Barbara Gegenhuber

Drogen


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ohne zusätzliche weitere Behandlung wieder rückfällig. Der Gedanke, jemand sei nach einem körperlichen Alkohol- oder Drogenentzug „geheilt“, ist viel zu kurz gegriffen, die schwierige Wegstrecke beginnt erst danach. Die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung kann auch gestellt werden, wenn nur eine psychische Abhängigkeit besteht und keine körperliche.

      Der dritte Aspekt, der eine Abhängigkeit ausmacht, ist die psychosoziale Komponente. Mit anhaltendem Konsum kommt es zu einer deutlichen Vernachlässigung der Interessen, das Leben dreht sich nur noch um Beschaffung und Konsum der Substanz. Für andere Interessen und Tätigkeiten bleibt oft keine Zeit und auch nicht die notwendige Stabilität, um diesen regelmäßig nachzugehen. Damit einhergehend folgt häufig der Wechsel der sozialen Beziehungen, weg von den „gesunden“, unterstützenden Beziehungen, hin zu Kontakten aus der Drogenszene.

      Es sind jedoch nicht alle Abhängigen und alle Verläufe gleich, nicht alle Betroffenen erleben Auswirkungen auf allen drei Ebenen. Um zu einer Diagnose der Erkrankung zu kommen, braucht es ein System, das diese Bündel an Auswirkungen zusammenfasst und die unterschiedlichen Effekte der Substanzen auf die Konsument*innen individuell berücksichtigt. Dies erfolgt für den europäischen Raum in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (International Classification of Diseases – ICD-11), einem von der WHO herausgegebenen Standardwerk zur Diagnose physischer und psychischer Erkrankungen. In der ICD-11 sind alle Erkrankungen mit Diagnoseschlüsseln aufgelistet, vom einfachen Kopfschmerz über die Blinddarmentzündung bis hin zu psychischen Erkrankungen.

      Es werden sechs Kriterien, die bei einer Abhängigkeit auftreten können, definiert. Diagnostiziert wird die Erkrankung, wenn über die letzten zwölf Monate drei oder mehr der folgenden Symptome aufgetreten sind:

      –ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, das Suchtmittel zu konsumieren;

      –verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums des Suchtmittels;

      –körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums;

      –Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Mengen des Suchtmittels erreichten Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich;

      –fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen;

      –anhaltender Substanzgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, psychischer oder sozialer Art).

      Sind weniger als drei dieser Symptome, aber schon Schädigungen durch den Substanzkonsum feststellbar, spricht die WHO von einem schädlichen Gebrauch. Diese Definition beinhaltet lediglich substanzgebundene Süchte, also die Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Opiaten, Kokain etc. Während in der Vorgängerversion, der ICD-10, noch nicht substanzgebundene Süchte, wie das pathologische Spielen oder Verhaltenssüchte, in anderen Kategorien subsummiert wurden, gibt es in der neuen Ausgabe, der ICD-11, nun auch eine eigene Kategorie für die sogenannte Gaming Disorder, die Computerspielsucht, die damit den offiziellen Status als behandlungsbedürftige Erkrankung erhält.

      Auch wenn die Anwendung dieser Klassifikationssysteme in Fachkreisen nicht nur kritiklos gesehen wird, macht die Einordnung der Abhängigkeit als Erkrankung eines deutlich: Abhängigkeit ist keine Willensschwäche, sondern eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, die mit Folgeerscheinungen auf verschiedenen Ebenen einhergeht. Die Verläufe sind zumeist langwierig und der Ausstieg aus der Abhängigkeit ist nicht nur eine Frage des Wollens, sondern benötigt häufig professionelle Unterstützung und Hilfeleistung.

      IRENE

      Solange sich Irene zurückerinnern kann, hatte sie immer Angst vor Menschen. In der Sandkiste spielte sie lieber allein, den Kindergarten mochte sie nicht, Firmunterricht und Tanzschule blieb sie, so gut es ging, fern, weil der Kontakt zu Fremden angstbesetzt und unangenehm war. Generell war sie anderen Menschen gegenüber immer eher misstrauisch und vermied möglichst den Kontakt. Ihr Leben lang versuchte sie stets, alles selbst zu erledigen, bevor sie sich Hilfe von jemand anders holte, sei das im Studium, bei handwerklichen Dingen oder im Haushalt. In der Schule war sie eine Außenseiterin, sie hatte kaum Freundschaften, und wenn doch, dann eher zu den anderen Außenseiter*innen der Klasse, von ihrer besten Freundin wurde sie gemobbt. So war sie stets lieber allein als mit Menschen zusammen, die sie nicht kannte.

      Irene wurde 1960 in Wien geboren und wuchs bei ihren Eltern gemeinsam mit ihrer älteren Schwester auf, ihre zweite Heimat war die Steiermark, wo ihre Eltern ein Haus besaßen. Ihr Vater verstarb relativ früh binnen weniger Monate an einer Krebserkrankung, ihre Schwester zog von zu Hause aus, als sie 21 Jahre alt war, und entwickelte ein Alkoholproblem. Im Alter von 45 Jahren war Irenes Schwester in einem so schlechten Zustand, dass sie Halluzinationen und Wahnvorstellungen hatte, sie war aggressiv und man konnte sie nicht allein lassen, sie war Alkoholikerin. Als Irene dies mitbekam, war es für sie überhaupt nicht vorstellbar, dass sie sich selbst einmal auf dem gleichen Weg befinden würde. Bis heute versteht sie nicht, wie es so weit kommen konnte.

      So lebten Irenes unter Herzproblemen leidende Mutter und sie gemeinsam in einer Eigentumswohnung in Wien. Irene sah es als ihre Aufgabe, sich um die Mutter zu kümmern, mit ein Grund dafür, wieso sie nie aus der elterlichen Wohnung auszog. Es gab auch nie wirklich eine Notwendigkeit, anfänglich war es auch bequem für sie. Nach der Matura begann sie zu studieren und „lebte wie ein junger Hund“, wie sie es bezeichnet. Sie besuchte die Lehrveranstaltungen, die sie interessierten, und lebte von der Waisenrente. Abgeschlossen hat sie die Studien nie, auch weil ihre Angst vor Menschen ihr dies schwer gemacht hatte.

      Alkohol war in ihrer Familie etwas eher Außergewöhnliches, etwas, das es zur Belohnung gab oder wenn Gäste kamen. Ein normaler Umgang, wie er vermutlich in zigtausenden Familien vorkommt. Das erste Mal Alkohol trinken durfte sie mit 15 Jahren, ein Privileg und ein Zeichen dafür, dass sie nun erwachsen wurde. In ihrer Studentenzeit begann sie vermehrt Alkohol zu trinken, anfangs tranken sie und ihre Mutter beim Kochen am Wochenende Kir Royal, zuerst ein Stifterl Sekt gemeinsam, später eine halbe Flasche allein. „Wohlfühltrinken“, wie sie sagt, es schmeckte ihr und machte ein angenehmes Gefühl, doch die Mengen steigerten sich langsam immer weiter.

      Mit 27 Jahren, als die Waisenrente aus war und ihre Studien noch immer nicht fertig, brach sie diese ab und begann im Kundendienst einer Gas- und Heizungsfirma zu arbeiten. Ihre direkte Kollegin war ungut zu ihr, die Bezahlung war auch nicht überragend, aber sie blieb für dreißig Jahre in der Firma. Schließlich kannte sie dort schon alle, sie wusste, wie die Kolleg*innen und Vorgesetzten sind. Dieses Wissen gab ihr Sicherheit, ein Wechsel hätte bedeutet, sich wieder mit neuen Menschen arrangieren und sich einarbeiten zu müssen.

      Irgendwann bemerkte sie, dass es ihr leichter fällt, unter Leuten zu sein, wenn sie getrunken hatte. Firmentreffen waren beschwipst leichter zu ertragen, es fiel ihr leichter, ihre Meinung zu sagen und sich zu behaupten, wenn sie getrunken hatte. Sie begann in der Früh zu trinken, was in der Firma lange nicht auffiel, und wenn, wurde eher hinter ihrem Rücken geredet, als sie direkt darauf anzusprechen. Das sei nur einmal passiert, aber sie hatte eine gute Ausrede parat. Der Alkohol half ihr außerdem, zu Hause mit der Situation umzugehen. Ihre Mutter war vor ihrem Tod pflegebedürftig und Irene die Einzige, die sich um sie kümmerte. Das Trinken war Entlastung und eine gute Möglichkeit, die Probleme – im wahrsten Sinne des Wortes – hinunterzuschlucken. Irgendwann später trank sie, um die Probleme mit dem Trinken nicht wahrhaben zu müssen. Trinken, um zu vergessen, dass sie trinkt.

      Obwohl sie nur zwei Mal im Leben deutlich merkbar betrunken war, trank sie täglich große Mengen, sie war über lange Jahre Spiegeltrinkerin. Ein Blackout hatte sie nie, die Angst, die Kontrolle zu verlieren, etwas, das sie nicht leiden konnte, war zu groß. Sie trank vor der Arbeit Sekt statt Kaffee, spätestens nach dem Mittagessen verspürte sie die ersten Entzugserscheinungen, nach dem Büro trank sie weiter. Sie war immer um Kontrolle