Tilo K. Sandner

Dracheneid


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uns hinweggeflogen ist und die Höhe mitgeteilt bekommen hat, seine momentane Flughöhe ganz exakt einzuhalten, bis er wieder bei uns ist, sonst endet seine Runde in einem Fiasko. Natürlich musst du bei der Landung bedenken, dass du nicht genau da landen darfst, wo du den Pfiff gehört hast, sonst sind Jordill und ich platt wie Flundern. Sobald ihr das wirklich könnt und Torgorix es sozusagen im Blindflug schafft, unfallfrei zu landen, könnten wir noch eine Steigerung in euer Training einbauen. Stellt euch vor, Torgorix kennt unsere genaue Position und Höhe und wir könnten ihm, wiederum durch Jordills Pfiffe, anzeigen, in welcher Entfernung von uns sich wie viele Feinde befinden, dann wäre das ein unermesslicher Vorteil für uns, weil ein Überraschungsangriff bei Dunkelheit und aus der Luft möglich wäre.“

      Adalbert war mit seinen Gedanken noch nicht richtig zu Ende gekommen, als Jordill mit dem Drachen bereits die ersten Pfiffe einstudierte. Sie waren so hoch, dass er diese nur mit seinen Drachensinnen vernehmen konnte.

      Dann sagte Jordill: „Ich glaube, dass wir so schnell wie möglich den Drachenrat von deinem hervorragenden Plan unterrichten sollten. Wir könnten durch diese Taktik einen unvorstellbaren Vorteil in der Schlacht gegen Snordas’ Truppen erzielen.“

      „Torgorix, morgen Abend wirst du dem Lorhdrachen Okoriath von unserem neuen Plan berichten“, beschloss Adalbert.

      „Gerne. Ich freue mich schon darauf, die Drachenschule aus der Luft zu sehen und sie wie ein richtiger Drache anzufliegen“, freute sich Torgorix.

      „Du bist ein richtiger Drache, mein Freund Torgo!“, erwiderte Jordill, ehe sie sich zum Aufbruch bereitmachten.

      Während des gesamten Marsches durch das tiefe Tal, welches die südlich liegenden Drachenfelsen von dem nördlichen Eisgebirge trennte, war es Adalbert nahezu unmöglich mit Jordill und Torgorix ein vernünftiges Gespräch zu führen. Beide waren so sehr mit ihren Plänen und Entwürfen beschäftigt, wie sie seine Idee des nächtlichen Fluges in die Tat umsetzen konnten, dass sie Unterbrechungen von ihm nur als störend empfanden. Selbst der Keiler Tork hatte sich von seinem geliebten Jordill getrennt, von dessen Seite er normalerweise nie wich, und gesellte sich zu dem Jungen. Adalbert war über das Verhalten seiner Freunde jedoch keineswegs beleidigt, ganz im Gegenteil, er freute sich darüber, dass er diesen guten Einfall gehabt hatte. Als sie dann aber nach einem stundenlangen Marsch gegen den eisigen Nordwestwind und bei Einbruch der Dämmerung endlich am Fuß des Eisgebirges ankamen, musste er als Leiter der Gruppe ein Machtwort sprechen, denn die beiden wollten sofort mit der Umsetzung ihrer Pläne beginnen.

      „Wir werden zuerst ein vernünftiges Nachtlager zwischen den Bäumen dort drüben im Wald aufbauen, bevor ihr mit euren Nachtflugübungen beginnt. Außerdem werden wir uns ein kleines Grubenfeuer machen, damit ich wieder etwas Leben in meine Gliedmaßen bekomme. Mit ein paar Ästen und etwas Reisig können wir einen halbwegs passablen Blickfang errichten, damit der Schein der Flammen nicht den Wald verlässt. Außerdem habe ich Hunger“, fügte er hinzu.

      „Du solltest dich mehr auf deine Drachenhaut konzentrieren, dann frierst du nicht so“, antwortete ihm Torgorix, der es kaum noch aushalten konnte, endlich wieder zu fliegen und all das zu probieren, was er den ganzen Tag über mit dem Elfen besprochen hatte.

      Adalbert dachte über die Worte des Drachen nach und kam sich etwas lächerlich vor, als er in Gedanken seine Haut bat, ihn zu wärmen. Zum Glück konnte hier keiner seine Gedanken lesen wie der Lorhdrache Okoriath.

      Vertraue deinen Sinnen, vertraue deiner Haut, denn sie wird dich schützen und vor Kälte bewahren, kam prompt eine Reaktion auf seine Gedanken.

      Rorgath, wie geht es dir? Wo kann ich dich denn nur finden?, fragte Adalbert in seinen Gedanken zurück.

       Suche nach einem Felsen, der einem Adlerschnabel gleicht, dort wirst du mich finden. Doch zuvor musst du Murwirtha finden, sonst wird die Reise nicht erfolgreich sein!

      Dann brach der Kontakt wieder ab. Doch Adalbert hatte nun endlich einen Hinweis, wo sich sein Geistdrache befand. Irgendjemand an der Drachenschule oder einer der weisen Elfen würde sicher wissen, wo der seltsame Felsen stand, den Rorgath beschrieben hatte. Adalbert war voller Hoffnung. Und das lag nicht nur daran, dass ihm mit Hilfe der Drachenhaut wohlig warm wurde.

      „Wir brauchen kein Feuer mehr, dank Rorgaths Hilfe ist mir nicht mehr kalt. Stellt euch vor, ich habe gerade von ihm einen Hinweis bekommen, wo er sich befindet. Kennst du einen Felsen, der so ähnlich aussieht wie ein Adlerschnabel?“, fragte er Jordill, der durch die Wettkämpfe der Elfen schon weit im Drachenland herumgekommen war.

      Dieser dachte einige Zeit angestrengt nach, bevor er zu Adalberts großer Enttäuschung erklärte, dass er sich an solch einen Felsen leider nicht erinnern konnte. Doch auch er bestärkte den Jungen in seiner Hoffnung, dass sicherlich eines der weisen Mitglieder des Drachenrates diesen Ort kennen würde.

      „Na los, meine Freunde, Tork und ich möchten gerne sehen, ob eure stundenlangen Gespräche und Planungen auch einen Sinn hatten!“, forderte Adalbert nun den flinken Elfen und den jungen Drachen auf, endlich mit ihren Übungen zu beginnen.

      Tork, der die seltsame Wärme spürte, die von der Haut des Jungen ausging, legte sich mit einem wohligen Grunzen dicht an Adalberts Seite und ließ sich von dem Jungen genüsslich kraulen.

      Mit drei oder vier kräftigen Flügelschlägen stieg Torgorix nahezu senkrecht in den dunklen Himmel empor. Adalbert war überrascht, wie sicher die Bewegungen des Drachen wirkten. Kaum zu glauben, dass Torgorix erst gestern das Fliegen erlernt hatte!

      Mit einer blitzartigen Wendung änderte der blaue Drache geschickt seine Flugrichtung und schoss ganz dicht über ihre Köpfe hinweg, bevor er wieder an Höhe gewann und hinter den Baumwipfeln des Waldes verschwand. Da hörte Adalbert den kurzen Pfiff des Elfen, den er früher mit seinem menschlichen Gehör niemals wahrgenommen hätte.

      Einen winzigen Augenblick später flog der Drache erneut über sie hinweg und wieder hörte Adalbert die Pfiffe des Elfen. Es waren ein langes und drei deutlich kürzere Signale, die dem Drachen mitteilen sollten, dass er dreizehn Jordill-Längen über ihnen gewesen war, als er sie überflogen hatte. Torgorix nickte mit dem Kopf, was wohl darauf hinweisen sollte, dass er die Bedeutung der Pfiffe verstanden hatte, und verschwand erneut hinter dem Wald. Ohne ein neues Signal zu erhalten, war der Drache plötzlich wieder über ihnen, in exakt der gleichen Höhe, wie der lange und die drei kurzen Pfiffe ihm anschließend bestätigten.

      Immer wieder übten die beiden dieses Manöver in unterschiedlichen Höhen, bis der Drache schließlich bei ihnen landete. Zu Adalberts Überraschung war aber nicht eine wohlverdiente Verschnaufpause der Grund für die Landung, sondern die Vorbereitung für eine weitere Übung. Jordill zog aus seiner Tasche ein schalähnliches Tuch hervor und band es dem Drachen vor die Augen.

      „Was soll denn das werden?“, fragte Adalbert etwas beunruhigt.

      „Wenn uns dieses Flugmanöver auch bei größerer Dunkelheit gelingen soll, dann muss ich es ohne Sicht üben“, erklärte Torgorix. „Außerdem kann ich die Augenbinde jederzeit wieder abnehmen, wenn ich mir unsicher bin. Das kann ich dann im Ernstfall nicht. Daher wollen wir es lieber jetzt so lange üben, bis ich es im wahrsten Sinne des Wortes blind beherrsche.“

      „Das leuchtet mir ein, aber bitte sei vorsichtig!“, bat Adalbert schnell, bevor der Drache wieder in die Dunkelheit aufstieg.

      Immer und immer wieder übten der Drache und der Elf diese präzisen Überflüge auf Anweisung, bis sie endlich alle davon überzeugt waren, dass Torgorix die schwierigen Flugmanöver tatsächlich beherrschte. Nun endlich gönnten sie sich auch die nötige Nachtruhe, jedoch nicht, ohne noch weitere Pläne für die nächsten Flugübungen zu schmieden.

      ***

      „Wach auf, mein lieber Freund. Wir haben heute noch einen sehr anstrengenden Tag vor uns“, wurde Adalbert von Jordill geweckt.

      „Wo ist denn Torgorix?“, fragte der Junge müde, nachdem er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte.

      „Er ist schon bei der ersten Morgendämmerung in den Himmel aufgestiegen, um seine neue Freiheit zu