Timm Koch

Lasst uns Paradiese pflanzen!


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vor 1960 konnten Hühner profitabel gehalten werden, schließlich waren auch damals schon Profis am Werk. Allerdings wurde im Gegensatz zu heute die Hühnerhaltung, inklusive Hühnermast und Hühnerzucht, ganzheitlich gedacht. Man vermehrte Hühner, indem man Hennen, sobald sie in Brutlaune kamen (der Fachmann nennt es »Glucken«), ihre Eier ausbrüten und dann ihre Küken großziehen ließ. So wie es ihrer Natur entsprach. Niemand wäre auf die Idee gekommen, eine gute Legehenne nur deshalb zu schlachten, weil sie in die Mauser kam. Mit frischem Federkleid ging das Eierlegen ja munter weiter. Dieses Wirtschaften funktionierte gut, weil man eben nicht spezialisiert war. Die Hühnerhaltung war nur ein Standbein von vielen, die das komplexe Ökosystem Bauernhof mit all seiner Artenvielfalt und Biodiversität am Laufen hielten. Diese Systeme waren äußerst stabil und funktionierten durchgehend seit dem Neolithikum, also der Entstehung von Hirten- und Bauernkulturen vor mehr als 10 000 Jahren. Sie werden von vielen als einer der wichtigsten Faktoren für menschlichen Fortschritt und Entwicklung gesehen.

      Blickt man hingegen heute, also Anfang der 2020er-Jahre auf den Zustand unserer landwirtschaftlichen Betriebe, so kann man sagen, dass sie äußerst instabile Systeme geworden sind. Der BÖLW (Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e. V.) hat errechnet, dass seit 2005 in Deutschland im Schnitt jede Stunde ein Hof stirbt. Richtig los ging das große Sterben bei uns Anfang der 1970er-Jahre, also rund zehn Jahre, nachdem das erste Hybridhuhn aus seinem Ei schlüpfte. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde im März 1957 – also etwa drei Jahre vor diesem Ereignis – unter anderem mit dem Ziel gegründet, die Industrialisierung der Landwirtschaft in den Mitgliedsstaaten voranzutreiben.

      Die entscheidende Waffe zur Zerschlagung der bis dahin so stabilen bäuerlichen Strukturen war die Marktmanipulation mithilfe von Agrarsubventionen. Wirtschaftlichkeit stand bei der Produktion von nun an nicht mehr im Vordergrund, Hauptsache, der Umsatz konnte gesteigert werden. Letzteres hat leider so gut funktioniert, dass die Menschheit heute ein massives Problem mit der Überproduktion von Lebensmitteln hat und unvorstellbar gigantische Mengen tagtäglich auf dem Müll landen. Der schmerzliche Witz dabei ist, dass die meisten Bauernhöfe dennoch aus wirtschaftlichen Gründen kaputtgehen. Oft finden sich auch einfach keine Nachkommen für die Übernahme der Betriebe in Familienhand. Der Hof wird dann vom Nachbarn oder einem Heuschreckeninvestor geschluckt. So führt das Dogma von Arbeitsteilung und Spezialisierung letztlich zu immer riesigeren Höfen, welche durch die flächenbezogenen Agrarsubventionen auch noch strukturelle Vorteile gegenüber den kleineren Betrieben genießen. Dennoch geraten auch die Großen oft in eine wirtschaftliche Schieflage, weil sie gezwungen sind, ständig neue Investitionen für weiteres Wachstum zu tätigen – gleichzeitig sind die Erzeugerpreise so niedrig, dass auch die Produktion gigantischer Mengen die Gestehungskosten nicht auffangen kann.

      Obwohl laut Weltagrarbericht noch immer ein Drittel der Menschheit in der Landwirtschaft arbeitet und dieses Drittel zum überwiegenden Teil aus Kleinbauern besteht, geht der Trend eindeutig in Richtung »Wachse oder weiche!«. Nach wie vor führt der Homo industrialis geradezu einen Krieg gegen seine Bauern und Hirten. Besonders krass fand dieser Krieg seinen Ausdruck während der sogenannten Entkulakisierung unter Josef Stalin, die ungefähr im Jahr 1928 losging. In dieser, von vielen heute als Völkermord betrachteten Menschheitstragödie, entledigte man sich der kleinbäuerlichen Strukturen durch Massenerschießungen, Deportationen und Unterbringung in Straflagern, den sogenannten Gulags. Allein in der dadurch ausgelösten Hungersnot kamen mehr als fünf Millionen Menschen um. Mit Kolchosen und Sowchosen entstanden landwirtschaftliche Großbetriebe, die nach dem Ende der Kommandowirtschaft Anfang der 1990er-Jahre ebenfalls wegen Unwirtschaftlichkeit zusammenbrachen.

      Der Megatrend in Richtung immer größerer Gebiete, die industriell bewirtschaftet werden, ist seit etwa 1870, dem Beginn der industriellen Revolution, ungebrochen. Bemerkenswert ist, dass die amerikanischen Megafarmen, die neokolonialistischen Landgrabber in Afrika und die Regenwaldvernichter in Brasilien von heute sich aus ökologischer und ökonomischer Sicht mit »Wachse oder weiche!« dieselbe Zielsetzung gesetzt haben wie einst die Bolschewiken. Am Beispiel der 2016 pleitegegangenen KTG Agrar, Deutschlands bis dato größtem landwirtschaftlichen Konzern, sieht man jedoch, dass die Strategie des Immer-größer-Werdens von dem, was einst das komplexe Ökosystem Bauernhof darstellte, nach wie vor nicht aufgeht. Solange auf Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen den Betrieben gesetzt wird, wird sich daran auch nichts ändern. Spezialisierung bedeutet im Pflanzenbau zum Beispiel, dass ein Bauer nur noch Getreide und Mais anbaut, um nur noch eine Tierart, sagen wir Schweineferkel aufzuziehen. Die werden von einem Zuchtbetrieb geliefert, der die Muttertiere in stählernen Kastenständen hält. Ein weiterer, ebenfalls hochspezialisierter Zulieferer bringt Soja von den abgeholzten Regenwaldflächen Südamerikas. Als Totschlagargument für diese Verarmung einer einstmals bunten Produktpalette der Bauernhöfe wird unausweichlich die Wirtschaftlichkeit angeführt. Ganz gleich, ob der betroffene Bauer, der Politiker oder der Agrarökonom spricht: Stets heißt es, landwirtschaftliche Betriebe stünden unter internationalem Konkurrenzdruck und müssten wirtschaftlich arbeiten. Dabei ist aber genau diese Wirtschaftlichkeit selten gegeben. Agrarökonomen sprechen hier von einem Phänomen, das sich »Landwirtschaftliche Tretmühle« nennt. Professor Harald von Witzke von der Humboldt-Universität zu Berlin, definiert sie so:

      »Die Weltlandwirtschaft hat … immer mehr Nahrungsgüter für immer mehr Menschen zu immer geringeren Preisen und in immer besserer Qualität bereitgestellt. Und daher kommt der Ausdruck Landwirtschaftliche Tretmühle. Die Landwirte sind weltweit immer produktiver geworden. Bildlich gesprochen sind sie immer schneller gelaufen, aber ökonomisch sind sie dann doch nicht vom Fleck gekommen, denn der Einkommenseffekt der Produktivitätssteigerung wurde immer wieder erodiert durch sinkende Preise.«1

      Ob die Qualität der Nahrungsgüter unter den regelmäßigen Pestizidduschen, denen sie in unserer landwirtschaftlichen Realität ausgesetzt sind, wirklich besser geworden ist, wage ich zu bezweifeln. Entscheidend ist aber etwas anderes: Unser gemeinsamer Schatz, die wun­derbare Vielfalt an Tieren und Pflanzen, ist in den Sog dieser »Landwirtschaftlichen Tretmühle« geraten und droht in ihm für immer verlorenzugehen. Die Produktionssteigerung hat auch unter Stalin geklappt. Wirtschaftlich ist die industrialisierte Landwirtschaft trotzdem nie geworden. Daran haben weder die Subventionen der Europäischen Union noch Kommandowirtschaft der Bolschewiken etwas geändert.

      In der Landwirtschaft geht der Trend Richtung großer Konzerne, die immer größere Flächen als Monokulturen bewirtschaften, immer größere Ställe für ihre Hybridsauen und Turbokühe bauen und so weiter. Wir werden die Biodiversität unseres Planeten nur dann erhalten können, wenn wir die Großen mit ins Boot holen. Was wäre also, wenn die sich diversifizieren? Wenn einer der großen Höfe also gleichzeitig Hühner, Schweine, Kühe, Schafe, Ziegen, Obst, Gemüse und Getreide produziert? Wir müssen Wege finden, sie dazu zu bewegen, sich die Biodiversität zunutze zu machen, statt sie mit Gift und Pflug und schwerem Gerät zu bekämpfen. Es gibt agrarische Systeme wie die Feld-Wald-Wirtschaft, oder Waldgärten und die Idee der Permakultur, die seit alters her erprobt und enorm ertragreich sein können. Sie sind unsere einzige Chance, wenn wir die Artenvielfalt retten und wiederherstellen wollen.

      Anfang der 1960er-Jahre rief der amerikanische Agrarökonom Norman Borlaug (1914–2009) die »Grüne Revolution« aus. Unterstützt durch die Rockefeller-Stiftung war es ihm gelungen, einen Weizen zu züchten, der durch seinen kurzen Halm in der Lage ist, eine unnatürlich schwere Ähre zu tragen. Dadurch konnte einerseits die Erntemenge enorm gesteigert werden, und Borlaug ließ sich feiern als den Mann, der Millionen vor dem Hungertod bewahrte. Andererseits waren die neuen Hochleistungszüchtungen auf intensive Düngung angewiesen und waren anfällig für Krankheiten. Mit der »Grünen Revolution« begann die Herrschaft von Kunstdünger und Pestiziden auf unseren Äckern. Heute, sechzig Jahre später, verbreitet sich unter dem Namen Zöliakie eine Weizenunverträglichkeit unter den Menschen, die epidemische Ausmaße angenommen hat. Das Getreide, das die Menschheit in ihrer Entwicklung derart gefördert hat, ist für viele giftig geworden. Nachdem anfangs pauschal das im Getreide vorkommende Gluten hierfür verantwortlich gemacht wurde, ist die Wissenschaft mittlerweile einen Schritt weiter. Das Gluten der neuen Weizenzüchtungen ist anders zusammengesetzt als jenes der althergebrachten Sorten. Zudem spielt die hohe Belastung mit Glyphosat, ohne welches der Turboweizen schlecht zurechtkommt,