Karl-Heinz Brodbeck

Buddhistische Wirtschaftsethik


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      Die Welt ist auch im ökonomischen Sinn durch die Allgegenwart von Leiden charakterisiert. Daran hat sich in 2.500 Jahren wenig geändert, seitdem der Buddha die einfache Einsicht aussprach, dass das wesentliche Kennzeichen des Lebens das Leiden ist. Ich spreche hier gar nicht von den unsäglichen Leiden durch Naturkatastrophen, Kriege oder tyrannische Regierungen, sondern nur vom wirtschaftlich bedingten Leiden. Ein paar Zahlen10: Man spricht von einer »Fünftel-Gesellschaft«. Das weltweit reichste Fünftel (20 %) der Weltbevölkerung verbraucht 86 % des gesamten privaten Welteinkommens für Konsumzwecke; das ärmste Fünftel konsumiert dagegen nur 1,3%. Genauer aufgeschlüsselt: Das obere Fünftel konsumiert 45% der Weltfleisch- und Fischproduktion, das ärmste Fünftel 5 %; es verbraucht dabei nur 4 % der Weltenergieproduktion, während das obere Fünftel der Konsumenten 58 % der Weltenergie verwendet. Als eine Hauptursache für nahezu alle sozialen, politischen und auch ökologischen Probleme durch Ressourcenverschwendung lässt sich die ungleiche Verteilung der Einkommen identifizieren, die auch in den entwickelten Ländern in den letzten Dekaden teils rapide zugenommen hat.11

      Die Zahl der Hungernden hat 2009 nach Angaben der FAO den höchsten bislang erfassten Wert erreicht: Über eine Milliarde Menschen. Der leichte Rückgang des Hungers nach der Jahrtausendwende wurde durch die horrenden Spekulationen mit Lebensmittelpreisen und durch die Finanz- und Wirtschaftskrise wieder zunichte gemacht.12 80% der weltweit unterernährten Kinder leben in Ländern, in denen gleichzeitig ein Überschuss in der Nahrungsmittelproduktion besteht.13 Die Weltwirtschaft ist also offenkundig bislang nicht in der Lage, die Weltbevölkerung effizient zu ernähren, dies trotz oder wegen der zunehmenden Globalisierung. Stattdessen werden weltweit, allen voran in den USA, immer mehr Mittel für Rüstung und Kriege ausgegeben. Nach Angaben des Forschungsinstituts SIPRI betrugen im Jahr 2009 die weltweiten Rüstungsausgaben trotz Wirtschafts- und Finanzkrise 1,5 Billionen US-Dollar mit einem Anstieg von knapp 50 % seit 2000.

      Zunehmend werden fruchtbare Böden in Wüsten verwandelt. 41 % der Erdoberfläche sind Wüsten. Etwa eine Milliarde Menschen sind von dieser Desertifikation und Bodendegradation bedroht, rund ein Drittel aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen – in Afrika, Asien, Nord- und Südamerika sowie in Südeuropa. Wesentliche Mitursache dieser zunehmenden Desertifikation ist die immer noch fortschreitende Globalisierung; regionale Barrieren werden niedergerissen und die lokalen Kreislaufsysteme geschwächt. Die Folgen sind Nahrungsmangel und Krankheiten.14 Dem steht eine zunehmende Konzentration von Menschen in Städten gegenüber, die durch wachsende Slums immer weniger Lebensqualität bieten.15

      An den wirtschaftlichen Handlungen der Menschen leiden nicht nur andere Menschen; eine große Zahl der übrigen Lebewesen ist vollständig abhängig von menschlichen Begierden und der Blindheit gegenüber dem Leiden dieser Kreaturen. Täglich sterben unzählige Tiere durch ökologischen Raubbau oder durch die industrielle Fleischproduktion. Ein Beispiel aus der Mitte der 1990er Jahre: In 9.000 Betrieben der USA wurden jährlich 4 Milliarden Hühner, 33 Millionen Rinder, 88 Millionen Schweine, 1,5 Millionen Kälber und 5,8 Millionen Schafe geschlachtet und verarbeitet.16 Das Leiden der Menschen und anderer Lebewesen hat also weltweit nicht abgenommen, sondern hat sich seit den Tagen des Buddha weiter differenziert und vervielfältigt.

      Anstatt eines Aufschreis, vorgetragen von Wirtschaftswissenschaftlern, die sich für die Erkenntnis der Ursachen von Armut und Reichtum zuständig erklären, finden wir aber nur wenige Ökonomen, die sich angesichts der globalen Situation veranlasst sehen, ihre Theorien zu überdenken. Mehr noch. Ihr praktisch-politischer Einfluss als Ratgeber ist wesentlich mit verantwortlich für die wachsende globale Destruktion in den ökologischen, sozialen und kulturellen Systemen. Sie erklären sich in ethischen Fragen aus Gründen der vorgeblichen »Wertneutralität« ihrer Wissenschaft für nicht zuständig und treten mit einem tiefen Kotau vor dem Markt zurück. Sogar die Funktion der moralischen Erziehung will man dem Markt übergeben.

      Einige Stimmen hierzu17: Herbert Giersch meint: Das »mobile Kapital erzieht die Wirtschafspolitik zur Verantwortung« – nicht etwa umgekehrt. Und der Nobelpreisträger Gary S. Becker verkündet als seine Hauptsorge: »Die Liebe zur Marktwirtschaft ist abgekühlt.« Vor allem bei Unternehmensberatern ist ein atemberaubender Zynismus zu beobachten. So fertigte z. B. Arthur D. Little International im Auftrag des Tabakkonzerns Philip Morris eine Studie für die tschechische Regierung an, in der festgestellt wurde, dass jeder tote Raucher dem Staat 1.227 Dollar Ersparnis bringt, Rauchen deshalb als besonders förderungswert empfohlen wird. Blindheit gegenüber dem Leiden, Profitgier und Aggression im Wettbewerb beherrschen die wirtschaftliche Praxis: »Konkurrenten – Betrachten Sie sie einfach als Ihre Feinde«, meinen die beiden Unternehmensberater Jack Trout und Steve Rivkin. Die Zeitschrift »Arbeitgeber« betont, einen guten Manager zeichne »Kampfwillen« und »Killerinstinkt« aus. Die Ethik habe keinen Platz im Management; sie sei sogar »ideologieverdächtig«, weiß D. Schneider. H. Maucher, zu der Zeit Vorstandsvorsitzender der Nestlé AG, konnte deshalb zweifellos ideologiefrei feststellen, er könne das »ethische und soziale Gesäusel« nicht mehr hören, wenn es um die Beseitigung von Menschen gehe, die er als »Wohlstandsmüll« bezeichnete. Wirtschaftsethisch wird dies so übersetzt: Die Marktwirtschaft wurde »zur effizientesten (!) Form der Caritas, die die Weltgeschichte (!) bisher gesehen (!) hat«.18 Die »Weltgeschichte« übersieht dabei ungeniert eine Milliarde hungernde, jährlich Millionen verhungernde und 1,2 Milliarde Menschen, die täglich von weniger als einem Dollar ihr Leben fristen – »Wohlstandsmüll«, von dem die moderne Wirtschaftsethik nur eines zu sagen weiß: Pech gehabt, nicht effizient nutzbar. Der Markt geht vor – Punkt.

      Diese Beispiele scheinen auf den ersten Blick Einzelfälle zu sein, die womöglich in polemischer Absicht ausgewählt wurden. Doch das ist nicht der Fall. Bereits diese wenigen (und leider beliebig vermehrbaren) Beispiele bringen sehr deutlich ein Prinzip zum Ausdruck, das die Wirtschaft und die Wissenschaft von der Wirtschaft dominiert. Dieses Prinzip ist die selbstverordnete Blindheit gegen die praktischen Wirkungen des eigenen Denkens – ein Denken, das in seiner wissenschaftlichen Form vorgibt, eine objektive wirtschaftliche Wirklichkeit im fernen Elfenbeinturm der Theorie zu erklären, während man diese Wirklichkeit selbst aktiv als Schreibtischtäter mit hervorbringt. Diese Haltung der vermeintlichen Wertneutralität oder Ideologieferne beruht auf einer Täuschung, der Täuschung des Ego-Prozesses. Dieser Ego-Prozess, der uns in den nächsten Kapiteln ausführlich beschäftigen wird, erscheint in der ökonomischen Wissenschaft unschuldig als bloße methodische »Annahme« (homo oeconomicus). Doch dieser Annahme entspricht eine zynische Praxis, und sie ist das verbreitete Motiv egoistischen Handelns.

      Der Kernsatz des Buddhismus lautet: Das Ego wurzelt in einem grundlegenden Irrtum, einer Täuschung über die Natur des Menschen und der Gesellschaft. Mit der globalen Wirtschaft und der globalen ökologischen Krise ist diese Täuschung wie in einem Hohlspiegel vergrößert erkennbar geworden. Der Zusammenhang zwischen einer falschen Wahrnehmung der Welt und globalem Leiden ist die Grundeinsicht des Buddhismus. Es ist dieser Zusammenhang, der die Formulierung und Anwendung der buddhistischen Wirtschaftsethik wünschenswert macht.

      Die buddhistische Ethik als Selbstbefreiung

      Die buddhistische Wirtschaftsethik unterscheidet sich – bei zahlreichen Berührungspunkten in praktischen Fragen (vgl. Das Verhältnis zu anderen ethischen Systemen, S. 125 ff.) – grundlegend von anderen ethischen Systemen, sofern die Ethik als Teil eines umfassenden Erkenntnisprozesses betrachtet wird. Man könnte sagen, dass der Buddhismus nicht nur in der Ethik einen vernünftigen Kern erblickt, Ethik und Vernunft erweisen sich letztlich als dasselbe. Der »Ort« der Vernunft ist jedoch keine jenseitige Macht, sondern das Individuum: In ihm gründet die Ich-Verblendung, damit auch deren Erkenntnis und schließliche Überwindung.

      Die Ökonomie des 19. und des 20. Jahrhunderts – sowohl die liberale als auch die sozialistische – war gekennzeichnet durch den Gegensatz von Staat und Markt. Die liberale Ethik geht von egoistischen Individuen aus, deren Wettbewerb auf den Märkten zu einem stabilen, sich selbst organisierenden Marktsystem führen soll. F. A. von Hayek hat die These vertreten, dass die »Vernunft des Marktes« jedes einzelne Bewusstsein übersteigt und deshalb der Markt