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Sternstunden der Wahrheit


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15.000 Rubel extra spielt der Chefkoch für Sie Akkordeon«, stand noch auf der Speisekarte. Der Chefkoch kam auch zu uns an den Tisch. Er sah aus wie ein Doppelgänger von Zeus, trotzdem hatten wir Zweifel an seiner musikalischen Begabung – 15.000 Rubel ist eine Menge Geld: fast 1.500 Mark. Also bestellten wir zuerst einfach ein Fass antiken Rotwein und schauten uns um. Das ganze sah aus wie ein Naturkundemuseum, nur dass die Gäste in ihren Giovanni-Anzügen irgendwie nicht ins Bild passten. Nach zwei Litern wollte Mischa sich unbedingt mit einem der Gladiatoren anlegen. Er verhandelte hart, fand es aber dann doch zu teuer. Die Bedienung redete die ganze Zeit in Reimen auf uns ein, was sich als äußerst ansteckend erwies. Schon nach kurzer Zeit dichteten wir wie blöd zurück. Mit Anstrengung leerten wir derweil das Fass. Danach gingen wir in voll antikem Zustand an die frische Luft.

      Mischa behauptete zwar, der Abend fange jetzt erst richtig an und wollte sofort schräg gegenüber in die »Kaserne der Liebe« – eine Gay-Bar in einer ehemaligen Badeeinrichtung. Dort, so versprach uns der Türsteher, würden in den zahlreichen engen Duschkabinen Stühle und Tische stehen und junge Männer sich einander in die Ärsche kucken. Mischa wollte es nicht glauben und ging rein, ich aber hatte bereits die Nase voll von der neuen russischen Unterhaltungskultur und ging nach Hause schlafen.

      Wladimir Kaminer (15.11.2000)

      Ich werde verfolgt. Andere sehen schwarze Männer, haben die Mafia im Nacken oder das Finanzamt. Vor all dem fürchte ich mich nicht, aber wenn es klingelt, zucke ich zusammen. Es kann ja sein, dass sie plötzlich vor der Tür stehen. Dass sie lachend durch den Briefschlitz springen und womöglich auch noch anfangen zu singen. Im Chor, mehrstimmig. Das wäre schlimm. Erbsen, Möhren, Bohnen, fröhlich vereint, im Kreis tanzend. Mehr als schlimm, wirklich!

      Diese Bilder verfolgen mich seit Jahren. So genanntes famoses Zartgemüse hüpft durch meine Albträume. Nichtsahnend und gut gelaunt springt es seinem Schicksal entgegen. Ab ins Döschen, Deckel drauf. Weiß denn niemand, wie viele Kinder diesem Drama vor dem Fernseher zugeschaut haben? Traumatisch, ehrlich! Wie habe ich mich gefürchtet, damals, nachdem ich das zum ersten Mal gesehen hatte und Mutter dann sonntags Gemüse auf meinen Teller löffelte. Augen in den Kartoffeln, nun ja, das kommt in den besten Familien vor, aber was, wenn dem Mais plötzlich kleine Ohren wachsen und er ein diabolisches Grinsen aufsetzt? Würde er Rechenschaft fordern, wenn man zubeißt? Soll man da keine Angst bekommen? Schlimmer noch ist die Überlegung, was mit all dem Gemüse wurde, das durch den Bonduelle-Test gefallen ist. Gibt es dafür eine Erbsenrechtsvereinigung? Einen Möhrenschutzbund?

      So sahen sie aus, die Fragen meiner Kindheit. Als ich größer wurde und irgendwann auch Tomaten Turnschuhe trugen, Orangen von Bäumen in Saftflaschen kletterten, da habe ich meinen Fernseher verkauft und ein Radio angeschafft. Ich habe das alles nicht mehr verkraftet. Andere wurden Vegetarier nach dem Motto: Iss nichts, was ein Gesicht hat! Für mich galt: Iss nichts, was zu dir spricht. Aber was bleibt da noch übrig, wenn Gemüse anfängt zu reden?

      Mein Speiseplan hat sich seitdem drastisch reduziert: keine Paprika, keine Grapefruit und kein Maoam. Mit Mortadella habe ich keine Schwierigkeiten, denn die mit dem Bärchenmuster mochte ich noch nie. Italienische hat zwar Pistazien drin, aber sie hat wenigstens keine Augen und lächelt nicht, denn das Weiße sind nicht Zähne, sondern Speck. Da weiß ich, woran ich bin. Auch Hähnchen machten mir bis jetzt wenig Probleme. Die haben zwar ein Gesicht, aber hübsch sind sie ja nicht gerade. Jedenfalls nicht so niedlich wie diese kecken Maoam-Zitronen. Seitdem lebe ich nicht so schlecht.

      Doch neulich, als ich ahnungslos das Radio einschaltete, begann meine Paranoia von neuem. Eine Drohung drang aus dem Lautsprecher: »Wenn Hähnchenschenkel sprechen könnten!« Mir wurde übel. Unter hysterischem Gekicher priesen sich Hühnerkeulen einschmeichelnd selbst an.

      Nun bin ich vor nichts mehr sicher. Mein Radio habe ich in die Speisekammer gestellt und den Briefschlitz zugeklebt. Vielleicht werde ich auf Fisch umsteigen. Denn eins ist klar: wenn jetzt auch Hähnchenschenkel sprechen – Fische waren schon immer Langweiler. Sie haben geschwiegen! Hoffentlich bleibt das so.

      Ilke S. Prick (2.10.2002)

      Nachwuchsprobleme will das Metzgerhandwerk jetzt mit Pixi-Büchern bekämpfen

      Undankbare Jugend. Lässt sich gern anfixen mit einem Wiener Würstchen oder einer Scheibe Bierschinken. Aber hinter der Aufschnitttheke stehen, am Fleischwolf oder Blutbottich, das will sie später nicht. Tiere tot machen ist doch kein Beruf, so denken die Bälger und verputzen einen Big Mäc nach dem anderen. Und Eltern, Lehrer und Jobberater bestärken sie noch: Fleischermeister willst du werden? Fleischfachverkäuferin? Dafür bist du nicht so lange zur Schule gegangen! Das ist ja eklig, blutig, brutal. Und überhaupt ganz schön kalt in den Kühlkammern. Von BSE gar nicht zu reden.

      Kein Wunder, dass das Fleischerhandwerk Imagesorgen hat und über Nachwuchsprobleme klagt: Lehrlingsmangel, keiner will sich mehr quälen im Freizeitpark Deutschland, so heißt es unter Metzgern. Für den unbeliebten Job bewerben sich eher die schlechten Schüler. Die Kids haben bei dem Beruf eben nur Schmutz und Schlachten im Kopf. Oftmals lassen sich bloß noch die Söhne von Fleischermeistern zu Fleischern ausbilden, Fremdeinsteiger sind selten geworden. Und auch manchen Metzgersohn zieht es anderswo hin: Siehe Stefan Raab, Joschka Fischer, Franz Josef Strauß. Also fehlt im Fleischergeschäft das Fachpersonal an allen Ecken, und die Discounter rundum drücken mit Selbstbedienung die Preise. Wie aber angehen gegen alle diese Vorurteile – und das möglichst früh?

      Den Reiz von Messern, Hackebeilen, Gummischürzen und Kettenhandschuhen kapieren eher ausgewachsene Fetischisten. Schon die Allerkleinsten aber gilt es zu erreichen, und zwar direkt am Point of Sale. Den Kindern muss klar gemacht werden, dass in der Fleischerei heutzutage Hightech regiert. Dass Party-Service und Catering allerhöchste Kartoffelsalat-Kreativität erfordern. Dass ohne kundenfreundliche Beratung (Schinken hat Vitamine!), BWL und Lebensmittelchemie samt Laptop heute nix mehr geht.

      Ein Brocken Fleischwurst allein macht noch keinen potenziellen Metzgerlehrling. Also liegt da jetzt an der Kasse das Pixi-Buch »Ich hab einen Freund, der ist Fleischermeister«. 95 Cent kostet das nette Büchlein, eine rosige Gemeinschaftsproduktion von Fleischer-Verband und den Pixi-Machern vom Carlsen Verlag. Höhe der »Sonderauflage für das Fleischerhandwerk«: 50.000. Ein kleiner Rundgang durch die friedliche Welt des Wurstmachens, welcher mit der märchenhaften Zeile endet: »Und wenn ich groß bin, werde ich auch Fleischermeister.«

      Damit will man, so heißt es beim Fleischer-Verband, den Kindern falsche Vorstellungen nehmen und ihnen zeigen, dass Fleisch und Fleischer »einfach dazugehören«. Beim Carlsen Verlag steht man zu der Zusammenarbeit, weil sich Pixi damit doch für den Mittelstand und den Laden an der Ecke engagiert – und gegen das Aussterben eines Handwerksberufs. Ein bisschen peinlich ist das den Pixies aber schon. Denn gleichzeitig betonen sie, dass so eine spezielle Kooperation im Rahmen der Berufe-Reihe nur ein, zwei Mal im Jahr stattfindet. Es geht, so sagen sie, »um den guten Willen, nicht um ein neues Geschäftsfeld«. Auch die Feuerwehr, die Bahn und Hersteller von Sonnenschutzmitteln durften sich schon direkt ans Kind wenden.

      Blut kommt in dem Pixi-Büchlein übrigens nicht vor, nicht mal Blutwurst. Aber dafür der schöne Satz: »Hier kann man auch Käse kaufen!«

      Hans-Hermann Kotte (22.5.2003)

      Eigentlich dachte ich, dass mich nichts, was sich Menschen als Nahrung in Mund und Schlund schieben, noch erschüttern könnte. Immerhin bin ich in einer Gegend aufgewachsen, in der man sein Mittagessen auch schon mal aus Berlin anreisen lässt, es mit dem Auto vom ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe abholt, nett mit ihm plaudert, Weinchen, Küsschen, bis man schließlich anfängt, es von untenrum aufzuessen.

      Apropos Essen in Hessen: Als Kind verweigerte ich manchmal wochenlang den Kontakt mit meiner aus dem Vogelsberg stammenden Mutter, weil sie mal wieder eine Ladung reifen,