Tilo K. Sandner

Dracheneid


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Grenzgänger typisch war, war es dem Elfen nicht anzumerken, ob er diesen Auftrag gerne ausführte oder nicht.

      Der Lorhdrache jedoch nahm diese Einladung zu einer Flugvorführung der besonderen Art sehr gerne an und verlegte kurzerhand die Sitzung des Rates auf den Pass hoch oben über der Drachenschule.

      Etwas enttäuscht ging wenig später Torgorix schweigend neben Zaralljah die vielen Gänge zum Pass hinauf, denn insgeheim hätte er dieses Manöver nur zu gerne selbst vorgeführt.

      „Mach dir nichts draus, mein junger Freund. Ich möchte lediglich vermeiden, dass irgendjemand hier darüber lacht, wenn deine Landung nicht hundertprozentig klappen sollte“, tröstete sie ihn ungewohnt liebevoll.

      ***

      Bereits am Vortag, nach einem ausgiebigen Tagesmarsch mitten durch die Baumwandler hindurch, waren Knut von Tronte, Erik, die beiden Zwerge Kronglogg und Rognagg, der Elf Trulljah und der Hengst Antha, der diese Gruppe insgeheim anführte, im Dorf inmitten des Elfenwaldes angekommen. Die Gruppe, die unterschiedlicher kaum hätte sein können, erreichte ihr Ziel, kurz nachdem die orange schimmernde Sonnenscheibe über den verschneiten Wipfeln des östlichen Nasli Karillh untergegangen war.

      „Ich heiße euch herzlich in Karsarillhmeg willkommen. Fühlt euch wohl und seid zum Abendbrot meine Gäste“, wurden sie vom Waldelfenkönig Erithjull begrüßt, der bereits einen Tag vor ihnen die Drachenschule verlassen hatte und daher schon früher angekommen war.

      „Was ist denn das für ein Name?“, fragte Erik neugierig.

      „Karsarillh bedeutet in deiner Sprache so viel wie Wurzel und Meg heißt Ort. Zusammengesetzt ist das hier also der Wurzelort, was im übertragenen Sinne bedeutet, dass an diesem Ort jeder zu sich selbst finden soll“, antwortete Trulljah.

      „Tatsächlich gibt es noch eine andere Erklärung für diesen Namen. Der Überlieferung nach schlug zu einer Zeit, als es weder Menschen noch Zwerge, Trolle oder Elfen gab, während eines mächtigen Ungewitters ein gleißender Blitz dort in den Boden ein, wo heute der tiefe Brunnen mitten auf dem Marktplatz steht. Dabei teilte das Himmelsfeuer einen großen Felsen in zwei gleiche Hälften. Aus diesen formte das Schicksal uns Elfen. Somit erhält der Begriff Wurzelort eine noch tiefere Bedeutung“, fügte der König hinzu.

      „Jeder halbwegs gebildete Zwerg weiß, dass wir lange vor den Elfen im Drachenland gelebt haben“, widersprach Rognagg dem König, bevor er von Kronglogg ruppig mit den Worten unterbrochen wurde, dass es nicht angebracht sei, die Worte eines Elfenkönigs anzuzweifeln.

      „Lass ihn bitte seine Meinung frei äußern, mein lieber Freund. Im Nasli Karillh und ganz besonders hier in Karsarillhmeg hat jeder das ungeschriebene Recht, seine Meinung jederzeit frei und ungezwungen zu äußern. Wir wollen auch keinen Anspruch darauf erheben, das erste Volk im Drachenland gewesen zu sein. Ich habe lediglich erzählt, dass die Bedeutung des Namens unseres Ortes seine Wurzeln schon in grauer Vergangenheit hat. Wir können gerne unendlich lange über unsere verschiedenen Völker, unser weites Land, unsere Flüsse, Seen und das Meer, die verschiedenen Pflanzen und Tiere, die Leben spendende Sonne und den nächtlichen Sternenhimmel über uns diskutieren und philosophieren, aber streiten werden wir uns im Elfenwald nicht“, erklärte der König unmissverständlich.

      „So viel Weitsicht und Meinungsfreiheit würden uns Menschen auch gut zu Gesichte stehen und so manchen unnötigen Streit bereits im Keim ersticken“, nickte Adalberts Vater. „Ich selbst nehme mich da auch nicht aus. Auch ich werde hier noch sehr viel lernen müssen“, fügte er nachdenklich hinzu.

      „Dein ehrlicher Wunsch, hier in Karsarillhmeg zu lernen, ist ein schönes Willkommensgeschenk für uns. Darüber wollen wir uns gleich bei unserem Abendmahl ausführlicher unterhalten. Folgt mir bitte.“

      Mit diesen Worten schritt der König allen voran, mit seinem Bruder, dem Hengst Antha, an seiner Seite. Er führte sie zu einem großen Lehmhaus, welches im Inneren mit vielen reichlich gedeckten Tischen, auf denen verlockend duftende Speisen angerichtet waren, zum Verweilen einlud.

      Viel zu rasch verging der gesellige Abend mit dem guten Essen und interessanten Gesprächen, in denen sich alle Anwesenden näherkamen, während sie den melodischen Balladen lauschten, die von drei jungen Elfenmädchen vorgetragen wurden. Eine der Sängerinnen war die hübsche Marilljah. Knut von Tronte ahnte nicht, dass sein Sohn ständig an dieses Mädchen denken musste, besonders, wenn er seinen bestickten Proviantbeutel öffnete, den er von ihr geschenkt bekommen hatte.

       Der weiße Wolf

      Es war nicht Adalberts Drachenhaut, die ihn im Schlaf warnte, sondern sein Instinkt.

      Kurz vor dem Erwachen hatte er einen schrecklichen Albtraum gehabt, in dem er regungslos zusehen musste, wie sein Freund Tork, der große Keiler, von wilden Bestien zerrissen wurde. In diesem Traum röchelte Tork ihm noch im Sterbenskampf zu, dass er ihn jetzt verlassen müsse und er treu seinen Weg Schritt für Schritt weitergehen solle. Da waren noch andere Worte des treuen Keilers, aber sie wurden immer leiser, bis Adalbert das Traumland verließ.

      Bereits im Erwachen spürte Adalbert intuitiv, dass Gefahr drohte. Noch bevor er seine Augen blinzelnd öffnete, hatte er den Griff seines Schwertes Wandrokk fest umschlungen. Als er dann sah, in welchem realen Albtraum er erwachte, gefror ihm das Blut in den Adern.

      Direkt an seinem Fußende stand ein riesiger Wolf zum Sprung bereit, dessen triefende Lefzen schrecklich hochgerissen waren und seine Furcht einflößenden Reißzähne zeigten. Aber es waren nicht diese Zähne, die dem Jungen solche Furcht einflößten, sondern die wässrig blauen, toten Augen der Bestie. Adalbert wusste, dass der pechschwarze Wolf nur auf ein winziges Zucken seines Opfers wartete, um loszuspringen. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass es seinem Freund Jordill noch viel schlimmer erging als ihm selbst. Der Hals des auf dem Boden liegenden Elfen war bereits in dem grässlichen Maul eines weiteren Wolfes gefangen, der böse knurrend nur darauf wartete, dass der Leitwolf das Zeichen zum Todesbiss gab. Adalbert sah, wie dem Elfen, dessen Gesicht sich bereits aus Sauerstoffmangel blau gefärbt hatte, Blut den Hals hinunterlief und grünliche Tränen aus den Augenwinkeln flossen. Adalbert machte sich mehr Sorgen um seinen Freund, als um sich selbst, denn trotz der fast aussichtslosen Situation konnte er noch immer auf ein Wunder hoffen, dem Elfen jedoch war nicht mehr zu helfen. Doch wo war Tork? Sollte sein Albtraum gar keiner gewesen sein und der Keiler war tatsächlich tot?

      Wieder spürte er den stinkenden Atem des Leitwolfes, der durch die Kühle des Morgens kroch. Er schien dort an seinen Füßen noch auf irgendetwas zu warten. Es sollte kein weiterer Atemzug vergehen, bis Adalbert den Grund für sein Zögern erkannte. Drei weitere Wölfe, die er bisher nicht bemerkt hatte, näherten sich vorsichtig und machten sich ebenfalls bereit, gleich über ihn und Jordill herzufallen. Es war zwar ein schwacher Trost, aber Adalbert wusste, dass der Tod sehr schnell kommen würde und sie nicht endlose Qualen würden erleiden müssen.

      In diesem Moment der Verzweiflung schoss plötzlich ein schneeweißer Wolf über ihn hinweg und biss dem grauen Wolf über Jordill in die Schnauze, sodass dieser, vor Schreck und Schmerzen winselnd, seinen tödlichen Biss lockerte. Sofort drehte sich der weiße Wolf dem Leitwolf zu, der sich nun sowohl auf diesen neuen Angreifer als auch auf Adalbert konzentrieren musste. Diese vielleicht einzige Gelegenheit ergriff der Junge, setzte sich ruckartig auf und stieß dem verdutzten Leitwolf seine Klinge Wandrokk tief in die Brust. Obwohl sein Schwert dem Wolf mitten durchs Herz gefahren war, fiel dieser nicht tot zu Boden, sondern bewegte sich zwei, drei Schritte seitwärts von Adalbert weg. Auf diese Weise zog er seinen schwarzen Körper selbst aus der Klinge heraus. Neben ihm formierten sich die vier anderen Wölfe und bildeten eine vernichtende Front gegen den riesigen weißen Wolf. Aber der Retter stellte sich ihnen furchtlos entgegen und wartete todesmutig auf ihren Angriff.

      Doch dieser kam nicht, denn plötzlich schwirrten unzählige Pfeile durch die Luft und bohrten sich in die Körper der dunkelgrauen und pechschwarzen Wölfe. Mit schrecklichem Geheul drehten diese sich plötzlich um, als wenn sie von irgendjemandem ein heimliches Zeichen bekommen hätten, und rannten so schnell,