wurden natürlich erst recht nicht als Juden gezählt. Ähnlich liegen die Dinge in der Sowjetunion. Hier wurde zwar nach dem Religionsbekenntnis nicht gefragt, dagegen gaben in sehr zahlreichen Fällen mehr Menschen das Jiddische als Muttersprache an, als es angeblich in dem gleichen Zählbezirk Juden gab. Man greift eher zu niedrig als zu hoch, wenn man die tatsächliche Zahl der Juden im weißruthenischen Siedlungsraum mit anderthalb Millionen ansetzt. Diese Juden lebten früher über das ganze Land zerstreut mit besonderer Vorliebe in kleineren Landstädtchen, von denen auch heute noch manche fast rein jüdisch bestimmt sind, da ihre Einwohnerschaft bis zu 80 und 90 v. H. aus Juden besteht. Um die Jahrhundertwende, besonders nach dem Weltkriege aber setzt unter dem Ostjudentum ein Vergroßstädterungs-Prozeß ein, der bis in die letzten Tage anhielt. Mehr als die Hälfte der Juden im weißruthenischen Siedlungsraum lebt zur Zeit bereits in den größeren Städten, in Grodno, Bialystok, Brest, Baranowicze, Pinsk, Mosyr, Gomel, Bobruisk, Mogilew und besonders in Minsk, wo es 1939 unter 238 Tausend Einwohnern 100–120 000 Juden gab.
Die soziologische Struktur im Westen und im Osten des Gebietes ist unter den Juden nicht die gleiche. Gemeinsam ist beiden Gebieten, daß natürlich nur ein geringer Teil der Juden zu den führenden Schichten gezählt werden kann, wenn auch dieser Anteil im Verhältnis zu dem des Gastvolkes ganz außerordentlich hoch ist. Die Mehrzahl der Juden lebt sehr ärmlich und beschäftigt sich mit Klein-und Hausgewerbe und vor allem mit Kleinhandel und mit kleinen Kommissionsgeschäften. Dagegen gibt es unter den armen Juden verhältnismäßig wenig Arbeiter und noch weniger Bauern. Die führenden Schichten des Judentums halten sowohl im ehemals polnischen, als auch im ehemals sowjetischen Teil Weißrutheniens zunächst einmal fast alle Schlüsselstellungen des geistigen und kulturellen Lebens besetzt. Hier wie da waren die Universitäten und Schulen, die Presse und die Theater durchaus jüdisch bestimmt. Unter den Ärzten und Rechtsanwälten bildeten die Juden eine überwältigende Mehrheit. Auf politischem Gebiet dagegen ging der Einfluß der Juden in den ehemals polnischen Gebieten hauptsächlich über ihre sehr starke wirtschaftliche Position.10 Direkten Einfluß auf das politische Leben im ehemaligen Polen nahmen in der Hauptsache nur getarnte Juden und Judenstämmlinge, diese in besonders großer Zahl, da es unter der polnischen Intelligenz außerordentlich viele – polnische und jüdische Schätzungen bewegen sich um 2 Millionen – Judenmischlinge aller Grade gibt. In der Sowjetunion spielte die wirtschaftliche Machtstellung der Juden in ihrer politischen Position eine geringere Rolle, wenn sie es auch da sehr rasch verstanden hatten, in der verstaatlichten Wirtschaft die führenden und wirtschaftlich einträglichsten Posten zu erobern. Ihr Hauptstreben aber ging dahin, im Staatsapparat selbst und in der kommunistischen Partei, besonders in den eigentlichen Machtzentren, dem Zentralkomitee der KP(B)SU und im Politbüro, die entscheidenden Stellungen zu besetzen. Wie schnell und mit welchem Erfolg ihnen dies gelang, beweist die Tatsache, daß die Juden im Durchschnitt der Leninzeit bei einem Anteil von 1,77% der Gesamtbevölkerung in der kommunistischen Partei zu 5,2 %, im Zentralkomitee der Partei zu 25,7 % und im Politbüro zu 36,8% vertreten waren. Am Schluß der Leninzeit betrug ihr Anteil am Politbüro sogar 42,9%. In den Gebieten mit großer Judendichte, also auch in Weißruthenien, erhöhte sich dieser Anteil entsprechend. Auch diese Angaben spiegeln die tatsächlichen Zustände nicht wahrheitsgetreu wieder.
Im russischen Volk waren und sind starke antisemitische Strömungen, wenn zur Zeit auch latent, vorhanden. Wenn in der Sowjetunion Antisemitismus auch unter Todesstrafe gestellt war, so fanden es die Juden darum doch für richtig, sich so weit als möglich zu tarnen. Das häufigste Mittel dazu war die NamensÄnderung, die in der Sowjetunion sehr leicht gemacht ist, da eine Anmeldung vor der zuständigen Verwaltungsstelle genügte. In früheren Jahren wurden diese NamensÄnderungen im Regierungsorgan angezeigt, so daß der Umfang einigermaßen genau abgeschätzt werden kann. In letzter Zeit unterblieben diese Veröffentlichungen; es ist aber sicher, daß die NamensÄnderungen eher zu-als abgenommen haben, da die Juden nach der politischen Krise 1936 und 1937 in der Tarnung so weit gingen, daß sie vielfach die gar zu sichtbaren Posten aufgaben und sich dafür auf die in der Öffentlichkeit weniger hervortretenden und repräsentativen, machtpolitisch aber umso bedeutenderen Stellungen konzentrierten, in denen sich die Einflüsse von Partei und Staat kreuzen. An erster Stelle stehen hier die Politbüros. In der äußeren Haltung der Juden in West-und Ostweißruthenien ist ein grundsätzlicher Unterschied festzustellen gewesen. Während der Jude im ehemaligen Polen offiziell keine Rolle spielte und als Jude keinen besonderen Schutz genoss, fühlte er sich in der Sowjetunion unbedingt als Angehöriger der herrschenden Schicht. Der polnische Jude mußte stets mit judenfeindlichen Kundgebungen der Bevölkerung rechnen; wo er nicht klar in der Überzahl war, hielt er es darum für richtig, zurückhaltend und scheu aufzutreten. Den Sowjetjuden dagegen hatte ein Vierteljahrhundert jüdisch-bolschewistischer Herrschaft dermaßen in seinem Selbstbewußtsein gestärkt, daß er auch noch beim Einzug der deutschen Truppen vielfach nicht nur selbstbewußt, sondern arrogant auftrat. Die von der EGr. B vorgenommenen Judenliquidierungen haben hierin nach außen einen raschen Wandel herbeigeführt. Trotzdem bleibt der Jude in diesem Gebiet ein nicht ungefährliches feindliches Element; auf Grund seiner Erziehung und Tradition ist er durchaus geeignet und in den meisten Fällen wohl auch willens, auch als aktiver Schädling zu wirken.
Eine Lösung der Judenfrage während des Krieges erscheint in diesem Raum undurchführbar, da sie bei der übergroßen Zahl der Juden nur durch Aussiedlung erreicht werden kann. Um aber für die nächste Zeit eine tragbare Basis zu schaffen, sind von der EGr. B überall, wo sie bisher ihre Arbeit aufnahm, folgende Maßnahmen getroffen worden: In jeder Stadt wurde ein kommissarischer Vorsitzender eingesetzt und mit der Bildung eines kommissarischen Judenrates aus drei bis zehn Personen beauftragt. Der Judenrat trägt geschlossen die Verantwortung für die Haltung der jüdischen Bevölkerung. Außerdem mußte er unverzüglich mit der Registrierung der in dem gegebenen Ort wohnhaften Juden beginnen. Darüber hinaus hat der Judenrat Arbeitsgruppen aus sämtlichen männlichen Juden ins Alter von 15 bis 55 Jahren zusammenzustellen, die Aufräumungsarbeiten und Arbeitsleistungen für deutsche Behörden und Truppen zu verrichten haben. In den gleichen Altersgrenzen sind auch einige weibliche Arbeitsgruppen aufzustellen. Da der deutsche Soldat nicht immer ohne weiteres in der Lage ist, den Juden von der ortsansässigen nichtjüdischen Bevölkerung zu unterscheiden, und es deswegen zu mancherlei Unzuträglichkeiten kam, ist überall angeordnet worden, daß alle männlichen und weiblichen Juden über 10 Jahren sofort auf Brust und Rücken den gelben Judenfleck zu tragen haben. Der Judenrat untersteht den vorläufigen Stadtkommissaren. Die Posten eines Stadtkommissars wurden mit zuverlässigen Weißruthenen besetzt, die die Eins.Kdos. ausgesucht und vorgeschlagen haben. Als vordringliche und angesichts der großen Zahl der Juden besonders schwierige Aufgabe erscheint ihr Unterbringen im Ghetto. Die Durchführung dieser Aufgabe ist im Gange, überall sind bereits geeignete Stadtbezirke im Zusammenwirken mit den Feld-und Ortskommandanten ausgesucht worden. Zusammenfassend ist festzustellen: Im weißruthenischen Siedlungsgebiet leben mindestens anderthalb Millionen Juden; ihre soziologische Struktur ist in den ehemals polnischen und den ehemals sowjetischen Teilen uneinheitlich. Zur Lösung der Judenfrage sind Sofortmaßnahmen getroffen worden, indem Judenräte eingesetzt, alle Juden über 10 Jahre gekennzeichnet, Arbeitskolonnen sämtlicher Juden von 15 bis 55 Jahren aufgestellt und die Ghettobildung weitgehend vorbereitet und zum Teil bereits durchgeführt wurden.
Aus:BAB, R 58/215
1 Keine Erwähnung findet hier Himmlers Aufenthalt in Lemberg am 21.7.1941, bei dem er mit dem Berück Süd konferierte u. wahrscheinlich auch die EG z.b.V. besuchte; Das Diensttagebuch Heinrich Himmlers 1941/42, S. 186.
2 Der Ukrainische Nationalausschuß – auch als Senioren-oder Ältestenrat bezeichnet – war in Lemberg kurz vor der Verhaftung Stezkos gegründet worden u. wurde von deutscher Seite als gesellschaftliche Repräsentanz der Ukrainer bis zum Febr. 1942 toleriert. Politisch stand ihm der frühere Parlamentarier Kost Levytsky vor, dem als geistlicher Würdenträger Szepticky beigegeben war. Danach wurde das galizische Komitee als regionaler Ableger dem Ukrainischen Zentralkomitee in Krakau unterstellt, während es im RKU aus taktischen Erwägungen zwar bei einer geduldeten regionalen Vertretung in Wolhynien blieb, die Existenz des Seniorenrates jedoch unterbunden wurde; Wolodymyr Kosak: The Third Reich and the Ukraine, New York u.a. 1993, S. 159ff.
3 Zu diesem Zeitpunkt wurde Stahleckers Verbleib an der