Halwart Schrader

Bunty


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möchte jedoch nicht einfach am Straßenrand stehen bleiben und mich bis zum Morgengrauen krankenhausreif frieren. Eine kleine Grippe tut es ja auch, wenn es denn schon etwas Unangenehmes sein soll.

      Apropos Churnetside: Wie Basford Hall, hatte ich eine Ortschaft dieses Namens auf der Karte ebenso wenig entdecken können. Aber selbst wenn ich erführe, dass es ein Dorf dieses Namens gibt, im Unterschied zum ganz gewiss nicht existierenden Basford Hall, würde mir es jetzt ebenso wenig nützen – und selbst ein tröstlicher Hinweis wie zum Beispiel »3¼ miles« auf weiß lackiertem Gusseisen, würde ich ihn denn entdecken, bedeutete eine kalte, nasse Stunde Fußmarsch. Mindestens.

      Nach so viel Selbstbemitleidung darf ich immerhin feststellen, dass es zu regnen aufgehört und der Wind Bewegung in die Wolkenschichten gebracht hat, was ich vor allem deshalb mit Erleichterung zur Kenntnis nehme, weil von einer himmlischen Ecke her so etwas wie Mondlicht diesen Teil der Grafschaft Staffordshire zu erhellen beginnt. Erhellen ist übertrieben, doch zuminderst vermag ich den Verlauf der Landstraße zu erkennen, an der man mich abgesetzt hat. In kurzen Intervallen fetzen Wolken vor meiner Lichtquelle vorüber.

      Ich setze meine Füße in Bewegung, und zwar in eine Richtung, von der ich nur hoffen kann, dass sie mich meinem Ziel näher bringt. Und tatsächlich: Schon nach wenigen Schritten komme ich an eine Abzweigung mit einem Straßenschild, das erkennen lässt, dass die unbefestigte Straße zu meiner Linken zum Rock Cottage führt. Eine Art Waldweg, mit ausgefahrenen Spuren von Ackerschleppern und vielleicht auch Landrovern. Ob sich auch Rolls-Royce-Reifen markiert haben, kann ich nicht erkennen – erstens ist es dazu zu finster, zweitens hätte der Regen sie ohnehin verschlammt, und drittens bin ich auf dem Gebiet der Reifenspurenkunde ziemlich unbewandert.

      Eine Angabe der Entfernung hat sich der Schildermaler erspart. Eine Meile? Fünf Meilen? Zehn?

      Ein kofferschleppender Jüngling aus Deutschland, frierend und hungrig, im nassen Trenchcoat und mit für Waldwege untauglichen Schuhen, der ausgezogen ist, um einen spleenigen Autohändler zu interviewen, tappst durch den westenglischen Forst und hat keine Ahnung, was ihn erwartet. Ein arroganter Nobleman mit ebensolchem Butler? Ein betrunkener Raufbold, der vor dem Kamin eingeschlafen ist? Eine ängstliche Mrs. Scott-Moncrieff, die nachts keinem Fremden die Tür aufmacht, während ihr Herr Gemahl auf Geschäftsreise in Australien weilt? Eine Antwort auf meine Besuchsankündigung habe ich nicht abgewartet, bin acht Tage später einfach losgefahren.

      Wo werde ich überhaupt nächtigen? Ich kann doch nicht erwarten, dass Mr. Scott-Moncrieff für einen ihm völlig unbekannten, möglicherweise sogar unwillkommenen Besucher ein Gästebett bereit hält.

      Die in den Waldweg gegrabenen Traktorspuren führen tatsächlich an mein Ziel. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist; meine Armbanduhr hat keine Leuchtziffern. Dass ich mich Rock Cottage nähere, lassen die Silhouetten von drei oder vier überdimensionalen Autokarosserien erkennen, in einer Größe, die mir im durchbrochenen Mondlicht gigantisch scheint. Sie sind ohne Scheiben, hohl, sehr kubisch. Sie passen nicht in mein Bild vom Mythos Rolls-Royce. Wie Leichenwagen sehen sie aus, die darauf warten, selbst beerdigt zu werden.

      In einiger Entfernung hinter diesem makabren Monument ist ein Lichtschimmer auszumachen. Gern würde ich meine Schritte jetzt beschleunigen, bleibe aber erst einmal in knöcheltiefem Schlamm mit Kuhfladenbeimischung stecken, muss mich dann durch eine Brennesselkultur hindurcharbeiten, stolpere über am Boden liegende, im Gras eingewachsene Gegenstände unterschiedlichen Materials. Ich glaube, es sind Zylinderköpfe, Hinterachsen, Lenkräder …

      Umrisse eines Hauses werden erkennbar. Eines Hauses? Es ist ein Spukschloss, mit zwei kleinen Turmspitzen und riesigen Kaminschloten an den Giebeln. Immerhin: Eines der Fenster im Erdgeschoss ist erleuchtet.

      Rock Cottage! Ich hab’s geschafft!

      Es gibt ein eisernes Gartentor, das offen steht, flankiert von weiteren Automobilruinen davor und dahinter, und direkt vor der Eingangstür einen mit dicken Feldsteinen eingefassten, jedoch außer Betrieb befindlichen Goldfischteich mit einer allegorischen Figur an Steuerbord, die in der Halbfinsternis so aussieht, als hocke da ein Kind, ein armes frierendes englisches. Und in den leeren Teich stürze ich beinahe hinein, weil ich so sehr auf das Licht fixiert bin, das aus dem Fenster scheint, und weil die letzten Meter (nein: Yards natürlich) zum Teich weitgehend verstellt sind. Mit weiteren Autos oder Teilen davon. Sie scheinen etwas kleiner zu sein als die hohlfenstrigen Leichenwagen oder was ich dafür hielt.

      Ich finde dennoch den Weg zur Eingangstür. Ich klopfe, laut und kräftig. Und erwarte ein »come in, please« oder das Erscheinen eines Menschen, ganz gleich, ob freundlich oder unfreundlich, erstaunt oder erschrocken, misstrauisch oder herzlich, männlich oder weiblich …

      Stattdessen vernehme ich eine schwache Stimme, beinahe tonlos, und nur zu verstehen, weil ich das Ohr direkt an die Türspalte lege. Ich stelle meinen Fotokoffer auf den Boden und lausche, bevor ich den Türgriff zu drehen versuche, der Botschaft, die dem fremden Gast zuteil wird:

      »Halten Sie sich um Himmels willen von der Türe fern! You risk your life! Rodney hätte das Gesims schon letztes Jahr reparieren sollen, jeden Tag fallen ein paar Steine herunter … Gehen Sie links zum Eingang am Giebel, durch das Pfauengehege, in die Küche … Sie werden’s schon finden …«

      Der Käfig mit den Pfauen – zu sehen sind sie nicht – ist dann meine letzte Prüfung, die mir auferlegt ist, um den Zutritt zum Rock Cottage zu erlangen. Am Maschendraht bleibe ich mit dem Mantel hängen, ich kann deutlich hören, wie ein Dreiangel im Gewebe entsteht. Doesn’t matter, jetzt. Pfauen sehe ich nicht. Die sollen Fremden gegenüber ja aggressiv werden können.

      Die Tür zur Küche ist unverschlossen. Die zum dahinter liegenden Raum ebenfalls. Es ist der, aus dem das Licht durchs Fenster fiel.

      Der zweite Teil des Abenteuers kann beginnen: Der meiner Begegnung mit David Scott-Moncrieff.

      Nur ein einziges Mal habe ich ihn so nennen dürfen, nämlich als ich mich vorstelle und sage: »Good evening, Mr. Scott-Moncrieff, my name is …« – und schon lässt mich der Hausherr wissen, dass er mit Bunty angesprochen zu werden wünsche, ein für allemal.

      Allright then, Mister Bunty!

      Bunty. Keines meiner Bilder, das ich mir von ihm gemacht hatte, trifft auch nur im Entferntesten auf den alten Herrn zu, der mich jetzt auf Rock Cottage Willkommen heißt. Er ist herzlich, als seien wir alte Bekannte. Ja, meinen Brief habe er erhalten und mit meinem für heute angekündigten Besuch fest gerechnet. Die Deutschen seien zuverlässige Menschen, und wenn sie sagen, am Mittwoch kämen sie, dann kämen sie auch wirklich am Mittwoch, und nicht am Freitag. Oh, er habe keine schlechte Meinung von den Deutschen, except the Nazis of course and a few stupid bandits of that kind, und ob ich nicht Platz nehmen möge.

      Bunty – ohne Mister, please – hat sich zur Begrüßung seines erwarteten Gastes nicht aus dem ledernen Ohrensessel erhoben, denn er ist zur Zeit Invalide. Sein linker Fuß ist in Gips, wie ich erkennen kann, und ruht auf einem kleinen Polsterhocker. Der dazugehörige Körper steckt in einem karierten Anzug schwer definierbarer Farbe, die Hose ragt ihm fast bis unter die Achseln und wird von leuchtend roten Hosenträgern in dieser Position fixiert. Die gestreifte Clubkrawatte lässt zwischen einer Ansammlung von Flecken unterschiedlichster Art und Größe kräftige blaue und grüne Elemente erkennen. Immerhin befindet sich eine silberne Nadel mit einer Perle in halber Höhe zwischen Bauch und Kragen. Und oberhalb des Kragens befindet sich das Interessanteste am Landlord of Rock Cottage: sein von platinfarbenen Haarbüscheln besetzter Kopf mit Knubbelohren, Knubbelnase, Knubbelkinn und zwischen Gebirgen von Falten verborgenen Blinzelaugen.

      Es gibt Äpfel, die so aussehen, nämlich wenn man sie zwei Monate nach Weihnachten noch immer nicht zu Bratobst verschmort hat. Mit roten Bäckchen zwar, aber verschrumpelt und von Furchen und Narben durchzogen und mit ein paar Flecken und weichen Stellen drin. Bei Buntys wasserblauen Augen muss der Vergleich schon wieder aufhören. Sie glänzen und zwinkern listig-lustig eher in vorweihnachtlicher Erwartung und blicken mich treuherzig und zugleich bohrend an – Santa Claus! –, während unter dem zerzausten Schnauzbart, irgendwo zwischen Knubbelnase und Knubbelkinn, eine schwache Stimme ertönt, deren Melodie und Farbe gar nichts weihnachtsmännisches