Karl-Heinz Brodbeck

Buddhistische Wirtschaftsethik


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id="ulink_19b93757-e4f4-5a14-bd5f-5f2330481688">Die zwei Wahrheiten

      Genauer gesagt: Die Dualitäten des Denkens haben im Buddhismus nur eine relative oder eine konventionelle Bedeutung. Man unterscheidet hier zwischen einer relativen und einer endgültigen oder absoluten Wahrheit. »Relativ« ist jede Aussage, die Dualitäten verwendet und daraus eine »Welt« konstruiert. Was immer erkannt wird, worauf immer sich das Handeln der Menschen richtet, es wird schon etwas anderes vorausgesetzt und unterschieden. Es gibt in dieser relativen Welt der Beziehungen keinen Anfang, keinen letzten Grund. Die Welt des Denkens und der Erfahrung ist ein Kreislauf (samsāra), in dem eines vom anderen abhängig ist. Die absolute Wahrheit besteht in der Erkenntnis, dass es in dieser Welt relativer Abhängigkeiten keinen letzten Grund gibt. »Absolut« wird diese Erkenntnis genannt, weil sie die Bedingtheit der relativen Erkenntnisse durchschaut, ohne darin selbst gefesselt zu sein.23

      Daraus ergibt sich für das Denken eine wichtige Konsequenz: Man kann keine Sache, keinen Gegenstand endgültig oder positiv definieren. Gewiss lassen sich in einem konventionellen Sinn Begriffe relativ festlegen. Doch handelt es sich hierbei nicht um Definitionen des Wesens von Dingen. Gleichwohl sind Begriffe nicht bloße Namen (»Nominalismus«), denn auch »Name« ist eine solche Wesensdefinition. Es gilt auch hier der mittlere Weg: Begriffe sind weder durch Wesensdefinitionen festzulegen, noch sind Begriffe bloße Namen. Von allen Erscheinungen, von allen Gedanken lässt sich nur sagen, was sie nicht sind. Damit ist ausgedrückt: Alle Phänomene sind voneinander abhängig. Wenn man deshalb sagen will, was etwas seinem Wesen nach ist, dann kann man dies nur negativ tun: Es lässt sich nur sagen, was etwas nicht ist. Ein Hund ist keine Katze, kein Pferd, aber auch kein Stein und kein Einkommensteuertarif. Was aber ein Hund letztlich, wesentlich oder endgültig ist, das lässt sich nicht sagen.

      Dieses Prinzip wurde von den buddhistischen Philosophen Dignaga und Dharmakirti eingeführt und heißt »Apoha-Prinzip«. Begriffe erfüllen eine konventionelle Funktion, sind eingebettet in das alltägliche Handeln. Deshalb erfolgen Definitionen, sagt Vashubandhu im Abhidharma-Kosa, »nicht durch Selbstnatur oder Wesensbestimmungen, sondern sind Definitionen durch Funktion«.24 Alle Definitionen sind offen. Das Apoha-Prinzip beschreibt sowohl die relative Funktion täuschender Begriffe wie das Prinzip der Kreativität des Denkens25: Wenn es keine endgültigen Definitionen gibt, dann ist die Wirklichkeit dynamisch, und die Begriffe leben und funktionieren mit den menschlichen Handlungen. Die Begriffe stehen weder für ein metaphysisches Sein (Essentialismus), noch sind sie als bloße Namen nichtig und beliebig veränderbar (Nominalismus), weil sie eine konventionelle, soziale Funktion erfüllen.

      Was für die Begriffe und die Erkenntnis zutrifft, gilt für alle Phänomene. Kein Ding ist das, was es ist, aus sich selbst. Jedes Phänomen ist abhängig von anderen Phänomenen. Wenn aber kein Ding aus sich selbst existiert, dann ist es auch nichts für sich selbst. Es hat kein unabhängiges Sein oder Wesen. Im Buddhismus sagt man: Allen Phänomenen (die Philosophen sprechen vom »Seienden«) ist es eigentümlich, nicht aus sich selbst zu existieren; ihnen fehlt die »Selbstnatur« (svabhāva). Oder: Alle Phänomene sind leer an einem isolierten, nur jeweils dem einzelnen Phänomen zukommenden Wesen. Dieses Prinzip heißt »Leerheit« (sūnyatā). Es drückt zwei Gedanken in einem aus: Erstens alle Phänomene sind voneinander abhängig; eben deshalb sind zweitens alle Phänomene leer an einer unabhängigen, getrennten Existenz. Die relative Wahrheit der gegenseitigen Abhängigkeit ist der vorläufige Ausdruck für die endgültige Erkenntnis: Alle Phänomene sind leer.

      Die Leerheit ist aber nun nicht ihrerseits ein negatives Prinzip (»das Nichts«). Der Buddha hat ausdrücklich betont, dass damit kein Nihilismus verbunden und er gerade kein Nihilist sei.26 Leerheit ist kein Nichts.27 Vielmehr ist damit gesagt, dass alle Phänomene in einer und als eine Offenheit existieren, in der nichts endgültig festgelegt, definiert oder fixiert ist. Die Wirklichkeit ist, abendländisch ausgedrückt, nicht ein Sein, sondern ein offener Prozess. In diesem Prozess gibt es Ursache und Wirkung, gegenseitige Abhängigkeit und Dualität in einem relativen oder konventionellen Sinn. Die Wirklichkeit wird allerdings durch die verblendeten Gedanken der Menschen konstruiert. Und deshalb gilt es, die Konstruktion dieser Gedanken zu durchschauen, denn eine auf Irrtümern beruhende Konstruktion oder Auslegung der Welt muss zu leidhaften Konsequenzen führen. Der Buddhismus leugnet also nicht, dass es eine Wirklichkeit gibt. Im Gegenteil. Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, setzt also die relative Beziehung von Ursache und Wirkung voraus. Der Sanskrit-Ausdruck dafür lautet »Karma«.28 Wenn alle Phänomene voneinander abhängig sind, dann bleibt keine Veränderung ohne Wirkung. Das wird im Buddhismus auch »Karmagesetz« genannt. Da dies aber für alle Phänomene gilt, ist das Ganze aller Phänomene unbestimmt, offen, ein Prozess. Die Leerheit ist dynamisch, jenseits von Subjekt und Objekt, sie zeigt sich aber auch in der verdunkelten Perspektive der Subjekt-Objekt-Dualität als Offenheit natürlicher und historischer Entwicklungsprozesse: als Zufall in der Natur oder als Freiheit und Kreativität der Menschen.29

      Die Leerheit hat durchaus eine positive Qualität, denn die gegenseitig abhängigen Phänomene werden – wenn auch vielfach irrtümlich – erkannt. Diese Qualität der Leerheit, die in jedem Menschen angelegt ist, wird auch »Buddhanatur«, »Lichtheit«, oder auch »Achtsamkeit« genannt. Diese Qualität der Leerheit vollständig zu realisieren heißt deshalb auch, ein »Buddha« zu sein oder nirvāna zu erlangen und die absolute Wahrheit zu erkennen. Sie nicht zu erkennen heißt, weiter in die gegenseitig abhängigen Phänomene verstrickt zu bleiben (samsara), heißt, in der relativen Wahrheit verstrickt zu bleiben. Ein illustratives, häufig verwendetes Beispiel in den buddhistischen Lehren ist das Bild von der Schlange und dem Seil30: Verblendet durch das eigene Ich, sieht man eine Schlange, erschrickt und lebt in Angst. Mit dem Blick der Weisheit erkennt man: Es ist nur eine Täuschung. Es war nur ein Seil, das man irrtümlich als Schlange wahrgenommen hat. Die Leerheit ist also nichts Transzendentes hinter den Phänomenen. Jeder Irrtum ist auch in seiner Qualität eine Erkenntnis und hat damit das Potential zur Erkenntnis der Wahrheit.

      Die Leerheit zeigt sich in der gegenseitigen Abhängigkeit für alle Lebewesen – allerdings darin nur negativ. Da nachgerade wir Menschen an einem Ich festhalten, dieses Ich aus höchst vergänglichen Beziehungen immer wieder neu aufbauen, erleben wir uns als abhängig von anderen Phänomenen: vom eigenen Körper, seinen Gefühlen, von äußeren Dingen, anderen Menschen, der Natur usw. Die aus der Perspektive eines Egos falsch aufgefasste Wirklichkeit versucht, in der offenen Weite der Phänomene ein fiktives Zentrum festzuhalten, das nicht festzuhalten ist. Dies nennt man Verblendung im Unterschied zur Erkenntnis dieser Offenheit als positive Qualität (»Erleuchtung«). Und weil wir im Strom der gegenseitig abhängigen Phänomene einen unhaltbaren Punkt festhalten wollen, erleiden wir die Welt. Die verblendete Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit durch das fiktive Zentrum des Egos – das heißt im Buddhismus: »Die Wahrheit vom Leiden«.

      Die empirische Tatsache des Leidens

      »Ursachen für den Tod gibt es viele,

      für das Leben aber nur wenige, und auch diese

      können zur Ursache des Todes werden.«31

      Die Grunderfahrung im Buddhismus ist das Leiden aller Lebewesen. Das Leiden ist keine metaphysische These, sondern eine Erfahrung, die einzige todsichere Erfahrung. Was auch immer jemand an Glück erfahren haben mag in dieser Welt und in seinem Körper: Dieses Glück muss enden, spätestens mit dem Tod, meistens viel früher durch Alter und Krankheit.32 Doch auch in den weniger dramatischen Alltagserfahrungen zeigen sich immer wieder vielfältige Enttäuschungen und geplatzte Hoffnungen – nicht zuletzt in den Crashs und Krisen der Wirtschaft. Dem Wunsch nach dem Erleben von Glück durch günstige Umstände in der Welt steht eine schlichte Erfahrung entgegen: Niemand vermag, verkörpert in der Welt und abhängig von ihr lebend, dauerhaft glücklich zu sein und die Voraussetzungen für sein weltliches Glück festzuhalten. Schon eine Verminderung glücklicher Umstände