einer Location, in der sich gerade über 500 Menschen plus mehrere Dutzend Mitarbeiter aufgehalten hatten, eine wahre Sisyphosarbeit, an deren Ende Hunderte kleiner Plastiktütchen mit Indizien und Spuren befüllt waren. Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, um diese alle auszuwerten.
Fest stand, dass der Fundort der Leiche nicht mit dem Tatort übereinstimmte, das hatte nun auch die Forensik offiziell bestätigt. Das Opfer war vorher ausgeblutet worden, denn man hatte so gut wie keine Blutspuren an der Fundstelle gefunden. Auch die Spürhunde waren am Abend nicht mehr fündig geworden. Auf dem Gelände hatten sie nicht angeschlagen, wohl aber vor einem Lastenaufzug, der in der Nähe der Nebenhalle mündete und von der Rückseite des Gebäudes angefahren werden konnte.
Becker hatte gerade per Mail die Bilder der Überwachungskameras auf dem gesamten Gelände der Völklinger Hütte angefragt, als Veronika den Meetingraum betrat, gefolgt von den Kollegen Max Langner, Sylvia Meyer und Philipp Weissmann. Über ihren Kollegen Schneider, der bei ihrem letzten größeren Einsatz tödlich verwundet worden war, verlor niemand mehr ein Wort. Im Nachgang hatten sie beweisen können, dass er im Dienst des Sokolov-Clans gestanden und für diesen innerhalb der eigenen Reihen spioniert hatte. Spielschulden und Drogenprobleme hatten ihn immer tiefer in den Sumpf gezogen. Becker warf sich bis heute vor, dies nicht früher bemerkt zu haben – schließlich hatte er Schneider seit Jahren gekannt.
Er war froh, dass nun alle wieder beisammen waren, und berichtete von seinen Erkenntnissen, die Veronika ihrerseits auf dem Whiteboard festhielt, welches auf der Längsseite des Besprechungsraums prangte. Langner erzählte von Unstimmigkeiten bei den Listen und dass einige der Besucher über Umwege nach draußen gelangt waren. Ob sie damit der Registrierung oder den langen Warteschlangen hatten entgehen wollen, blieb offen, der Stimmung nach zu urteilen, tippte Langner aber auf die zweite Option.
»Ich gehe davon aus, dass viele gar nicht realisiert haben, was da gerade vorgefallen ist. Jeder wollte so schnell wie möglich raus. Dass es nicht noch zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, ist echt ein Wunder.«
Becker seufzte gedehnt, er wusste, was das bedeutete. Sie würden jeden Einzelnen, der nicht auf einer der beiden Listen stand, anrufen, besuchen oder herzitieren müssen. Und was war mit den Leuten, die schon am Eingang nicht erfasst worden waren? Niemals würden sie eine hundertprozentige Sicherheit haben, wer alles wirklich vor Ort gewesen war.
Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Das Opfer war ja schon eine Weile tot gewesen, bevor es so effektvoll enthüllt worden war.
»Brauchen wir denn wirklich alle Namen? Wenn wir jeden Einzelnen ausfindig machen wollen, dann werden wir ja nie fertig. Alleine die im System zu überprüfen … Und was sollen wir sie fragen? Entschuldigung, haben Sie vielleicht einen Baulöwen umgebracht? Oder gesehen, wer es getan hat?« Er stemmte die Hände in die Hüften.
»Du hast recht, Sven. Vor Ort wird sich keiner die Hände schmutzig gemacht haben, aber wir können nicht ausschließen, dass der Täter nicht noch einmal zurückgekehrt ist, um sich die Wirkung seiner Tat live anzuschauen. Bei der Inszenierung und der religiösen Symbolik spricht das für jemanden, der Aufmerksamkeit will, der vielleicht auch eine Botschaft hat. Dies aber nachzuweisen, wird fast unmöglich sein. Ich denke, wir müssen uns dem Fall über das Opfer nähern. Was wissen wir über Benno Hartmann?«, fragte Veronika in die Runde.
Becker überlegte kurz und stimmte seiner Chefin dann zu. Sie mussten das Pferd von hinten aufsatteln, das Opfer war ihr konkretester Anhaltspunkt. Sie würden herausfinden müssen, wem Hartmann so dermaßen auf die Füße getreten war.
17.
Die Nacht hatte er nur dank der starken Beruhigungsmittel, die Achim immer in seinem kleinen Kosmetiktäschchen bei sich trug, einigermaßen gut verbracht. Auch wenn er sich noch etwas benommen und watteartig im Kopf fühlte und seine Zunge und seine Gedanken schwerfällig waren, kam es ihm erst vor, als wäre gestern nichts geschehen. Doch ein Blick in die Tageszeitung auf dem Frühstückstisch des Hotels holte alle Erinnerungen wieder hoch. Die Polizei hatte noch kein offizielles Statement herausgegeben, aber einige der Menschen vor Ort hatten offensichtlich ein verstärktes Redebedürfnis verspürt und dies gleich an die Presse verteilt. Über die Ausstellung an sich oder gar sein neues Werk wurde kein Wort verloren.
Achim klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern, als könnte er seine Gedanken lesen.
»Du wirst sehen, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist, werden sie deine Werke feiern. Und vielleicht können wir die Tragödie irgendwie für uns nutzen. Ich habe mir die ganze Nacht über eine passende Strategie den Kopf zerbrochen. Lass mich mal machen. Iss du erst einmal etwas, du siehst ziemlich blass aus. Wir müssen gleich zum Polizeipräsidium nach Saarbrücken und unsere Aussage machen. Da solltest du fit sein.«
Paulo nickte stumm und zerknüllte die Zeitungsseite in seiner Hand. Seine Gedanken kreisten immer wieder um diesen Mann, dessen Präsenz so gut in sein Werk gepasst hatte. Wie pervers diese Situation doch war.
»Weißt du, was ich mich frage?«, platzte er plötzlich unvermittelt heraus, sodass seinem Manager fast die mit Butter beschmierte Brötchenhälfte aus der Hand gefallen wäre.
»Ich frage mich, woher jemand wusste, wie und wo man in meiner Installation eine Leiche platzieren konnte. Wir haben doch wirklich versucht, alles geheim zu halten.«
Achim biss in sein Brötchen und nickte kauend. »Hm, da hast du recht. Das ist komisch. Das sollten wir gleich der Polizei mit auf den Weg geben. Die haben da sicher ihre eigenen Theorien.«
Auf dem Weg ins Präsidium hingen beide ihren Gedanken nach. Sie wurden von Veronika Hart und ihrem Kollegen Becker empfangen und in einen der Besprechungsräume geführt. Nachdem man ihnen mit einem entschuldigenden Lächeln zwei dünne Kaffees hingestellt hatte, ging die Befragung los.
Paulo sollte genau rekonstruieren, wann er sich wo wie lange aufgehalten und mit wem er gesprochen hatte. Er war nur noch genervt, denn mit so etwas wie Daten oder Uhrzeiten hielt er sich nicht gerne auf. Sein Körper bestimmte seinen Rhythmus und seine Kreativität, nicht die Uhr.
Zum Glück war Achim nicht nur sein Manager, sondern auch sein minutiöses Gedächtnis, und er übernahm das Frage-und-Antwort-Spiel mit den Polizisten für ihn. Diese notierten alles fleißig. Wie eintönig ihm das Ganze erschien.
Dann kam Achim auf seine Überlegung vom Frühstück zu sprechen. Beide Kommissare wurden hellhörig.
»Wer kannte denn Ihr Kunstwerk vor der Enthüllung? Gab es im Vorfeld schon Begehungen? Bilder im Internet? Haben Sie Ihre Ideen mit anderen geteilt?«, fragte ihn Kommissar Becker.
Was dachten die eigentlich, wie das Kunstgeschäft funktionierte? Dass alles von der Stange kam und man munter mit jedem darüber quatschen konnte?
»Selbstverständlich nicht. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Achim kannte die Grundidee schon von Beginn an, aber die Umsetzung hat er auch erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal gesehen, als er ins Saarland nachgekommen ist.«
»Und wie lange haben Sie daran gearbeitet? Vor Ort, meine ich«, fragte ihn die Kommissarin.
»Ich habe knapp zwei Wochen am Aufbau gesessen, der Raum war abgeschirmt vom Rest der Ausstellungsfläche, wo die anderen Exponate aufgebaut wurden. Die Monate davor habe ich die Bestandteile zusammengetragen, die Pflanzen gezüchtet und am Computer zahllose Skizzen gemacht, bevor ich mit der Konstruktion begonnen habe. Aber nichts davon sollte ins Internet gelangt sein, das wäre ja eine Katastrophe gewesen.«
»Verstehe, ist Ihnen sonst in der Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Wer außer Ihnen hatte denn Zugang?«
»Ich weiß es nicht, wenn ich arbeite, können Sie neben mir jemanden umbringen, ich …« Paulo merkte, dass dies kein passendes Beispiel gewesen war. »Ich meine, ich bekomme nichts um mich herum mit, wenn ich im Aktionsmodus bin. Die Techniker waren da, um die Ausleuchtung und die Kameras anzubringen, aber dazu kann Ihnen vielleicht dieser Obertechniker, wie hieß er noch, dieser Jahnke mehr sagen. Ansonsten habe ich wirklich keine Ahnung, wer da noch bei den Vorbereitungen dabei war. Es gab immer wieder Besucher, aber wer …?«
»Okay,