zu altbewährten Konzepten. Dieses Rütteln an den Dogmen des Norman Borlaug wird sich für die Mehrheit der traditionell geschulten Agrarökonomen »spooky« anhören. Dennoch führt kein Weg an einer deutlichen Kursänderung vorbei.
Damit dies gelingen kann, brauchen die Agrarökonomen dieser Welt sehr, sehr dringend Nachhilfe in Sachen Ökologie. Sie sind nicht die einzigen. Die Agrarwende, die wir eher gestern als heute bräuchten, um das Artensterben zu beenden, unsere Böden zu retten und unsere Ernährung dauerhaft zu sichern, muss zuallererst in unseren Köpfen stattfinden. Um zu zeigen, wie schwierig das ist, und wie es dennoch gelingen könnte, möchte ich den Leser auf ein Gedankenexperiment einladen, das ein kleines, aber hochinteressantes Insekt aus der Familie der Schmetterlinge zum Kern hat: den Apfelwickler. Ihm möchte ich das folgende Kapitel widmen.
Den Wurm im Apfel lieben lernen
Der Wurm ist gemeinhin das Symbol für Tod und Verfall und gleichzeitig des Neubeginns im ewig währenden Reigen des Lebens. Vor Kurzem wurden in unserem Dorf Rheinbreitbach zwei Tage lang die Höfe für einen großen Flohmarkt geöffnet. Über 240 Haushalte beteiligten sich und es kamen sogar Besucher aus dem fernen Köln. Wir waren natürlich auch dabei, mit ein wenig Trödel und einigen Gläsern Honig. Unter den Menschen, die unserem Hof einen Besuch abstatteten, war auch eine junge Mutter mit ihrem schätzungsweise zehnjährigen Sohn. Ich zeigte den beiden das Naturereignis eines riesigen Wespenschwarms in unserem Maulbeerbaum. Seit Tagen krabbelten die Tiere emsig und eigentlich völlig friedlich über dessen Blätter und knabberten an ihrer Oberfläche, ohne dass wir uns einen Reim darauf machen konnten. Der Junge hielt dabei einen grünen Apfel in der Hand und biss gerade herzhaft hinein, als er plötzlich das abgebissene Stück in hohem Bogen ausspuckte und den Apfel von sich schmiss. Im ersten Augenblick dachte ich, eine Wespe hätte ihn in den Mund gestochen. Das war es zum Glück aber nicht. Vielmehr hatte der Junge im angebissenen Apfel einen Wurm entdeckt und war zutiefst schockiert. Gemeinsam betrachteten wir den Wurm, der nun hilflos und todgeweiht, seines Apfels beraubt, über die Betonplatten unseres Innenhofs kroch.
Der »Wurm« war in Wahrheit eine Schmetterlingsraupe des Apfelwicklers. Sie ist etwa zwei Zentimeter lang, hat kleine schwarze Warzen auf dem Körper und einen dunkelbraunen Kopf. Bei näherer Betrachtung sieht sie recht hübsch aus. Der ausgewachsene Schmetterling ist etwa einen Zentimeter lang, bei einer Flügelspannweite von bis zu 22 Millimetern. Von weitem betrachtet ist der kleine Wickler von eher unscheinbarer, grauer Farbe. Bei näherem Hinsehen offenbart sich eine faszinierende Musterstruktur innerhalb der unterschiedlichen Grautöne. Jedes Jahr werden zwei Generationen dieser Schmetterlinge geboren. Die erste zwischen Mai und Juni, die zweite zwischen August und September. Die Larven der zweiten Generation sind es, die entweder über die Fruchthaut oder über den verholzten Blütenstand in die Frucht eindringen, sich an Fruchtfleisch und Kerngehäuse laben und naturgemäß alles zukoten. Das Schmetterlingsweibchen legt ab Juli die dreißig bis sechzig Eier dieser zweiten Generation genau auf den unreifen Äpfeln ab. Nach sieben bis 15 Tagen schlüpfen die Raupen. Überwinternde Raupen sind ein wichtiges Nahrungsmittel für unsere Singvögel, die wir so lieben, wie etwa die Blaumeise.
Der Apfel, in den der kleine Junge gebissen hatte, stammte wohl von einem der Apfelbäume in Rheinbreitbach und ganz sicher nicht aus der intensiven Landwirtschaft. In Äpfeln aus dem Handel findet man die Raupe des Apfelwicklers praktisch nie, denn man rückt dem vermeintlichen Schadorganismus mit verschiedenen Methoden zu Leibe. Im biologischen Anbau kämpft der auf Äpfel spezialisierte Bauer mithilfe von Viren oder dem Einsatz von Fressfeinden, wie etwa dem Ohrenkneifer, verschiedenen Wanzen oder Schlupfwespen gegen die Schmetterlingsraupen. Auch die Verwirrmethode kommt zum Einsatz, wenn etwa massenhaft künstliche Sexuallockstoffe, also Pheromone, versprüht werden. Die sehr artenspezifisch einsetzbare Methode hat den Effekt, dass die Schmetterlingsmännchen, die mit Schmetterlingen im Bauch auf der Suche nach paarungsbereiten Weibchen sind, vor lauter Wohlgerüchen so verwirrt sind, dass sie die Angebeteten einfach nicht mehr finden können.
Konventionell, also mit gefährlichen Giften wirtschaftende Apfelbauern, entledigen sich der Raupen mit Larviziden wie Fenoxycarb, Methoxyfenozid oder Tebufenozid, die alle gemeinsam haben, dass sie die Häutung der Raupen stören und gefährlich für unsere Gewässer sind. Der Gebrauch von Fenoxycarb und Methoxyfenozid ist in Deutschland nicht zulässig, was aber natürlich nicht heißt, dass die Gifte nicht bei uns hergestellt werden dürfen. Nach Export und Anwendung im Ausland finden sie – wie so viele andere Gifte – durch importiertes Obst ihren Weg zu uns zurück.
Die konventionelle Landwirtschaft hat den Apfelwickler zum Schädling erklärt. Für Chemiekonzerne wie Bayer-Monsanto, BASF oder Syngenta hingegen ist er ein absoluter Nützling, weil er Garant für den Absatz ihrer chemischen Produkte ist. Was mir bei dem kleinen Knirps so viel Respekt einflößt, ist seine enorme Widerstandsfähigkeit gegen die chemische Keule, die seit Jahrzehnten gegen ihn geschwungen wird. Selbst Biowaffen hält er tapfer stand.
Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass es möglich ist, unsere Feindschaft mit diesem faszinierenden Insekt in eine Freundschaft umzumünzen. Auf den ersten Blick klingt das wie eine verrückte Idee. Dennoch müsste man sich keine Sorgen über Kundenschwund vor den Supermarktregalen machen, wenn dort angeekelt Äpfel voller Schmetterlingsraupen entdeckt würden. Aber der Reihe nach: Zuerst einmal muss man sich klarmachen, dass der Apfel das angestammte Biotop der Raupe des Apfelwicklers ist. Da wir es zusätzlich mit einer heimischen Tierart zu tun haben, sollten wir dem Schmetterling ein Recht auf diesen Lebensraum zugestehen. Sodann müssen wir uns fragen, wie er in die angestrebte Wiederherstellung der Artenvielfalt hineinpasst.
Generell werden Äpfel in drei Anbauformen kultiviert: Zum einen wäre da die Apfelplantage, zum anderen der private Garten und zum Schluss die Streuobstwiese. Auf der Plantage wird, wie oben beschrieben, rigoros gegen den Apfelwickler vorgegangen. Selbst manche Hobbygärtner spritzen ihre Äpfel, beziehungsweise greifen sie zu Mitteln der biologischen Schädlingsbekämpfung. Andere lassen der Natur ihren Lauf. Auf der Streuobstwiese, mit ihren alten, großen Bäumen lässt man in der Regel den lieben Gott einen guten Mann sein und unternimmt gar nichts gegen die Schmetterlinge, außer vielleicht ein paar Meisenkästen aufzuhängen.
Je industrieller Äpfel heute kultiviert werden, desto geringer ist auch die Artenvielfalt: Auf der Apfelplantage ist sie sehr gering. Im Hauptanbauland China gibt es Gegenden, in denen Insekten ausgerottet sind und künstlich mit der Hand für Bestäubung gesorgt werden muss. Die Plantage ist eine Monokultur und als solche sehr empfindlich. Da macht man als Apfelbauer gern alles unschädlich, was nicht Apfelbaum ist. Wildkräuter, die mit den Bäumen um Nahrung konkurrieren, werden genauso ausgemerzt wie apfelliebende Insekten oder Mäuse, die an den Wurzeln nagen.
Der Hausgarten ist da als Lebensraum schon wesentlich interessanter. Er ist kleinstrukturiert, und da jeder etwas anders gärtnert als der Nachbar gibt es eine große Vielfalt an Lebewesen. Als das Eldorado der Artenvielfalt gilt hingegen die Streuobstwiese. Hier tummeln sich Apfelwickler mit Steinkäuzchen, Baumschläfern, Hummeln und grasendem glücklichen Vieh. Auf Streuobstwiesen wird im Unterschied zu Kleingärten oder Plantagen auf den Hochstamm oder Halbstamm gesetzt. Im Erwerbsobstbau werden die Apfelbäume als Busch gehalten, der an Spalieren wächst. So lässt es sich leichter ernten und spritzen.
Den Unterschied zwischen den verschiedenen Wuchsformen macht die Wurzelunterlage. Der Busch wächst auf der sogenannten M9, die bereits 1917 in der englischen East Malling Research Station selektioniert wurde. Sie ist so etwas Ähnliches wie das Hybridhuhn für den Apfelbauern. Bäume, die auf diesem Wurzelstock wachsen, sind schwachwüchsig, sehr ertragreich, aber auch sehr empfindlich und müssen ein Leben lang mit einem Stock gestützt werden, sonst fallen sie um. Halbstämme hingegen wachsen auf Unterlagen, wie beispielsweise der M106, die einen mittelstark wachsenden Baum bildet, der schöne Früchte hat und gleichzeitig stabil ist.
Beim Hochstamm wird der Edelreis einer meist altbewährten Apfelsorte auf eine Sämlingsunterlage gepfropft. Man geht also hin, sät einen Apfelsamen aus, lässt ihn keimen und einen Schoss bilden, den man vor der Veredelung abschneidet. Auf die so gewonnene Wurzel pfropft der Baumschuler robuste, altbewährte Sorten, die oft nur regional verbreitet sind, wie etwa den Tulpenapfel. Sodann erzieht man das