sie den Zeitpunkt, zu dem aus gelegentlichem Konsum ein Missbrauch und letztlich eine Abhängigkeit wurde, übersehen haben. Wenn man merkt, dass der Alkohol oder andere Substanzen beim Entspannen nach einem langen Arbeitstag helfen, weil das sonst aus lauter Grübelei nicht gelingt, ist man von einem genussvollen Trinken bald bei einer missbräuchlichen Verwendung angekommen, die zumindest ein Alarmsignal auf dem Weg zur Abhängigkeit ist.
SCHÄDLICHER GEBRAUCH
Vom schädlichen Gebrauch, auch als Missbrauch bezeichnet, spricht man, wenn eine Substanz eingenommen wird, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Zumeist handelt es sich dabei um das Ausschalten von negativen Gefühlen wie Angst, Stress, Ärger oder auch Unsicherheit und Langeweile. Dazu kommt, dass beim schädlichen Gebrauch Risiken in Kauf genommen werden, man setzt sich alkoholisiert hinters Steuer oder raucht während der Schwangerschaft. Man trinkt übermäßig viel, obwohl der nächste Tag ein Arbeitstag ist, obwohl man die ersten schädlichen Auswirkungen bemerkt, obwohl man massiv verkatert ist. Dies sind untrügliche Anzeichen, dass man die Kontrolle über den Konsum zunehmend verliert.
Die Weltgesundheitsorganisation definiert den schädlichen Gebrauch als den fortlaufenden Gebrauch einer Substanz, obwohl negative Folgen schon eingetreten, die Kriterien für eine Abhängigkeit jedoch noch nicht erfüllt sind. Diese negativen Folgen können auf einer körperlichen Ebene sein, seien es das Auspumpen des Magens nach einer Überdosis Alkohol oder erste Zellschäden, die der Alkoholkonsum mit sich bringt. Sie können aber auch auf der psychischen Ebene liegen, das Suchtmittel wird immer mehr zur Beseitigung negativer Gefühle oder Zustände gebraucht, von denen man nicht mehr glaubt, sie ohne die Substanz aushalten zu können oder zu wollen. Vermutlich kennt jede*r jemanden im Bekanntenkreis, der meint, ohne zwei oder drei Bier am Abend nicht entspannen zu können, ohne Joint nicht einschlafen zu können oder Alkohol zu brauchen, um in Gesellschaft lockerer zu werden. In einer Welt voller Stress und menschengemachter zivilisatorischer Probleme wird dieser Missbrauch von psychoaktiven Substanzen in Zukunft vermutlich eher ansteigen als sinken. Es geht nicht mehr nur um den reinen Genuss einer Substanz, sondern darum, durch deren Konsum eine bestimmte Wirkung zu erzielen, negative Gefühle zu vermeiden, für den Alltag fit zu sein. Das in den 1960er-Jahren gegen Ängste, Nervosität und Schlafstörungen populäre Valium wurde nicht umsonst von den Rolling Stones als „Mothers little helper“ in ihrem gleichnamigen Song bezeichnet.
Beim regelmäßigen Substanzmissbrauch ist auch merkbar, dass der Reiz, sich Belastungssituationen durch den Konsum von Substanzen zu entziehen, immer größer, der Konsum somit immer häufiger wird. Ist dies der Fall und wird nicht mit entsprechenden Maßnahmen gegengesteuert, führt dies zuerst zur Gewöhnung und später zur Abhängigkeit.
ABHÄNGIGKEIT
Die Grenze zwischen schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit ist fließend und deren Überschreitung für die Betroffenen oft nicht bewusst wahrnehmbar. Nicht selten sprechen Drogenabhängige davon, dass sie lange geglaubt hätten, den Substanzkonsum im Griff zu haben, die Kontrolle über die Art und Häufigkeit der Drogeneinnahme noch bewusst steuern zu können. Der Zeitpunkt, an dem sie sich eingestehen, dass dem nicht so ist, kommt häufig erst viel später, wenn die Abhängigkeit schon ausgeprägt ist.
In den gängigen Diagnosesystemen geht man davon aus, dass sich eine Abhängigkeit auf mehreren Ebenen manifestiert: auf der körperlichen, psychischen und psychosozialen. Zu den wesentlichsten körperlichen Anzeichen einer Abhängigkeitserkrankung zählen Entzugserscheinungen und Toleranzentwicklung. Unter Entzugserscheinungen versteht man Symptome, die nach dem Absetzen einer Substanz auftreten. Das ist dann der Fall, wenn sich der Stoffwechsel an die Substanz gewöhnt hat und das körperliche Gleichgewicht aus der Balance geraten ist. Bei einem einmaligen massiven Konsum von Alkohol signalisiert der „Kater“, dass der Körper Mühe hat, das Gleichgewicht wiederherzustellen, dies gelingt jedoch in der Regel relativ schnell. Hat sich der Körper jedoch an den dauerhaften Konsum gewöhnt, braucht er die Substanz, um dieses neuen Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wird diese nicht zugeführt, signalisieren die Entzugserscheinungen, dass das nun auf die Substanz eingestellte Gleichgewicht außer Balance ist.
Eine weitere körperliche Erscheinungsform der Abhängigkeit ist die sogenannte Toleranzentwicklung, die Gewöhnung an eine Substanz. Beim Alkohol ist das sicherlich vielen bekannt. Personen, die nie trinken, sind bereits nach einem Glas Sekt oder einem Achterl Wein leicht angeheitert, während Menschen, die den Alkoholkonsum gewohnt sind, auch drei große Bier trinken können und noch vollkommen nüchtern wirken. Der Körper gewöhnt sich und braucht immer höhere Dosierungen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Dies geht so weit, dass Alkoholabhängige oft Mengen zu sich nehmen, die ein nicht an diese Dosierungen gewöhnter Mensch nicht überleben würde. Nicht selten begegnet man Patient*innen, denen man es kaum anmerkt, dass sie bereits eine halbe Flasche Wodka und ein paar Bier getrunken haben. Eine Menge, bei der andere Menschen bereits bewusstlos wären. Doch so bedrohlich das klingt, so relativ leicht ist eine körperliche Abhängigkeit zu behandeln. Im Fall der Opiatabhängigkeit ist es möglich, die körperlichen Symptome mit einer entsprechenden Substitutionsbehandlung auszugleichen, damit keine Entzugserscheinungen auftreten. Eine andere Möglichkeit, die beim Alkohol häufig angewendet wird, ist der Entzug, der einige Wochen dauert und mit medikamentöser Unterstützung durchaus gut bewältigbar ist. Beim Entzug von hohen Trinkmengen ist jedoch ein Spitalsaufenthalt mit medizinischer Überwachung unbedingt erforderlich, da dieser zu potenziell lebensbedrohlichen Zuständen führen kann. Beim Opiatentzug ist dies nicht der Fall, wobei auch hier eine medizinische Begleitung die Entgiftung erträglicher macht. Es sind jedoch nicht alle psychoaktiven Substanzen in der Lage, das körperliche Gleichgewicht derart außer Balance zu bringen. Zu den wesentlichsten körperlich abhängig machenden Substanzen zählen Alkohol, Opioide, Benzodiazepine und andere Medikamente. Kokain und Halluzinogene rufen keine körperliche Abhängigkeit hervor, Cannabis nur in einem sehr geringen Ausmaß.
Das weitaus größere Problem ist aber die psychische Abhängigkeit, die sich im Wesentlichen im starken Verlangen nach der Droge manifestiert, in der Fachsprache auch „Craving“ oder „Suchtdruck“ genannt. Dieses starke Verlangen und die damit einhergehende wahrgenommene Unfähigkeit, abstinent zu bleiben, treibt Abhängige an und ist eines der wesentlichsten Motive für einen fortgesetzten Konsum. Die Stärke des Cravings ist diagnostisch schwer festzustellen, da die Beurteilung desselben sehr subjektiv und von außen nicht mit einer Skala messbar ist. Doch genau dieser Suchtdruck und das damit oft verbundene irrationale Handeln ist das, was Außenstehende oft nicht verstehen und nachvollziehen können. Wieso bricht jemand immer wieder seine guten Vorsätze, obwohl er oder sie weiß, dass man damit die Familie verliert, vielleicht wieder ins Gefängnis muss oder den ohnehin schon schwer in Mitleidenschaft gezogenen Körper noch weiter schädigt. Wieso setzt sich jemand über moralische und gesellschaftliche Grenzen hinweg, nur um an sein Suchtmittel zu gelangen. In einer eher rational geprägten Welt wie der unseren ist das für Nichtbetroffene oft schwer zu verstehen, doch genau das macht den psychischen Aspekt der Suchterkrankung aus. Die Unfähigkeit, die vorgenommene Abstinenz auch einzuhalten, die Aufrechterhaltung des Konsums trotz angedrohter oder wahrgenommener negativer Konsequenzen. Gerade bei illegalisierten Substanzen gibt es von Außenstehenden oft wenig Toleranz, etwas, das es bei anderen Suchtmitteln wie Nikotin interessanterweise ja doch gibt. Kaum jemand wird schief angeschaut, wenn er wieder einmal den Silvestervorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören, gebrochen hat, weil er das Craving nicht ausgehalten hat. Menschen, die den x-ten Abnehmversuch trotz der allerbesten Vorsätze wieder einmal nicht durchgehalten haben, erhalten oftmals guten Zuspruch und aufmunternde Worte, Opiatabhängige, die rückfällig werden, sehen sich Vorwürfen der Umgebung gegenüber und fühlen sich schuldig. Der Mechanismus ist derselbe, er ist nur bei legalen Suchtmitteln besser nachvollziehbar, weil wesentlich mehr Menschen Erfahrungen mit Nikotin oder Abnehmversuchen als mit Opiaten haben und sich damit besser in andere hineinfühlen können. Die Gründe für das Scheitern sind oft sehr ähnlich und liegen in der Psyche verankert.
Die Bewältigung dieser psychischen Abhängigkeit ist damit der weit schwierigere Prozess als die körperliche Stabilisierung.