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eines eigenen Weges.“32

      8.Vollziehen statt überspringen

      Joseph Beuys beschreibt dieses Vollziehen mit seinem erweiterten Kunstbegriff als Freiheit und soziale Verantwortung des Menschen im Projekt der sozialen Plastik. Im Gespräch mit Friedhelm Mennekes erklärt er, warum er sich von der traditionellen Beschäftigung mit der Christusfigur abgewandt hat: „Dieses Anknüpfen an das Traditionelle hat mich nicht befriedigt, ganz besonders nicht im Zusammenhang mit der Idee des Christlichen.“ Diese Versuche „bewirken nichts; sie sind traditionell gebunden, impotent, regressiv.“33 Joseph Beuys betont dagegen die Kraft, „eine stetig anwesende und sich verstörende Gegenwart“34, und ist überzeugt: „Der Mensch in dieser Zeit ist selbstverständlich nicht von Gott verlassen. Und diese schöne These ‚Gott ist tot‘ ist vom Gesichtspunkt materialistischer Weltanschauung und von dem, was der Materialismus über die Menschen hinübergewälzt hat, wohl richtig. Aber gerade in dieser absoluten Abgeschiedenheit – daß er eben tot ist – für diese einfachen instinktiven Kräfte oder Glaubenskräfte, die die Menschen früher hatten, und die erloschen sind, ist dennoch die Kraft nicht tot, sondern lebendiger als je zuvor. […] Nach dieser Zuspitzung des menschlichen Intellektes muß wieder eine Anknüpfung an das Spirituelle gefunden werden, aber jetzt nicht mehr aus tradierter Kraft, sondern aus eigener Kraft, d.h. aus der Kraft des Selbst, des Ich. Während das alte Christentum eine gemütsmäßige Seeleneigenschaft der Menschen war, um über die Glaubenskräfte Verbindung zu bekommen in der empfindenden Seele, ist durch die Abnabelung von dieser Tradition Großartiges geschehen, etwas Positives, ja etwas Christliches, als dem Menschen dadurch gesagt wird: Wenn du einfachhin so glaubst, bist du kein Christ. Du mußt versuchen, ‚exakt‘ zu ‚glauben‘; du mußt erst deinen Glauben verlieren, so wie Christus für einen Augenblick seinen Glauben verloren hat, als er am Kreuz war. Das heißt, der Mensch muß diesen Vorgang der Kreuzigung, der vollen Inkarnation in die Stoffeswelt durch den Materialismus hindurch selbst auch erleiden. Er muß selbst sterben, er muß völlig verlassen sein von Gott, wie Christus damals vom Vater in diesem Mysterium verlassen war. […] In der Tiefe der Nacht, in der Tiefe der Isolation, in der vollständigen Abgeschiedenheit von jedem Spirituellen vollzieht sich ein Mysterium im Menschen, welches in Gang gebracht wird durch die Wissenschaften und nicht durch die tradierten Institutionen des Christentums. [… Gott] ist tot insofern, als er nie mehr von selbst kommt und den Menschen da irgendwie unter die Arme greift. Das tut er nicht. Sondern das ist ja längst im Menschen drin. Der Mensch muß sich gewissermaßen selber mit seinem Gott aufraffen.“35

      Theologie hat die Wahl, sich aufzulösen oder sich aufzuraffen, Gegensätze zu vollziehen mit voller Kraft und vollem Risiko, Wissenschaft als Exposure-Prozess zu gestalten, als Prozess des Sich-Aussetzens und der Annäherung an konkrete Lebenssituationen. Begrifflich und inhaltlich macht die Mischung aus traditionellem Restbestand und akuter Aktualisierung die Brisanz einer Exposure-Wissenschaft aus, macht sie „zum neuen unumgänglichen Denkereignis, das sowohl überraschende Assoziationen auslöst als auch konkretes zeitdiagnostisches Potenzial innehat.“36

      Das Zweite Vatikanische Konzil verpflichtet die Theologie zum radikalen Hinsehen und Mitgehen in die Situationen der Freude und der Trauer der Menschen und setzt Glaubende wie die Theologie selbst damit offensiv und permanent dem Risiko der Transformation aus.37

      Auf Gedeih und Verderb sind Kirche und Theologie den Höhen und Tiefen menschlichen Lebens ausgesetzt, wenn sie ihrem pastoralen und in aller Konsequenz ihrem wissenschaftlichen Auftrag nachkommen wollen. Für den theologischen Vordenker Karl Barth ist Theologie immer eine „eminent kritische38, „d.h. der von ihrem Gegenstand her widerfahrenden Krisis dauernd ausgesetzte, nie entlassene Wissenschaft.“39

      9.Der Verlust der Unschuld

      Entscheidet sich die Theologie für Exposure, gibt es keine Rückkehroder Rückzugsmöglichkeit in gewohnte Leben und Bequemlichkeiten. Radikal, d.h. ohne Distanz und Distanzierbarkeit setzt die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Kirche und Theologie den Krisen des Lebens aus, wenn sie mit ihrem Einleitungssatz das enge Verhältnis des Lebens aller Menschen und des Lebens der Jünger Christi beschreibt. Die damit angesagte Pastoral verlangt eine Theologie, die sich Lebenssituationen so weit aussetzt, dass sie sich selbst, ihre Wissenschaftlichkeit riskiert. Ihre Wissenschaftlichkeit riskieren, heißt, dass sich die Theologie aus den engen, ihr vom Wissenschaftssystem zugestandenen Kategorien von Wissenschaft löst und sich ihrer eigenen wissenschaftlichen Freiheit und Selbstbestimmung gewahr wird, dass der Mut, selbstbewusst aus der Nichtnotwendigkeit Gottes und damit auch der eigenen Nichtnotwendigkeit heraus Wissenschaft zu betreiben als Stachel, Anspruch und permanente Irritation in einem zweck- und ergebnisorientiertem Umfeld, die Angst, im Wissenschaftsbetrieb nicht anerkannt zu sein, überwiegt und sich Theologie im eigenen wissenschaftlichen Treiben durch die Kriterien anderer Wissenschaften nicht einengen und blockieren lässt. Theologie ist Wissenschaft im permanenten Risiko der Krise, der Transformation, der Negierung, ohne Sicherheit, ob und welches Ergebnis erzielt wird. Theologie kann damit nicht objektiv forschen und urteilen, sondern gewinnt aus dem Verlust der Distanz, aus der Schwächung der Position der allein wissenden Expertin, wird zur Mitspielerin, die selbst transformiert. Eine solche Wissenschaft hat den Elfenbeinturm verlassen und kann durchgewalkt von Lebenspraxis wissenschaftliche Kraft entwickeln, neu denken. Voraussetzung ist, dass sie ihre Unantastbarkeit aufgibt und ihre Unschuld verliert. Der Gegensatz von Theorie und Praxis schwindet und damit auch die Rechtfertigungen elitärer Wissenschaftlichkeit, die sich darauf berufen. Grenzziehungen zwischen Realität und wissenschaftlicher Reflexion, Wissen und Nicht-Wissen, ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen werden unscharf, Hierarchien geraten ins Wanken.

      Die Philosophin Gesa Ziemer zeigt diese Prozesse für die Entwicklung einer praktischen Ästhetik auf. „Theoria wird gemeinhin als das rein gedankliche Betrachten, das An- oder Zuschauen, die Schau auf etwas definiert. Gewöhnlich wird der Terminus Theorie in den Gegensatz zur Praxis gestellt […]. Vor allem aber liegt dieser Definition eine klare Trennung zwischen Zuschauenden und den zu betrachtenden Gegenständen zugrunde, welche die Distanz herstellt, die für die Theorie notwendig zu sein scheint. Die Zuschauenden (theoros) widmen sich der Anschauung und erstellen aus eben dieser Schau durch abstrahierende Betrachtungsweisen Systeme wissenschaftlich begründbarer Aussagen, die uns bestimmte Phänomene erklären […]. Derjenige, der den Gegenstand betrachtet, soll Wissen generieren und dieses über seine Gegenstände ausbreiten. Der Zuschauer nimmt mit kühler Distanz die Position des Betrachtenden ein, die ihn dazu ermächtigt, das Systematische, dem Einzelfall selten gerecht werdende, dafür Universale zu erkennen und es in begriffliche Sprache zu verwandeln.“40

      Die Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie konzentriert sich im verletzbarsten Punkt der Theologie – der Praktischen Theologie. Diese Achillesferse birgt zugleich ihre größte Stärke: die Angreifbarkeit, die Verwundbarkeit der Theorie durch die Lebenswelten der Menschen von heute.41 Die Fähigkeit, sich betreffen zu lassen, sich irritieren zu lassen, abduktive Wissenschaft zu sein, weist den Weg für die Theologie insgesamt und die Praktische Theologie im Speziellen, sich als Wissenschaft neu zu erfinden, Praxis und Theorie in ein selbstbewusstes und kontinuierliches Spiel miteinander zu bringen. Analog zur praktischen Ästhetik in der Kunsttheorie verlässt aber auch die Praktische Theologie als Exposure-Wissenschaft den Platz der Zuschauerin. Es bleibt nicht beim theoretischen Schauen auf Situationen, der Blick der Praktischen Theologie wird reflektiert, verändert zurückgeworfen, in ein Wechselspiel hineingezogen. Das Verhältnis zwischen WissenschaftlerInnen und Forschungsgegenstand definiert sich nicht mehr in einer klaren Hierarchie, sondern in der Frage nach der Art und Weise des Involviertseins, des Verhältnisses zwischen ForschungspartnerInnen. Theologische Exposure-Forschung setzt sich der Ungewissheit und Heimatlosigkeit aus, kann sich aussetzen in der Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes, im Wissen um sein Wort als Ereignis der Begegnung voll von Beziehung. In diesem risikoreichen Gegensatzraum, im Moment der Differenz, des Schon und Noch-Nicht kann Theologie im Denken des Glaubens und dessen Geglaubten aus sich herausgehen, sich selbst bestimmen, eigene Wege gehen. Theologie erfindet sich in diesem Exposure-Prozess als Spiel- und Transformationsraum, der aus Annäherung und Unschärfe heraus lebt – im Vollziehen