Tilo K. Sandner

Dracheneid


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seit gestern Nachmittag spürte Erik seinen Hintern nicht mehr. Entweder hatte sich sein Allerwertester endlich an die monotonen Auf- und Abbewegungen im Sattel gewöhnt oder er war einfach nur betäubt und das böse Erwachen stand ihm noch bevor. Wie auch immer, im Moment war es ihm so ganz recht.

      Am Vorabend waren sie endlich am westlichen Rand des Nasli Karillhs angekommen. Mächtige Buchen und Eichen, die dicht bei dicht standen, verwehrten den Ankömmlingen jede Sicht in den Wald hinein.

      „Wie sollen wir denn in diesen Wald kommen? Wohin ich auch schaue, es gibt nirgends einen Weg. Da werden wir wohl morgen weiterreiten müssen“, sagte Erik leicht resigniert zu dem mächtigen Ritter neben ihm.

      „Nun stell dich doch nicht immer so an! Du benimmst dich wie ein kleines Kind! Nimm dir doch mal ein Beispiel an meinem Sohn Adalbert. Den hörst du nicht wegen jeder Kleinigkeit rumjammern. Bei all deiner Heulerei kann ich mir gar nicht vorstellen, wie du es geschafft haben sollst, das wertvolle Horn von Fantigorth zu stehlen und damit auch noch die strapaziöse Reise bis ins dunkle Ostland zu unternehmen“, spottete Knut von Tronte.

      „Lass mich doch in Ruhe! Wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre der schwarze Drache Fantigorth gar nicht tot und ich hätte sein Horn nie in die Hand bekommen. Außerdem hast du auch noch den Sohn von Merthurillh ermordet!“, konterte der Junge.

      „Jetzt reicht’s! Runter mit dir vom Pferd, damit ich dir eine Lektion erteilen kann, die du so schnell nicht vergessen wirst. So lasse ich nicht mit mir reden. Schon gar nicht solch einen Dreikäsehoch wie dich!“, brauste der Ritter auf, der an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen worden war.

      „Keiner erhält hier eine Lektion, die mit Gewalt erlernt werden soll!“, mischte sich der Elf Trulljah ein, während der prächtige Hengst Antha sich schnell zwischen die Pferde der beiden Streithähne schob. Diese Worte des Elfen brachten den Ritter zur Vernunft und er entschuldigte sich bei Erik für seine raue Art.

      „Du musst wissen, meine Nerven liegen blank. In wenigen Tagen hat sich mein ganzes Leben nicht nur völlig verändert. Wenn ich richtig darüber nachdenke, habe ich eigentlich noch nie etwas wirklich Sinnvolles für unser Drachenland getan. Ich habe zwar vordergründig den Bauern geholfen, wenn sie ein Drachenproblem hatten, aber dabei habe ich nie meinen Kopf angestrengt und mir Gedanken über diese Wesen gemacht. Welch schlimmes Schicksal habe ich über die armen Eltern des silbernen Drachen Allturith gebracht. Welche Schmerzen habe ich über all die Eltern, Brüder, Schwestern und Kinder gebracht, denen ich in meinem Wahn ein Familienmitglied genommen habe! Mein eigener Sohn hatte mehr Weitsicht als ich und flehte mich an, Merthurillhs Sohn nichts zu tun, aber ich sah nur einen verhassten Drachen, den ich unbedingt töten wollte. Nun stehe ich vor einem Scherbenhaufen, der einmal mein Leben war, und versuche krampfhaft, einen Weg der Tugend zu finden, damit mein Leben nicht völlig umsonst war. Vielleicht kannst du das heute noch nicht verstehen, denn du bist noch sehr jung, Erik, aber dieser Scherbenhaufen lässt sich nicht so leicht zur Seite fegen. Daher möchte ich mich bei dir aufrichtig für meine rauen Worte entschuldigen.“

      „Es tut mir auch leid, was ich gesagt habe. Ich mache oft Blödsinn und sage Dinge, die ich gar nicht so meine oder die mir schon im nächsten Moment leidtun“, nahm Erik die Entschuldigung des mächtigen Mannes an.

      „Irgendwie sind wir zwei uns sogar in gewisser Weise ähnlich. Jeder von uns muss einen neuen Weg finden, um seinem Leben einen vernünftigen Sinn zu geben. Komm, lass uns einander die Hände reichen und den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen.“ Bei diesen Worten streckte Knut von Tronte seine Hand aus, die Erik gerne ergriff.

      Sichtlich erfreut über die Beilegung des Streits, kam Trulljah auf das erste Gesprächsthema der beiden Menschen zurück: „Wir müssen keinen Eingang in den Elfenwald suchen, denn der Weg liegt direkt vor uns.“

      „Ich möchte nicht an deinen scharfen Augen und deinem hellen Verstand zweifeln, aber durch diese dichten Bäume komme ich sicherlich nicht hindurch“, erwiderte der Ritter zweifelnd.

      „Doch, das wirst du. Aber auch dein Sohn Adalbert war sehr überrascht, als er damals sah, wozu der Nasli Karillh mit seinen Baumwandlern in der Lage ist.“

      „Es kommt mir irgendwie nicht richtig vor, wenn ich unseren Wald um Einlass bitte, wo du doch neben mir stehst“, wandte sich der Elf nun an den Hengst, der vor seiner dramatischen Wandlung der jüngere Bruder des Waldelfenkönigs Erithjull gewesen war.

      Antha wieherte bestätigend, warf seinen Kopf nach oben und ließ seine pechschwarze Mähne flattern, bevor er im gestreckten Galopp auf die Bäume zuschoss. Dort stellte er sich auf die Hinterhand und wieherte erneut, wobei seine Vorderhufe wild in die Luft schlugen. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, bis sich die Baumwandler respektvoll vor ihm verneigten und den geheimen Pfad in den seltsamen Elfenwald freigaben.

      Nun war es an dem Ritter Knut von Tronte und an Erik, verdutzt zu staunen, als sie sahen, wie sich diese Bäume bewegten, ohne dass der Wind etwas damit zu tun hatte. Auch Rognagg war erstaunt, während Kronglogg schon oft hier gewesen war.

      „Was für ein Zauber ist das denn?“, staunte Adalberts Vater.

      „In der Zwischenzeit dürftest du erfahren haben, dass es viel mehr in unserem schönen Drachenland gibt, als du es dir je vorzustellen wagtest“, beruhigte ihn der Elf. „Lasst uns nun den Wald betreten und dort übernachten. Ihr werdet sehen, wie sich der Elfenwald hinter uns schließt und dafür sorgt, dass wir ganz unbesorgt die Nacht verbringen können. Sicherlich werden wir bereits erwartet.“

      Trulljah machte sich auf, den beiden Zwergen und dem Hengst zu folgen, die bereits im Wald verschwunden waren. Dann wandte er sich noch einmal um.

      „Nun kommt schon, die Baumwandler werden nicht ewig auf uns warten. Ihr könnt euch auch später im Wald noch genug über sie wundern“, forderte der Elf seine noch immer staunenden Gefährten auf.

      ***

      Es war schon kurz vor Mitternacht, als Torgorix endlich an der Drachenschule ankam. Sicherlich hätte er die Strecke von dort, wo er sich von seinen Weggefährten Adalbert, Jordill und Tork verabschiedet hatte, bis zur Drachenschule wesentlich schneller bewältigen können, aber er genoss jeden einzelnen Augenblick seines herrlichen Fluges. Oft machte er kleine Pausen, um entweder vor Wonne jauchzend in steile Schluchten abzutauchen oder ganz dicht über die rauen Felskämme hinwegzuschießen. Natürlich versuchte er auch ein paar Flugmanöver nachzufliegen, die er oft bei der begnadeten Luftkünstlerin Zaralljah gesehen hatte. Doch dazu bedurfte es unendlich viel Übung und eines angeborenen Flugtalents. Richtig gut zu fliegen war schon eine seltene Gabe, aber in der Luft mit den Wolken so zu spielen, wie es die Kriegerin Zaralljah konnte, war eine Gnade des Schicksals. Bei ihr sah alles so einfach und verspielt aus, aber bereits das einfachste ihrer Flugmanöver nachzufliegen, erschien Torgo fast unmöglich.

      Ganz nebenbei hatte er natürlich auch immer wieder seine Landungen geübt. Er hatte das Gefühl, dass er sich unsterblich blamiert hatte, als er bei seinen Freunden die zwei traurigen Bauchlandungen hingelegt hatte – von den höllischen Schmerzen einmal abgesehen, die er krampfhaft zu verbergen versucht hatte. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Besonders sein Freund Adalbert sollte morgen von einer perfekten Landung überrascht werden, wenn er wieder zu ihnen zurückkam.

      Je später die klirrend kalte Nacht wurde, desto schöner funkelten die unzähligen Sterne am Himmelszelt. Da keine einzige Wolke den Blick auf die Sterne verdeckte, konnte er den Himmel über sich in vollen Zügen genießen. Besonders das Sternbild des Urdrachen Wargos, welches ihn schon seit seiner frühesten Erinnerung fesselte, beglückte seine junge Drachenseele. Wenn er nachts zum Himmel hinaufsah, kam es ihm beinahe so vor, als hörte er den Ruf des mächtigen Wargos, der alle Drachen einmal zu sich in die Sternennacht hinaufrief.

      Als Torgorix sich der Drachenschule näherte, rief ihm schon aus weiter Ferne die wunderschöne Drachenlady Coralljah zu: „Willkommen, mein geliebter Sohn!“

      „Woher wusstest du, dass ich heute komme?“, fragte Torgorix überrascht und setzte zur Landung an. Nun durfte nichts schiefgehen, denn vor seiner Mutter wollte er sich nicht blamieren. Vor lauter Aufregung, endlich das Tor zur Drachenschule so anzufliegen, wie