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Sternstunden der Wahrheit


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seine Flasche offenbar schon leer getrunken hatte und bemüht war, nicht vom Stuhl zu rutschen. War das eine Inszenierung für Touristen, um die Klischees vom stets Rotwein trinkenden Italiener zu bestätigen? Andererseits kann man in Irland jederzeit in einen Pub gehen und glasigaugige Männer vor schwarzem Bier finden, ohne dass es inszeniert werden müsste. In den meisten Klischees steckt eben ein Körnchen Wahrheit.

      Die Pizza war tadellos, und die Halbliterkaraffe Chianti – ich hatte in Anbetracht des Nachbartischs vorsichtshalber einen kleinen Wein bestellt – war es auch. Dann kamen weitere Gäste: drei Irinnen, die offenbar mit demselben Flugzeug aus Dublin gekommen waren. Camillo fing sofort an, ihnen Komplimente zu machen. Ah, diese Italiener.

      Schließlich gab er ihnen einen Sambuca aus. Ob wir auch einen wollten, fragte er. Ich hätte lieber einen Grappa, sagte ich. Es gab aber nur Sambuca. Nach dem zweiten Schnaps schaute Camillo mich listig an und fragte: »Du willst Grappa?« Dann verschwand er aus dem Laden, ging zu seinem Auto und kam mit einer Flasche Grappa zurück. »Die hat meine Exfreundin vor vier Monaten im Auto liegen lassen«, sagte er. »Jetzt ist die Trauerzeit vorbei.« Mit diesen Worten zog er die Metalljalousie vor der Eingangstür herunter. Es wurde eine lange Nacht.

      Der Hotelangestellte vergrub bei unserer Rückkehr die Hände im Gesicht und stöhnte: »Ich sehe es euch an: Ihr seid bei Francesco gewesen, der übelsten Spelunke Pisas. Als ich sagte, ihr sollt das zweite Restaurant auf der rechten Seite nehmen, ahnte ich nicht, dass ihr diesen Laden mitzählen würdet. Gelten Schnellimbisse in Irland als Restaurants?«

      Aber der Wirt habe doch bestätigt, dass er Camillo sei und sich über die Grüße gefreut. »Ihr habt Francesco von mir gegrüßt?«, fragte der Rezeptionist entsetzt. »Wollt ihr meinen Ruf ruinieren? Hättet ihr nach dem Papst gefragt, hätte Francesco auch genickt. Schließlich will er seine Pizza verkaufen.« Die sei aber ausgezeichnet gewesen, sagte ich. Das liege am Grappa des Vergessens, entgegnete er. »Den Grappa flößt Francesco jedem fremden Gast ein, damit er sich später an nichts mehr erinnert, schon gar nicht an die Rechnung. Es war die Flasche seiner Exfreundin, stimmt’s?«

      Ralf Sotscheck (12.12.2005)

      Was ist bloß gegen Kannibalen einzuwenden? Plädoyer für eine menschlichere Küche

      Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, wälze ich mich auf meinem Lager hin und her und frage mich: Was wird eigentlich aus Armin Meiwes, dem Kannibalen von Rotenburg? Rotenburg in Hessen übrigens, nicht das viel bekanntere Rotenburg an der Wümme in Niedersachsen. Ebenda logiert während der WM im Sommer die Nationalmannschaft von Trinidad und Tobago.

      Das Leben ist ungerecht. Das eine Rotenburg kriegt hippen Besuch aus Übersee, das andere ist für immer und ewig geschlagen mit einem ziemlich unhippen Zwischenfall. Adolf Eichmann ist in Solingen geboren, aber deswegen können die da jetzt auch nicht auf ihrer Homepage schreiben: »Der berühmteste Sohn der Stadt«.

      Der Kannibale muss ins Gefängnis, das ist klar. Aber dann? Serienkiller in den USA bekommen ja sofort lukrative Verträge, damit sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben, bevor sie hingerichtet werden. Oder Norman Mailer kommt in die Zelle oder Michael Moore oder Susan Sontag. Die ist schon gestorben, schlechtes Beispiel. Aber ein kleiner Kannibale? Kriegt der Besuch von Maybrit Illner? Oder vom linken Weltgewissen Jürgen Elsässer?

      Vermutlich wird er ein Kochbuch schreiben, jeder schreibt heute ein Kochbuch. Es gibt ein Kochbuch mit den Henkersmahlzeitenrezepten von Todeskandidaten, geschrieben von einem ehemaligen Koch im Knast von Huntsville, Texas. Es gibt ein Schlampen-Kochbuch, ein Studenten-Kochbuch, ein Weightwatchers-Kochbuch, ein Aldi-Kochbuch und hunderte von Baby-Kochbüchern. Ein FC-Bayern-Kochbuch gibt es leider auch. Dann lieber noch ein Kannibalen-Kochbuch. Dessen Autor hat dann allerdings Mühe, einen Verlag zu finden und wird ganz oft abgelehnt, bis es dann doch bei Gräfe und Unzer erscheint. »Es war eine kontroverse Entscheidung«, wird ein Verlagssprecher sagen, und sein Statement geht im gierigen Schnalzen der Fotoapparate unter.

      Selbstverständlich wird es äußerst kontrovers rauf und runter rezensiert und diskutiert, von Ende Juli bis Anfang August ungefähr. Bei Christiansen gibt es einen Abend mit »Wie viel Kannibalismus braucht Deutschland in der Krise?«. Und in der Zeit schreibt Helmut Schmidt: »Wir schneiden uns ins eigene Fleisch. Wir dürfen China nicht unterschätzen.«

      Das Vorwort für das Kannibalen-Kochbuch hat Anthony Hopkins für ungefähr 17 Millionen Dollar verfasst, wie der Verlag weder bestätigt noch dementiert. Zu jedem Rezept wird dann angemerkt: »Sie können anstelle des Menschenfleischs auch Rehnüsschen verwenden.« Um Hemmungen abzubauen.

      Erstaunlich, dass Kannibalismus fast 300 Jahre nach Jonathan Swifts »A Modest Proposal« immer noch so die Gemüter erregt, und das in einem Land, in dem Karl Schönfelds Schlagertext »Püppchen, Du bist mein Augenstern / Püppchen, hab Dich zum Fressen gern« schon 1929 die Massen begeisterte. Swifts bescheidener Vorschlag bestand darin, die Kinder armer Leute aufzuessen, um die Familien finanziell zu entlasten und der Allgemeinheit etwas Gutes zu tun. Aber Swift war Satiriker, der Kannibale wollte einfach nur essen.

      Ich warte jeden Tag darauf, dass sich die FDP endlich stark macht für ihn. Die ist ja immer vorne mit dabei, wenn es darum geht, staatliche Gängelung zu bekämpfen und sich vampiristisch an Modethemen festzusaugen. Dein Bauch gehört mir! Das wäre doch ein Wahlkampfhammer für Baden-Württemberg. Zweistellige Ergebnisse für den Wahlkämpfer Guido Westerwelle, dessen Haut ja auch aussieht, als ob er alles isst.

      Das Kannibalen-Kochbuch wäre ein letzter Befreiungsschlag gegen die ewigen deutschen Bedenkenträger. Atomstrom, Stammzellenforschung, Saures Lüngerl »Rotenburg«. Immer züngelt die German Angst hoch, wenn jemand mal die Initiative ergreift. Irgendwann ist er ja doch wieder auf freiem Fuß. Der Kannibale, nicht der Westerwelle natürlich. Der ist ja frei, freidemokratisch.

      Hat sich tipptopp geführt, der Meiwes. Er hat die Gefängnisbücherei betreut und eine neue Software für die Ausleihe geschrieben. Ist ja eigentlich Informatiker. Und dann wird er zu »Alfredissimo« eingeladen. Das Stammpublikum merkt sofort, dass der Gastgeber nicht wie sonst einem läufigen Frettchen gleich in Höchstgeschwindigkeit um seinen Mitkoch herumscharwenzelt, sondern bedächtigere, staksigere Bewegungen macht. Irgendwann, während das Gulasch schon im Topf schmurgelt, stellt sich dann die garstige Wahrheit heraus. Alfred Biolek hat nur noch ein Bein. Allerdings müssen auch seine zahlreichen Neider zugeben, dass er samt seiner Prothese keine schlechte Figur abgibt und mit seinem Überraschungsgast den größten Mediencoup der jüngeren Geschichte gelandet hat. Ich aber schlafe dann ein und träume lauter wirres und schreckliches Zeug.

      Rob Alef (25.1.2006)

      Moses ist schwer im Kommen. Jüngst wurden die Hartz-»Reformen« mit den Zehn Geboten verglichen, die Moses von Gott empfangen hat. Der für Weltliches aller Art bei Volkswagen zuständige Peter Hartz wäre demnach der Gott, der der rot-grünen Regierung die »Reform«-Gesetze eingeflüstert hat.

      Jede Farce erzeugt einen, der sie überbietet. Hartnäckig arbeitet der Gastronomie-Kritiker Jürgen Dollase jede Woche daran, der FAZ-Leserschaft die »Neue Deutsche Schule« der Kochkunst vorzustellen. Über Nacht geht das nicht. Noch im Mai 2007 sagte Dollase den deutschen Köchen, »lebt wohl, ihr Sößchenfreunde!« und bescheinigte ihnen, sie zählten »international nichts mehr«. Aber schon im Juni gingen die Köche daran »sich zu befreien«, und vier Monate später konnte ihr Prophet Dollase das »Regelwerk der neuen Küche« vorlegen. Die zehn Gebote der »strukturalistischen Küche« drehen sich um das, was Kochen – mehr oder weniger gut – seit weit über hundert Jahren auszeichnet: »Alle Elemente einer Kreation werden unter sensorischen Gesichtspunkten präzise aufeinander bezogen.« Genau.

      Aber die »Neue Deutsche Küche« hat zwei Erzfeinde. Da ist Frankreich, das immer noch Platz eins beansprucht. Der Anspruch der klassischen französischen Küche wie der Nouvelle Cuisine ist für den Befreiungskrieger der »Neuen Deutschen Küche« nur »ein Instrument der Unterdrückung