Hunderte von Varianten verworfen, neue Ideen entwickelt, aber nie gewusst, wie und wann er es anfangen sollte. Dann kam der Moment. Die Einladung ging an seinen Chef, aber es war ein Leichtes für ihn gewesen, sich auf die Gästeliste schreiben zu lassen. Er wusste, dass sein Chef solche Veranstaltungen nicht besonders schätzte, und außerdem würde er zu diesem Termin auf Dienstreise sein. Er hatte sie ihm selbst organisiert.
Dass die Polizei so schnell vor Ort sein würde, hätte er sich denken können. Es stand ja wirklich jeder, der in diesem verdammten Bundesland auch nur das kleinste Pöstchen innehatte, auf dieser Gästeliste. Er musste lächeln. Die Hauptkommissarin Veronika Hart hatte er bisher nur aus Pressemitteilungen gekannt. Auch sie war ganz nah an ihm vorbeigestürmt. Wie sehr er doch diese Inkognitoposition genossen hatte und wie gerne er dem Trubel noch weiter zugesehen hätte. Doch da sich die Halle schnell leerte, musste auch er schauen, dass er Land gewann. Schweren Herzens hatte er sich von seinem Posten entfernt, nicht ohne unauffällig ein letztes Bild mit seinem Handy zu schießen. Dann war er in der Menge untergetaucht und über einen der Personaleingänge zu seinem Auto gelangt. Sich noch einmal in die Schlange zu stellen, um seine Daten abzugeben, hätte er nicht ausgehalten. Zu sehr pochte das Adrenalin in seinem Körper. Er musste sich stark zurückhalten, um nicht laut loszulachen.
Sein erster Coup war geglückt. Nun konnte er mit der Planung für Nummer zwei beginnen.
14.
Veronikas Team kam 25 Minuten später am Tatort an und sie war froh, dass ihre Kollegen sie von den schrägen Mutmaßungen und Small-Talk-Versuchen des Staatsanwalts erlösten. Dafür überhörte sie auch gerne Max Langners schnalzende Bemerkung zu ihrem Outfit. Sie schickte ihn gleich in Richtung Ausgang, wo er sich einen Überblick über die Lage dort verschaffen sollte.
Auch Sven Becker kannte das Opfer. Sie wunderte sich immer wieder, wie viele Kontakte ihr Kollege im Saarland hatte. Durch seinen Handballsport und seine langjährige Erfahrung bei der Kripo in Saarbrücken gab es anscheinend niemanden mehr im ganzen Bundesland, dem er nicht schon einmal begegnet war. Hinzu kam sein unverwüstliches Namensgedächtnis. Er war eine wandelnde Saar-Wikipedia und auch deshalb in ihrem Team unverzichtbar. Die Differenzen, die sie während ihres letzten Falls gehabt hatten, hatten sie zum Glück aus dem Weg geräumt. Nach ihrer Zeit im Krankenhaus hatten sie sich bei einem privaten Treffen ausgesprochen und sie rechnete es Becker hoch an, dass er ihr offen Rede und Antwort gestanden und sich für sein Handeln ehrlich bei ihr entschuldigt hatte. Sie ahnte, dass ihm das nicht leichtgefallen war, weshalb sie es noch mehr zu schätzen wusste. Auch wenn es ihr immer noch schwerfiel, ihn zu duzen.
»Es hat irgendwie was Religiöses, wie er so da kniet«, konstatierte Sven in die schweigende Runde. Das Team der Spurensicherung hatte seine Arbeit aufgenommen und damit begonnen, den Fundort der Leiche akribisch zu fotografieren. Das monotone Klicken des Fotoapparats begleitete Veronikas Überlegungen.
»Auf den ersten Blick haben Sie, ähm, hast du sicher recht. Eine betende Position und selbst die Augen scheinen fixiert worden zu sein, damit sie offen bleiben. Auch die Wunde an der Seite erinnert an die Verletzung von Jesus am Kreuz. Mal abwarten, was unser Gerichtsmediziner Thiel zu dem Ganzen zu sagen hat. Da hier absolut kein Blut zu sehen ist, müssen wir versuchen, den Tatort ausfindig zu machen. Lasst euch Verstärkung von der Hundestaffel schicken. Die sollen schauen, ob irgendwo auf dem Gelände was zu finden ist. Herr Jahnke, wie groß ist das hier denn ungefähr?«
Gerrit Jahnke setzte ein schiefes Lächeln auf.
»Also, wenn wir über das Gelände des Weltkulturerbes reden, dann sind das knapp 7,5 Hektar Grundfläche. Insgesamt umfasst das Hüttenareal aber 260 Hektar, mit unzähligen kleinen und größeren Bauten.«
»Na prima«, seufzte Veronika. »Dann packen wir es an. Sven, übernimmst du die Koordination hier vor Ort? Ich würde mich auf den Weg zu den Angehörigen machen. Herr Klein, da Sie das Opfer persönlich kannten, wollen Sie vielleicht mitkommen? Ach so, und Herr Jahnke. Wäre prima, wenn Sie morgen zu uns aufs Präsidium kommen könnten. Wir bräuchten noch Ihre Aussage. 10.00 Uhr?«
Sebastian Kirschmeier hielt sie auf, als sie sich gerade wegdrehen wollte.
»Frau Hart, hier ist meine Karte. Ich habe Ihnen auch meine private Handynummer draufgeschrieben. Was immer Sie von mir brauchen, melden Sie sich einfach. Finden Sie den Täter.«
Irritiert griff Veronika nach der Visitenkarte, die der Staatsanwalt noch eine Sekunde länger festhielt als nötig, und dankte ihm mit einem kurzen Nicken. Sie musste sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Den Fundort der Leiche hatte sie sich eingeprägt, die Fotos der Spurensicherung würden jedes noch so kleine Detail festhalten. Jetzt galt es, das Opfer kennenzulernen. Wer war dieser Benno Hartmann? Hatte er Feinde gehabt? Und mit wem hatte er sich zuletzt getroffen? Wenn sie dann noch den Tatort fanden, hoffte sie, den Fall schnell lösen zu können. Noch so einen frei herumlaufenden Psychopathen konnte sie aktuell nicht gebrauchen, davon hatte sie in diesem Jahr schon genug erlebt. Sie hoffte immer noch auf einen ruhigen und beschaulichen Jahresausklang.
15.
Das Überbringen von Todesnachrichten gehörte nicht unbedingt zu ihren Stärken. Sie war froh, dass Lothar Klein sie noch zu den Angehörigen von Benno Hartmann begleitet und die Gesprächsführung gleich übernommen hatte. Er kannte Frau Hartmann, die, wie sich herausstellte, dessen dritte Ehefrau war, persönlich und kümmerte sich rührend um sie, während Veronika wie Falschgeld in dem tanzsaalgroßen Wohnzimmer herumstand und dem Muster der Marmorfliesen mit den Augen folgte. Sie war gerade dabei, sich noch einmal die Details zum Leichenfundort ins Gedächtnis zu rufen, als sie eine unvermittelte Berührung zusammenzucken ließ. Eine kleine Hand hatte sich in ihre geschoben und zwei große ozeanblaue Kulleraugen in einem von blonden Locken umrahmten Gesicht schauten sie neugierig an.
»Und wer bist du?«, fragte die helle Kinderstimme flüsternd.
»Oh, ich«, räusperte sich Veronika, um sich schnell wieder zu fangen. »Ich bin Polizistin. Mein Name ist Veronika und wie heißt du?«
»Ich heiße Pauline, aber alle nennen mich Polly. Hat mein Papa etwas Schlimmes gemacht?«
»Wie kommst du denn darauf? Nein, das hat er nicht.«
»Na ja, er hat sich doch immer so viel geärgert«, erwiderte Polly schulterzuckend.
Veronika war in die Knie gegangen, um auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen zu sein. Jetzt überlegte sie fieberhaft, was sie ihr stattdessen als Grund ihres Besuchs nennen konnte. In dem Moment erblickte die Mutter ihre Tochter und rief sie zu sich. Erleichtert warf Veronika ihrem Chef einen Blick zu. Der redete leise auf die beiden ein, während seine Hand leicht auf Frau Hartmanns Unterarm verweilte. Polly schien nicht zu verstehen, was die beiden Erwachsenen ihr sagten, und schaute immer wieder ungläubig zwischen ihnen hin und her, bis sie ihre Hände vors Gesicht schlug und laut zu schluchzen begann.
Klein trat zu Veronika und flüsterte ihr zu:
»Sie können ruhig schon fahren, ich kümmere mich hier um den Rest und lasse mich später von einem Kollegen abholen. Ich denke, das wird hier noch eine Weile dauern. Ich werde Frau Hartmann für morgen ins Präsidium bitten. Heute Abend macht es keinen Sinn, eine Aussage aufzunehmen. Können Sie noch jemanden vom Kriseninterventionsteam herbestellen? Ich denke, Leonie wird Unterstützung brauchen nach dieser Nachricht. Die beiden haben erst vor sechs Monaten geheiratet, die arme Frau. Sie ist erst 32 und schon Witwe. Wie soll sie das bloß schaffen?«
Veronika irritierte der letzte Satz, eine seltsame Mischung aus Empathie und Alte-Männer-Gehabe. Doch sie ließ sich nichts anmerken, verabschiedete sich leise und verschwand lautlos aus dem Haus. Froh, diesen Tag endlich abschließen zu können.
16.
Sven Becker war schon früh im Präsidium und trug die ersten Ergebnisse des letzten Abends und der Nacht zusammen. Da er in Völklingen wohnte, war es von der Hütte bis zu ihm nach Hause nicht mehr weit gewesen, auch wenn sich der Abstecher für die paar Stunden nicht wirklich gelohnt hatte.
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