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Kirche geht ...


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wenn sie geht“ ist weder tautologisch, noch trivial. Er ist nicht tautologisch, weil „gehen“ Unterschiedliches bedeutet. Es ist wie im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Matthäus 25,1–13): Kirche hat eine Zu-Kunft, Gott kommt auf sie zu, wenn sie sich auf den Weg macht. Und der Satz ist nicht trivial, weil der Mainstream anders gepolt ist: 90% der jährlich etwa 4,5 Mrd. Euro an Kirchensteuern werden in die Aufrechterhaltung des Status Quo gesteckt, in der Hoffnung, zu bleiben.

       2. Warum es wichtig ist, dass Kirche jetzt geht

      Die Kirche befindet sich – nicht ohne eigenes Zutun – in einer Situation, die sehr zeitnah entschlossenes Handeln erfordert.

       (1) … um aus dem Funktionsmodus in den Lernmodus zu kommen

      Organisationen sind Systeme, die auf Dauer ausgerichtet sind. Mit ihren Routinen sorgen sie dafür, dass Personen austauschbar bleiben und die Muster der Kommunikation reproduziert werden. In diesem Sinne sind Organisationen immer darauf ausgerichtet, stabil und funktional zu bleiben.

      Zugleich stehen Organisationen mit ihren Umwelten im Austausch von Materie, Energie und Information. Ändern sich die Umwelten, müssen sich Organisationen verändern, indem sie sich mit den Logiken der relevanten Umwelten koppeln. Veränderung (Lernen) ist systemisch gesehen die Bedingung von Stabilität (Funktionalität).

      Die große Herausforderung besteht dabei in der stetig ansteigenden Komplexität und Dynamik gesellschaftlicher Prozesse. Klaus Doppler formuliert das so: „Wir leben quasi in einem permanenten Ausnahmezustand. Das Leben in instabilen, turbulenten, unkalkulierbaren Umwelten ist die Normalität – und zwar aller Voraussicht nach auf Dauer“. In dieser Situation wird Lernen, also Gehen, immer wichtiger, zur Schlüsselkompetenz.

       (2) … um den vorhandenen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum zu nutzen

      Die Kirche existiert seit zweitausend Jahren und hat sich dabei immer wieder grundlegend und umfassend verändert. Heute, unter den Vorzeichen der Postmoderne, tut sie sich damit besonders schwer. Sie hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in ihrem Bemühen, den volkskirchlichen Status Quo zu erhalten, sehenden Auges immer tiefer in eine Sackgasse manövriert.

      Die Folgen sind dramatisch: Die Kirche hat ihre Anschlussfähigkeit an die Menschen von heute weitgehend verloren. Die Auswirkungen sind unübersehbar, eine fortschreitende, generalisierte Dysfunktionalität.

      Tempo und Dynamik der Veränderungen werden bis heute massiv unterschätzt. Mental und organisatorisch auf maximale Stabilität und Funktionalität programmiert, sehen sich die Akteure Umwälzungen gegenüber, die für die Kirche (bei uns) in absehbarer Zeit existenzbedrohend sein werden.

      Noch sind hinreichend personelle, finanzielle und infrastrukturelle Ressourcen vorhanden. Noch gibt es substantielle Gestaltungsspielräume. Es bleibt allerdings nur noch wenig Zeit, bis das System umkippt.

       (3) … um die vorhandene Kluft zur Umwelt nicht zu groß werden zu lassen

      Übergänge in komplexen, dynamischen Systemen verlaufen sprunghaft, insbesondere dann, wenn ihnen eine lange Phase der Stabilität vorausgeht, die Organisation das Lernen verlernt hat, und sich gleichzeitig die Kontextparameter sehr stark und sehr schnell verändern.

      Um lernen zu können, müssen Systeme von bestehenden Routinen abweichen und neue Wege erproben. Nur induktiv (experimentell) über „Versuch und Irrtum“ können innovative Lösungen gefunden werden, Lösungen, die einen Unterschied machen (vgl. Dessoy, Lames 2012). Abweichungen nützen der Organisation zwar auf Dauer, weil dadurch neue Lösungen gefunden werden können, die eine bessere Umweltpassung ermöglichen, wirken jedoch im Alltagsgeschäft zunächst immer als „Störung“ und erzeugen Stress.

      Je größer die Kluft ist, die es zu überbrücken gilt, je größer und grundlegender also der Lernbedarf der Organisation ist, umso mehr muss aufgegeben werden, ohne bereits neue Lösungen gefunden zu haben. Ängste und Widerstände wachsen, der Druck, (kurzfristige) Lösungen nach bewährten Mustern zu generieren, steigt und die Wahrscheinlichkeit einer innovativen Anschlusskommunikation sinkt. Daher ist es so wichtig, dass Kirche jetzt geht. Aber wie?

       3. Wie Kirche gehend gemacht werden kann

      Damit keine Missverständnisse entstehen: Die folgenden Kriterien sagen nichts darüber aus, wie Kirche (operativ) gehen, also Pastoral in veränderter Zeit betrieben werden kann! An dieser Stelle geht es ausschließlich um die Frage, wie Kirche gehend gemacht werden kann, also um die organisatorisch-kulturellen Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, damit Kirche innovativ werden, sich wirksam erneuern und in veränderten gesellschaftlichen Kontexten wirkungsvoll und nachhaltig bewegen kann (vgl. Dessoy 2012 [a]).

       (1) Kriterium 1: Kirchenbild und Offenbarungsverständnis – Umkehr, Macht, Sinn

      Erneuerung setzt die grundlegende Bereitschaft voraus, miteinander zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Der neutestamentliche Begriff dafür ist Umkehr, Metanoia (vgl. Lames 2003). Sie gründet in der Erkenntnis, dass es für uns Menschen keinen unmittelbaren Zugang zu absoluten Wahrheiten und damit auch keine endgültigen Lösungen gibt. Kirche und Offenbarung sind stets geschichtlich und kulturell vermittelt. Aber wie soll das gehen?

      Für den Prozess der Neuformulierung und Validierung ihrer Botschaft und ihres Handelns kennt die Kirche aus ihrer Geschichte zwei Wege, die eng mit dem dazugehörigen Kirchenbild (vgl. LG 4) verknüpft sind: den diskursiven von unten nach oben (man denke an das Apostelkonzil in Apg 15,1–41) und den institutionellen von oben nach unten („Du bist Petrus, der Fels …“, Mt 16,18). Angesichts des fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Krise der Institutionen generell und der Institution Kirche im Besonderen scheint die dialogische Glaubensvergewisserung alternativlos, um den Anschluss nicht schon durch das Verfahren zu verlieren. Die frz. Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger nennt das „gemeinschaftliche Glaubensvalidation“ im Gegensatz zur vorherrschenden „institutionellen Glaubensvalidation“ (Hervieu-Léger 2004, 123 ff.).

      Um in der Terminologie Luhmanns zu bleiben: Kirche kann sich heute für die Validierung und Plausibilisierung ihrer Botschaft und ihres Handelns nicht länger des Kommunikationsmediums der „Macht“ bedienen (vgl. Bucher 2008, 274–291). Sie versucht es bis heute, wie die Entscheidung zur Kirchenzugehörigkeit im Zusammenhang mit der Kirchernsteuer erneut gezeigt hat. Sie hat jedoch das Macht- und Wahrheitsmonopol längst verloren: Es interessiert einfach niemanden mehr! Die einzige Chance, sich in einer pluralen emanzipierten Gesellschaft zu Gehör zu bringen und Anschlusskommunikation wahrscheinlicher zu machen, ist, die Sinnhaftigkeit der Botschaft in heutiger Zeit jenseits abgedroschener Formeln in differenzierter Weise dialogisch zu ermitteln und darzustellen. Dazu müssen die Akteure diese selbst erst wieder neu entdecken, also umkehren, hingehen und lernen. Das setzt Demut voraus.

       (2) Kriterium 2: Reformparadigma – langfristig, offensiv, missionarisch

      Die Kirche denkt in Jahrhunderten. Sie kommt aus einer langen Phase des Überschusses und der Massenproduktion. Auf dieser Folie folgen Kirchenreformen seit den 1980er Jahren einem festen Muster: Für eine schwindende Zahl von Gläubigen soll mit abnehmenden personellen und finanziellen Mitteln das überkommene Portfolio in traditionellen Bezügen möglichst flächendeckend aufrechterhalten werden. Die Reformen sind kurzfristig angelegt, defensiv motiviert und bleiben auf die Binnensicht beschränkt. Tradierte Produkte, nicht Bedürfnisse von Menschen sind das Kriterium. Der Mangel soll durch Zentralisierung, Konzentration und Verdichtung ausgeglichen werden.

      Dieser Reformansatz ist gescheitert. Der Abbruch generalisiert und beschleunigt sich. Die Reformzyklen werden immer kürzer, die Spielräume immer enger.