wo man es geplant hatte, setzte viel Erfahrung voraus.
„Pass auf …“, rief seine Mutter noch ängstlich warnend, aber da war es bereits zu spät. In dem einen Moment noch unmittelbar vor der Landezone zu sein und sich bereits im nächsten Augenblick vier oder fünf Mannslängen darunter zu befinden, verwirrte Torgorix so sehr, dass er unsanft gegen die kalte Felswand prallte, an der es keinen Halt mehr gab. So stürzte er senkrecht in die Tiefe und versuchte verzweifelt, von der tödlichen Wand wegzukommen, um nicht auf dem Felsboden aufzuschlagen. Doch seine besorgte Mutter kam ihm im richtigen Moment zu Hilfe. Sie hatte sofort gemerkt, dass diese Landung nichts werden konnte und sie wusste, wie gefährlich es war, beim Sturz nicht rechtzeitig so weit von dem Gestein wegzukommen, dass man die Flügel ausbreiten konnte, um wieder den nötigen Auftrieb für einen kontrollierten Flug zu erhalten. Also stürzte sie sich ihrem Sohn hinterher und zog ihn mit ihren mächtigen Pranken weit genug weg in Sicherheit.
„Nun flieg mir nach und tu genau, was ich dir vormache!“, rief sie ihm zu.
Seine missglückte Landung hatte dem jungen Drachen sehr deutlich gezeigt, wie unerfahren er tatsächlich noch war und was er noch alles erlernen musste. Seine Flugmanöver, die er mit Jordill einstudiert hatte, kamen ihm jetzt richtig lächerlich vor. Wie sollte er den erfahrenen Drachen etwas von neuen Flugideen erzählen, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, vernünftig in dem riesigen Höhleneingang der Drachenschule zu landen?
Seine Mutter war nur eine knappe Flügelspanne vor ihm und flog die Höhle viel höher an, als er es zuvor getan hatte. Als der Fallwind sie dann erwischte, landete sie perfekt im Eingang der Schule.
„Jetzt bist du dran!“, riss die Stimme seiner Mutter Torgorix aus seinen verzweifelten Gedanken. Er sah nach vorne, dachte noch, dass er doch eigentlich viel zu hoch sei, und stand einen Wimpernschlag später direkt hinter seiner Mutter auf der Landezunge.
„Mach dir nichts draus. Auch ich habe mich schon verschätzt und bin abgestürzt“, hörte er die Stimme von Lady Zaralljah.
Für Torgorix war es schon schlimm genug, dass seine Mutter Zeugin seiner demonstrierten Unfähigkeit geworden war. Warum musste ausgerechnet die von ihm so verehrte Lady Zaralljah ebenfalls sehen, was er am liebsten für immer verschwiegen hätte.
„Du hast dich bestimmt noch nie so blamiert wie ich gerade“, antwortete er niedergeschlagen.
„Da irrst du dich aber gewaltig. Ich gehöre zwar heute zu den besten Fliegern an der Drachenschule, aber das war nicht immer so. Auch ich habe einmal ganz klein und unerfahren angefangen. Mein heutiges Können habe ich im Wesentlichen drei Tatsachen zu verdanken. Zum einen hatte ich schon als Jungdrachin den unbeirrbaren Wunsch, eines Tages zu den besten Fliegern des Drachenlandes zu gehören. Zum anderen war mein geliebter Vater ein unglaublich erfahrener Kampfdrache, der mich schon früh in die Künste des kriegerischen Fliegens einwies. Und schließlich kam noch mein eiserner Wille hinzu. Für mich gab es kein Versagen, ich hätte nie aufgegeben. Wenn ich etwas nicht schaffte, dann übte ich es so lange, bis ich es konnte. Das hat manchmal Ewigkeiten gedauert, aber ich habe nie aufgehört. Ich bin immer einmal mehr in die Luft gestiegen, als ich gelandet bin. Das wurde dann auch zu meinem Lebensmotto. Wenn du hinfällst, musst du nur aufstehen, etwas daraus lernen und es erneut versuchen“, erklärte Zaralljah, die sonst nie so gesprächig war. Ihre Worte schenkten dem jungen Torgorix neuen Mut und er vergaß beinahe seinen verpatzten Anflug.
„Morgen früh werden wir zwei etwas üben gehen. Was hältst du davon?“, fragte sie ihn aufmunternd.
„Das wäre toll!“, strahlte er sie an.
„Danke“, sagte Torgorix’ Mutter leise zu ihr.
„Sehr gerne. Dein Sohn hat viele Talente, die wir unbedingt fördern müssen. In seinem Alter konnte ich noch nicht einmal bis zum nächsten Hügel gleiten und unser Torgo fliegt schon vom Kalten Finger bis hierher“, raunte diese zurück.
***
„Nun bist du an der Reihe, mein junger Flugkünstler Torgorix, uns zu berichten, was bisher geschehen ist“, forderte der weiße Lorhdrache Okoriath den Jungdrachen auf, von der ersten Etappe der Eisgruppe zu erzählen.
Torgorix, der sich bei dieser Anspielung auf sein fliegerisches Können sehr unwohl fühlte, hatte in der vergangenen Nacht nur Zeit für einen kurzen Schlaf gehabt, denn der Drachenrat war gleich am nächsten Morgen einberufen worden. Okoriath, der weise und stets besorgte Anführer des Drachenrates, wollte schnellstmöglich über alle Ereignisse des Drachenlandes, seien sie auch noch so unbedeutend, informiert werden. Die Geschehnisse der vergangenen Tage hatten ihn noch stärker davon überzeugt, dass der bösartige Druide Snordas, der in den dunklen Höhlen des Ostlandes krankhaft nach Rache für seinen Lehrmeister Rettfill strebte, der seinerzeit den Krieg gegen das restliche Drachenland verloren hatte, alle Vorbereitungen für einen bevorstehenden Überfall traf. Die Frage war nur, wann und wo Snordas’ Angriff stattfinden würde und ob er genügend Horden hinter sich hatte, um einen Krieg zu entfesseln.
„Ich weiß gar nicht, wie ich hier vor dem ehrwürdigen Rat sprechen soll“, begann Torgorix zögernd.
„Sprich bitte einfach so, wie es dir in den Sinn kommt, mein junger Secundus. Du brauchst ja schließlich keinen Vortrag über die Geschichte unserer Ahnen zu halten, sondern sollst uns nur von den letzten Tagen berichten, die du mit Adalbert, Jordill und Tork verbracht hast“, versuchte der Lorhdrache dem jungen Drachen die Nervosität zu nehmen.
So berichtete Torgorix von den Wanderungen, von den riesigen Wolfsspuren an ihrem Nachtlager und schließlich von seinen neuen An- und Überflugmanövern bei absoluter Dunkelheit, wobei ihm ein gewisser Stolz anzumerken war. Als er davon erzählte, wurden nicht nur der Lorhdrache und seine Mutter zunehmend aufmerksamer, sondern auch der alte Drachenritter Rostorrh und die anthrazitfarbene Drachenlady Zaralljah. Als erfahrene Kämpfer erkannten beide sofort die strategischen Möglichkeiten, die sich aus diesen Flugbewegungen ergeben könnten.
„Wie bist du denn auf diese grandiose Idee gekommen?“, fragte der mürrische Kämpfer Rostorrh, dessen ganzer Körper von unzähligen Narben übersät war.
„Das war nicht meine Idee. Jungritter Adalbert hat sich das ausgedacht. Er hat mich aufgefordert, mit nächtlichen Flugübungen zu beginnen, damit ich nicht nur bei schönem Wetter fliegen kann. Außerdem hatte er die Idee, wie ich trotz völliger Dunkelheit immer genau meinen Standort und meine Flughöhe erfahren konnte. Ohne Adalbert wäre ich heute bestimmt noch immer der kleine Drache, über den sich alle anderen ständig lustig gemacht haben“, erklärte er.
„Immer wieder schafft es dieser Knabe, mich zu verblüffen“, murmelte Rostorrh vor sich hin und begann, viele Fragen zu den Einzelheiten des Flugmanövers zu stellen. Doch letztendlich kam er zu dem Schluss dass die Idee zwar gut, aber in der Realität nicht umsetzbar sei.
„Warum gibt mein alter Freund Rostorrh der Idee von Adalbert nicht eine Chance? Für mich hört sich der Plan tatsächlich durchführbar an“, fragte Lady Coralljah. Schon früher war ihr aufgefallen, dass der sture Drachenkämpfer dem Jungen nicht so recht zu trauen schien.
„Ich würde mich vielleicht davon überzeugen lassen, wenn es tatsächlich einer von uns schaffen sollte, ohne jegliche Sicht das zu vollbringen, was sich unser schlauer Adalbert mal wieder ausgedacht hat“, antwortete dieser knapp.
„Kann es sein, dass unser geschätzter Rostorrh ein kleines bisschen eifersüchtig auf Adalbert ist?“, frotzelte der Lorhdrache und sprach damit aus, was auch die anderen dachten. Eine Antwort blieb jedoch aus.
„Den Beweis dafür, dass Adalberts Plan tatsächlich funktioniert, kann ich euch gerne vorführen, denn ich bin bereits völlig blind geflogen!“, erklärte Torgorix, um den Ruf seines Freundes zu retten, wozu jedoch nicht der geringste Anlass bestand, da nur Rostorrh an ihm zweifelte. Schnell erklärte er, wie ihm Jordill ein Tuch über die Augen gebunden hatte und ihn dann sicher mit seinen Pfiffen bis zur Landung dirigiert hatte. Die Bauchlandung erwähnte er natürlich nicht.
Zaralljah ließ sich schnell die Bedeutung der verschiedenen Pfiffe erklären und schlug dem Rat dann vor, dieses Manöver vor