speisekarte wurden in dem antiken Striptease-Restaurant außer teurem Essen mehrere Sorten von Unterhaltung angeboten: Der Gast