Karl-Heinz Brodbeck

Buddhistische Wirtschaftsethik


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nicht funktionieren können und deshalb weitgehend durch staatliche Aufgaben ersetzt werden sollen. Auch die katholische Soziallehre sieht in der staatlichen Ordnung ein höheres Prinzip, das respektiert werden müsse.

      Gemeinsam ist diesen Auffassungen, dass sie entweder dem Markt oder dem Staat eine Vernunft zuschreiben, die prinzipiell die Vernunft der einzelnen Menschen übersteigt, weshalb die Individuen sich in ihrem Verhalten entweder dem Markt oder dem Staat unterzuordnen hätten – auch dann, wenn Millionen Menschen und andere Lebewesen darunter vielfältig leiden. Kommunisten vertrösteten die Menschen (sofern sie ihnen nicht als Klassenfeinden das Lebensrecht absprachen) auf die Zukunft, die das Paradies für die Werktätigen verwirklichen sollte. Aber auch neoliberale Ökonomen lieben es, den Politikern »schmerzhafte Reformen« zu empfehlen, mit dem uneingelösten Versprechen, langfristig werde der Markt seine Segnungen für alle entfalten. Das 20. Jahrhundert lieferte für diese schlechten Apologien des Staates und des Marktes in einem bislang unbekannten Ausmaß Beispiele. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts schien der Glaube an die höhere Macht des Marktes, unbeeindruckt durch vergangene Erfahrungen, wieder einmal einen Sieg davon getragen zu haben. Die dramatischen Wirtschaftskrisen in Asien, Russland und Südamerika und die gegenwärtige globale Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der New Economy und dem allgemeinen Crash an den Märkten nach 2008 sind aber dabei, hier das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen zu lassen.

      Der Liberalismus und der Kommunismus sind formal immer noch ein heimlicher Theismus, ein Glaube an eine Gottheit, wenn sie der staatlich-kollektiven »Vernunft« (verkörpert in der Kommunistischen Partei) oder der »Vernunft« des Marktes eine gottähnliche Autorität zuschreiben. Der Buddhismus formuliert dagegen eine konsequent nicht-theistische Ethik. »Nichttheismus« heißt, dass im Buddhismus weder dem Staat noch dem Markt eine innere, höhere Vernunft eingeräumt wird. Der Buddhismus ist somit mittlerer Weg, der die Extreme vermeidet. Das bedeutet nicht, einen lauwarmen Kompromiss zwischen Staat und Markt zu befürworten, sondern beide Begriffe als täuschende Abstraktionen zu erkennen, denen getrennt vom menschlichen Handeln und Erkennen keine selbständige Existenz zukommt.

      Die buddhistische Wirtschaftsethik lehnt es ab, fiktive Wesenheiten wie »Markt« und »Staat« vorauszusetzen, denen man dienen müsse und die es rechtfertigen würden, unheilvolle Mittel einzusetzen. Der junge Karl Marx hat in diesem Zusammenhang einmal einen urbuddhistischen Satz formuliert: »Aber ein Zweck, der unheiliger Mittel bedarf, ist kein heiliger Zweck.«20 Es gibt keinen Zweck, der unheilvolle Mittel rechtfertigt. Es gibt keinen staatlichen oder wirtschaftlichen »Sachzwang«, der es rechtfertigt, Menschen oder anderen Lebewesen im Namen abstrakter Prinzipien Leid zuzufügen.

      »Sachzwänge«, »objektive Tatsachen« usw. sind in der sozialen Welt, in der menschlichen Gesellschaft, die das Ergebnis von menschlichen Handlungen ist, letztlich Illusionen. Der Grund gesellschaftlicher Strukturen liegt im Handeln, das Handeln wiederum beruht auf einer (teils irrtümlichen) Wahrnehmung der Welt, nicht auf jenseitigen Ordnungsprinzipien. Weil es keine transzendenten Prinzipien gibt, die im Markt oder im Staat wirksam sind, weil also die Welt das Resultat von Handlungen ist, die in einer bestimmten Wahrnehmung der Welt gründen, deshalb kann man die Welt auch verbessern, deshalb kann man das Leiden mindern.

      Dieses Ziel von Reformen, von Verbesserungen der Lebenssituation für Menschen und andere Lebewesen, wird aber nur erreicht, wenn man die Ursachen des Leidens erkennt. Und diese Ursachen gründen im menschlichen Handeln, nicht in einem guten/bösen Markt oder einem guten/bösen Staat. Weder der Markt noch der Staat besitzt eine sittliche Substanz oder ist die Verkörperung einer »sittlichen Idee«. Die Ethik hat damit nur einen einzigen Ort: den Geist jedes Individuums. »Veränderungen des Zustands der Welt beruhen auf individuellem Verhalten«, sagt der Dalai Lama.21

      Das Leiden in der Welt geht nach buddhistischer Auffassung aus einer jeweils individuell reproduzierten Täuschung hervor. Deshalb kann die Welt, können die Menschen verändert werden, weil der Grund des Leidens kognitiv, nicht ontologisch ist. Was wir »Leiden« nennen, ist immer mit einer – wenn auch irrenden – Denkform verbunden. Ein Schmerz ist noch kein Leiden, sondern eine sinnliche Erfahrung. Das erkennt man daran, dass einige Menschen Dinge als unangenehm, abstoßend oder schmerzhaft empfinden, die andere lustvoll genießen können – z. B. das Rauchen, körperliche Exzesse, seltsame Sexualpraktiken, sehr laute Musik oder Motorengeräusche etc. Nicht bestimmte Dinge sind »an sich« die Ursache für Leiden, sondern ihre Wahrnehmung. Und zur Wahrnehmung gehört immer eine Interpretation dessen, was man wahrnimmt. Die Wahrnehmung wiederum ist untrennbar verbunden mit Begriffen – wir nehmen Etwas wahr, interpretieren also (vielfach unbewusst) unsere Erlebnisse. Es ist dieser Denk- und Wahrnehmungsprozess, der als Täuschung die eigentliche Quelle des Leidens darstellt. Doch eben diese Denk- und Wahrnehmungsprozesse sind beeinflussbar. Es sind keine Naturgesetze.

      Die Menschen können sich also selbst verändern. Der Buddhismus ist somit auch als Wirtschaftsethik ein Weg der Selbstbefreiung. Durch ein Vertrauen auf »Mechanismen« gelingen Veränderungen nicht. Die Befreiung vom Leiden nimmt uns weder ein Staat, eine Religion noch der Markt ab. Zur Veränderung der Welt, zur Minderung des Leidens muss man vielmehr die Wahrnehmung und die Erkenntnis verändern. Wer sich lediglich auf eine »höhere Vernunft« des Staates oder des Marktes beruft und zu einem Verzicht von Handlungen, die das Leiden mindern, aufruft, der erliegt nach buddhistischer Auffassung einer schlichten Täuschung. Die buddhistische Wirtschaftsethik ist also vor allem eine Methode der Erkenntnis, die Täuschungen beseitigt und damit die Hoffnung birgt, die unheilvolle Mechanik der Märkte und der politischen Auseinandersetzungen zu verhindern – durch die Vernunft und Erkenntnis möglichst vieler Menschen. Jeder einzelne ist zur Erkenntnis befähigt und deshalb auch der Adressat der buddhistischen Ethik.

      Da moralische Fragen im Buddhismus untrennbar sind von der Erkenntnis, gründet auch die Ethik in der Erkenntnistheorie. Ich möchte deshalb zuerst einige Grundzüge der buddhistischen Philosophie skizzieren, die auch als methodische Prinzipien für ethische Fragestellungen von zentraler Bedeutung sind. Diese Skizze kann nur sehr knapp ausfallen und verzichtet weitgehend auf ausführliche Belege der angeführten Gedanken.22 Was hier zunächst dürr und abstrakt klingen mag, wird sich in den späteren Abschnitten an konkreteren Sachverhalten weiter klären lassen.

      Die buddhistische Philosophie erfüllt zwei Funktionen. Erstens orientiert sie sich überwiegend an einer praktischen Aufgabe: Sie zielt darauf, das Leiden der Lebewesen zu mindern und Wege zu eröffnen, die diesem Ziel dienen. Um dies zu erreichen, versucht die buddhistische Philosophie zweitens die Aussagen über die vom Buddha gewonnene Erkenntnis zu systematisieren, zu vertiefen, zeitgemäß zu adaptieren und strittige Fragen zu klären. In der Sprache der abendländischen Tradition formuliert, ist der Buddhismus also praktische Philosophie. Das schließt metaphysische Fragen nicht aus. Doch alle philosophischen Erörterungen dienen letztlich dazu, Erkenntnisse tatsächlich erfahrbar zu machen und zu praktizieren. Der Buddha drückt das so aus: Wenn jemand von einem vergifteten Pfeil getroffen wird, dann muss man als Erstes den Pfeil herausziehen und nicht umfangreiche Erörterungen über die Natur von Giften und ihre Wirkung auf den Organismus anstellen.

      Die in der abendländischen Tradition gebräuchlichen Dualitäten – ich habe das kurz am Beispiel des Gegensatzes von Markt und Staat diskutiert – haben im Buddhismus nur eine eingeschränkte oder vorläufige Gültigkeit. Der Buddhismus ist eine Denkform des mittleren Weges, der alle Extreme vermeidet. »Mitte« ist hierbei keineswegs so etwas wie Mittelmäßigkeit, die sich ein eindeutiges Urteil nicht auszusprechen wagt. Vielmehr beruht die Grundeinsicht des Buddhismus darauf, dass alle Dualitäten, alle Extreme auf einem Irrtum beruhen. Dualitäten trennen nicht nur Zusammengehöriges, sie isolieren die Extreme und schreiben ihnen ein selbständiges Sein zu. »Mittlerer Weg« ist deshalb kein Weg zwischen extremen Auffassungen, sondern ein praktisch-erkennender Weg, der Extreme vermeidet. Es gibt deshalb im Buddhismus keine der herkömmlichen Trennungen wie die zwischen