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500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen


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wir heute?

      Wer bin ich? Noch einmal leihe ich mir Worte vom römischen Bischof Franziskus, der so antwortet: «Ein Sünder, der vom Herrn angeschaut wird.» Ein Sünder, weil selbst vermeintlich unfehlbare Entscheide nicht |22| an Gottes Stelle treten können? Ein Sünder, der es wagen darf, etwas zu tun, weil er vom Herrn angeschaut wird, anders ausgedrückt in unserer Tradition: weil er zugleich Sünder und Gerechter ist?

      Was aber ist es dann, was für uns zu tun ist, hier und heute und in den nächsten Jahren als protestantische Kirchen? Wir hier in Zürich feiern gerade 50 Jahre Frauenordination. Dafür erhalten wir zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, aber keinen Applaus, zu selbstverständlich müsste es eigentlich in einer modernen Gesellschaft sein. Zölibat? Das ist bei uns Protestanten seit Katharina von Bora, der Lutherin, und Anna Zwingli, geborene Reinhart, kein Thema mehr. Wir haben in vielen evangelischen Kirchen Schluss gemacht mit der Normierung bestimmter Lebensweisen und der Diskriminierung derer, die anders sind. Und das, weil wir evangelisch sind und nicht zum Trotz. Gut. Aber: Was bleibt für uns zu tun, dort, wohin der Geist uns leiten will?

      Die protestantischen Kirchen Frankreichs als ein ganz aktuelles Beispiel haben dieses Jahr einen großen Schritt getan mit ihrer Union. «Ecoute – Dieu nous parle», heißt es dort, und wenn Gott spricht: Wer könnte ihm entgegentreten? Er beruft uns zu Zeugen, témoins, in einer modernen Gesellschaft. Auf die noch relativ reichen deutschsprachigen Kirchen sehe ich die Frage zukommen: Wie lange werden wir uns die Erhaltung einer Struktur leisten wollen, die den tatsächlichen Erfordernissen und der Größe gar nicht mehr entspricht? Und die dem Auftrag, das Evangelium allen Völkern in Wort und Tat zu verkündigen, Mittel entzieht?

      Wer bin ich, dass ich das sage? Kein anderer als der, der an seinem Ort, mit seiner Kirche und mit seinen Gaben das Notwendige tun soll und will. Der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, dem Geist nicht entgegenzutreten. Dem Geist, der «auch den anderen Völkern die Umkehr zum Leben gewährt», wie es Lukas zusammenfasst.

      Ich meine und sage es offen: Wir müssen hinaus aus unseren alten Mauern. Hinaus in die Welt – nicht in die Welt, wie wir sie gerne hätten, sondern in die Welt, wie sie nun einmal ist. Zu den Menschen, die nun einmal sind, wie sie sind. Wir müssen die Sicherheit gegenseitiger Bestätigung in geschlossenen Kirchen verlassen, uns selbst vergessen und den Menschen begegnen in ihren tatsächlichen Bedürfnissen, gerade auch den spirituellen, also geistlichen.

      Hinausgehen. Das kann man auch mal während eines Kongresses versuchen, hinausgehen aus sich selbst, sich hinsetzen auf eine Bank, den Menschen zuschauen, mit jemandem ein Wort wechseln. Auch in Zürich |23| hat’s ganz einfach Menschen. Die Ökumene beginnt in der persönlichen Begegnung mit meinem Nächsten, auf den ich höre, für den ich beten kann, dem ich dienen kann. Wer, wenn nicht ich?

      Dann wird die weltweite Kirche, die Ökumene, eine spirituelle und eine diakonische Ökumene sein, eine Kirche, die betet und dient, die aus dem Wort Gottes geboren wird, die genährt wird am Tisch des Herrn. An diesen Tisch sind alle geladen, die der Herr einlädt, der gegenüber Petrus erklärt hat: «Was Gott für rein erklärt hat, das erkläre du nicht für unrein.»

      Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?

      Amen

       |24|

      Gottfried Wilhelm Locher, SEK, Bern

      Eröffnungsrede

      Reformation: Das Evangelium im Mittelpunkt

      Die Reformation wird 500 Jahre jung: 2017 werden sich die Kirchen der Reformation an den berühmten Thesenanschlag Martin Luthers an die Türe der Schlosskirche in Wittenberg erinnern. Und 2019 wird des Beginns der Predigttätigkeit Huldrych Zwinglis auf der Kanzel des Großmünsters gedacht werden. Schon jetzt zeigt sich: Das Reformationsjubiläum hat das Potenzial, weltweit viel Dynamik auszulösen. Es ist Anlass, der Freude über die Wiederentdeckung der Befreiungsbotschaft des Evangeliums auf vielfältige Weise Ausdruck zu geben. Diese hat ihr Zentrum in der Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch den Glauben an Jesus Christus. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch kann bestehen in Zeit und Ewigkeit, weil Gott ihn liebt. Das Evangelium soll im Mittelpunkt stehen und gefeiert werden. Das ist die Botschaft der Reformation. Eine befreiende, beglückende Botschaft. Die evangelischen Kirchen feiern also nicht sich selber. Der Reformation ging es um die Erneuerung der einen Kirche. Dem Reformationsjubiläum kommt deshalb von Anfang an eine ökumenische Dimension zu.

      Zeit für die Vorbereitung

      Hier in der Schweiz und erst recht in Deutschland sind die Vorbereitungen fürs Reformationsjubiläum schon angelaufen. Doch manches ist noch offen. Diese Gelegenheit haben der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Evangelische Kirche in Deutschland ergriffen und Sie alle hier nach Zürich zu einem internationalen Vorbereitungskongress eingeladen. Sein Ziel ist es, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir das Reformationsjubiläum feiern möchten und welche Bedeutung die Botschaft der Reformation für die Kirche und Gesellschaft von morgen haben kann.

      Wir freuen uns, dass Sie von nah und fern, aus über 35 Ländern und fünf Kontinenten, hierher nach Zürich gereist sind. Sie stehen dafür, dass die Botschaft der Reformation sich weltweit in den verschiedensten Kontexten ausgebreitet hat und Menschen bis heute bewegt. Die verschiedenen Erfahrungen und Horizonte, die Sie mitbringen, werden |25| unseren Kongress bereichern. Dabei sollen Brücken zwischen Menschen mit kirchlichem und universitärem Hintergrund geschlagen werden. Wir wollen miteinander in ein kritisch-konstruktives Gespräch eintreten über die Epoche der Reformation, um neue Perspektiven auf unsere kirchliche und gesellschaftliche Gegenwart zu gewinnen.

      Die Schätze gegenseitig entdecken

      «Über die Zeit, in der wir die reformatorischen Traditionen gegeneinander ausspielten, sind wir hinaus. Wir wollen vielmehr die Schätze entdecken, die sie bergen.» Dieser Satz Wolfgang Hubers anlässlich des Calvinjahres 2009 ist wegweisend für diesen Anlass und den Weg bis 2017. Wir wollen den Reichtum der jeweiligen anderen Tradition sehen und voneinander lernen. Ökumene ist Lerngemeinschaft.

      Zürich – ein Ursprungsort der Reformation

      Für diesen Kongress sind wir Gast bei der Evangelisch–reformierten Landeskirche des Kantons Zürich in Zürich, einem Ursprungsort der Reformation. In Zürich und dann an anderen Orten in der Schweiz, etwa in Bern, St. Gallen, Basel und in Genf, hat die Reformation bekanntlich eine eigene Wendung genommen. Ganz vergessen sind die unversöhnlichen Urteile Luthers über Zwingli und das bedauerliche Scheitern des Marburger Religionsgesprächs 1529 ja noch nicht. Doch nach der Leuenberger Konkordie und den ihr vorangegangenen guten Erfahrungen, die es neben der konfessionellen Gleichgültigkeit zwischen Lutheranern und Reformierten im Laufe der Kirchengeschichte auch gab, wissen wir: Die Reformation war eine Epoche evangelischer Gemeinsamkeiten, auch wenn dies aus politischen und teilweise persönlichen Gründen nicht von allen Akteuren gesehen wurde. Da ist die Freude darüber umso größer, dass sich in diesen Tagen Lutheraner, Reformierte, Unierte und Angehörige weiterer Konfessionen in dieser Form erstmals in dieser Stadt begegnen, die neben Wittenberg und später Genf für den weltweiten Protestantismus eine große Bedeutung hatte. Ohne Zwingli, Bullinger und Calvin wäre die Reformation wohl ein deutschsprachiges und nordeuropäisches Phänomen geblieben. An diesem Kongress wird also evangelische Katholizität sichtbar werden, zu der die Vielfalt dazugehört. Ein Stück weit haben wir dies soeben im Gottesdienst erlebt. |26|

      Erinnern für die Zukunft

      «Erinnern für die Zukunft.» Dies soll in den nächsten Tagen die Devise sein. Reformationsgedächtnis soll primär heißen, nach dem Stellenwert der reformatorischen Botschaft in den evangelischen Kirchen und der Gesellschaft heute zu fragen. Vermögen die Kirchen Gottes Wort der Versöhnung und Veränderung genügend kräftig zu bezeugen? Wie steht es mit der Klarheit und Verständlichkeit ihrer Verkündigung? Die Interpretation der reformatorischen Befreiungsbotschaft heute