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Geist & Leben 4/2016


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wird zwischen mir und dir trennen“ (Rut 1,16f.). Als Migrantin in Bethlehem angekommen, lebt Rut zunächst vom Almosen des reichen Bauern Boas, der sie dann jedoch heiratet (nicht ohne dass Naomi das geschickt eingefädelt hätte), und wird so die Urgroßmutter des Königs David. Als Ruts Sohn Oved geboren wird, preisen die Frauen Naomi für ihre Schwiegertochter, „die besser für dich ist als sieben Söhne“ (Rut 4,15). Das Buch Rut setzt sich damit über ein Gebot des Gesetzes hinweg, in dem ausdrücklich verboten wird, dass ein Ammoniter und ein Moabiter in die Gemeinde des Herrn kommen (Dtn 23,4f.). Schrift steht gegen Schrift!

      Die Rabbinen lösten das Problem dadurch, dass sie einfach sagten, das Verbot gelte ja für Moabiter und Ammoniter, nicht aber für Ammoniterinnen und Moabiterinnen. Wir mögen über diese Haarspalterei lachen; sie ist jedoch ernst gemeint und ist ein Beispiel dafür, wie im Rahmen der vorgegebenen Tora ein Freiraum geschaffen wird, um Menschen, die hätten ausgeschlossen bleiben sollen, einen Weg in die Gemeinschaft Israels zu ebnen. Das Buch Rut ist als Ganzes ein Protestbuch gegen eine bestimmte restriktive religiöse Ehegesetzgebung in der Zeit nach der Rückkehr Israels aus dem babylonischen Exil, als es zu Zwangsscheidungen von Mischehen kam (Esr 9–10; Neh 13.23–31). Es sagt: „Göttlicher Segen durch Integration“, statt „Identität durch Abgrenzung“. Heute wird das Buch Rut in der jüdischen Liturgie am Schavuot-Fest gelesen, das auch ein Fest der Konvertiten ist, also der Fremden, die zur Tora hinzutreten.

      Die vierte Frau, die im Stammbaum Jesu genannt wird, ist die Frau des Hetiters Urija, eines kanaanäischen Soldaten im Heer Davids, den David umbringen lässt, um seinen Ehebruch zu legalisieren (2 Sam 11–12); Batseba selber kann Israelitin gewesen sein, aber sie hat sich durch ihre Ehe mit dem Fremden als eine Frau gezeigt, die die Grenzen der Absonderung durchbricht, und die Bibel sagt dazu ja, wenn sie die „von einem Unbeschnittenen Verunreinigte“ (vgl. die Sprache der Brüder Dinas in Gen 34) die Mutter Salomos, des Erbauers des Tempels, werden lässt (1 Sam 11–12).

      Das ist also die Familie Jesu und das sind die Mütter, die im Evangelium Maria zur Seite gestellt werden. Die kleine ledige Mutter aus Nazaret passt plötzlich zu der gefährdeten Tamar. Das Anstößige und Irreguläre ihres Weges verbindet sie mit den vier Ausländerinnen im Stammbaum der Davidsfamilie. Auch das Selbstbewusstsein und die Initiative, mit der alle fünf Frauen in einer Situation der Ohnmacht und Bedrohung ihren Platz ergreifen und behaupten, verbindet sie. Der springende Punkt ist jedoch noch ein anderer: Ist der Messias Jesus, der aus diesem Stammbaum kommt, nur für das erwählte Volk da oder für alle Menschen? Wieder geht es um Ausschluss oder Öffnung, Grenzen und ihre Überwindung. Tamar, Rahab, Rut und Batseba sind mutige Beispiele für die Integration gerade der allerfremdesten Fremden. Wenn Matthäus diese Frauen in den Stammbaum Jesu aufnimmt, legt er am Anfang seines Evangeliums dem Ungeborenen in die Gene, was er am Ende als den Auftrag des Auferstandenen an seine Schüler formulieren wird: „Geht zu allen Völkern“ (Mt 28,19).

      Aktualisierungen würden an dieser Stelle das Thema plakativ moralisieren. Die Herausforderungen stehen jedoch auch unserer Zeit vor Augen und verlangen nach Antworten, sei es in der aktuellen Politik, in sozialen Fragen oder in solchen der Theologie der Religionen. Antworten kommen meist, wenn man das System verlässt oder die Perspektive derer teilt, die außerhalb des Systems stehen. Dazu erzählt die Bibel ihre Geschichten: um unser Denken anzuregen, damit sich unser Handeln verändert. Das sperrige erste Kapitel des Matthäusevangelium möchte genau dazu einladen, indem es die fünf Namen im Stammbaum Jesu nennt: Tamar, Rahab, Rut, Batseba – und Maria.

      Gisbert Greshake | Freiburg i.Br.

      geb. 1933, Priester,

      Prof. em. für Dogmatik

       [email protected]

      Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität

      Zum 100. Todestag von Charles de Foucauld

      Als Charles de Foucauld – der selige Bruder Karl – am 1. Dezember 1916 von aufgehetzten libyschen Senussi, welche in die durch Frankreich kolonialisierten Sahara-Regionen Unruhe zu bringen suchten, erschossen wurde und einsam und verlassen im Sand verblutete, deutete nichts darauf hin, dass er einer der großen Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität sein würde. Erst allmählich erschloss sich das „Neue“ seiner Botschaft; dann aber wurde vieles davon so sehr zum integralen Gehalt kirchlicher Spiritualität, dass heute viele nicht einmal mehr wissen, dass es auf die geistliche Gestalt Foucaulds (mit)zurückgeht. Darum liegt es nahe, zum 100. Todestag einmal eine Reihe von „Innovationen“ zusammenzustellen, die sich auf ihn zurückverfolgen lassen.

      Einheit von Kontemplation und Aktion

      Die Spiritualität der sog. École française, von der das christliche Abendland jahrhundertelang weithin geprägt wurde, war charakterisiert durch den Vorrang von Kontemplation und Anbetung vor aller äußeren Praxis sowie durch das Ideal einer am Individuum orientierten Nachfolge des „verborgenen“ und demütigen Lebens Christi. Genau auf dieser Linie begann auch Bruder Karl seinen eigenen geistlichen Weg. Als er sich 1900 in die nordafrikanische Sahara begab, wollte er in der Abgeschiedenheit und Stille der Wüste das Ideal verwirklichen, „das verborgene Leben Jesu in Nazaret“ zu führen. Aus dieser Phase seines Lebens finden sich schriftliche Äußerungen, die noch ganz und gar an die kontemplativen Erfahrungen der frühchristlichen Wüstenväter und -mütter erinnern. So hört Bruder Karl im Gebet Gott zu sich sprechen: „Du musst alles hinter dich werfen, was nicht ich bin, (…) dir hier eine Wüste schaffen, wo du allein bist mit mir (…) Gehe ganz in mir auf, verliere dich in mir.“1 Auf der gleichen Linie stehen die Worte: „Man muss die Wüste durchqueren und in ihr verweilen, um die Gnade Gottes zu empfangen (…) Dort treibt man alles aus sich heraus, was nicht Gott ist (…) In der Einsamkeit eines Lebens allein mit Gott (…) schenkt Gott sich jedem ganz und gar, der sich Ihm auf diese Weise auch ganz und gar schenkt.“2

      Doch beginnt bereits während seines Aufenthalts in Beni-Abbès ein allmählicher Übergang vom „mönchischen“ zum „aktiven“ Leben. Er selbst schreibt: „Ich sehe mich mit Staunen vom kontemplativen zum seelsorgerlichen Leben übergehen. Und zwar ganz gegen meine Absicht, nur weil die Leute es brauchen.“3 Diese Umformung gewinnt ab ca. 1905, dem Jahr, da er sich bei den Touareg niederlässt, ein zunehmendes Profil. Zwar bleibt der kontemplative Grundzug seines Lebens erhalten – viele Stunden verbringt er noch immer vor dem Allerheiligsten, um sich für die Menschen seiner Umgebung zu „heiligen“ und sie stellvertretend vor Gott hinzutragen –, doch führen ihn die neuen „Verhältnisse“, in denen er den Anruf Gottes an sich erkennt, über die kontemplative Lebensform hinaus. Indem er unter den Touareg ganz und gar „präsent“ ist und ihr Vertrauen und ihre Freundschaft gewinnt, wird er bei ihnen mehr und mehr das, was heute (!) Entwicklungshelfer genannt werden könnte. Er ist der Berater des Amenokal, des wichtigsten Stammeschefs der Touareg, in politischen und ökonomischen Angelegenheiten. Er gibt Ratschläge für die Landwirtschaft und für die medizinische Betreuung; er lehrt die Touareg-Frauen Stricken und Häkeln. Vor allem aber lernt er die Sprache, sammelt die literarische Tradition der Touareg (allein über 5000 Gedichtverse!) und arbeitet bis zur Erschöpfung an einem erst nach seinem Tod veröffentlichten, bis heute unübertroffenen vierbändigen, über 2000 Seiten umfassenden Wörterbuch Tamaschek – Französisch.

      Mit all dem wandelte sich die Perspektive dessen, was bisher „Spiritualität der Wüste“ genannt wurde. Die Wüste ist nicht mehr (nur) der Ort der Abgeschiedenheit und des Schweigens, sondern der Ort, „Gutes zu tun“, wie es in geradezu naiver Stereotypie unendlich oft in den Reisenotizen, Aufzeichnungen und Briefen Bruder Karls heißt. Gemeint ist mit „Gutes tun“, dass er den Menschen seiner Umgebung, aber auch denen, die er auf seinen Reisen zu den Oasen, Camps und Wasserstellen trifft, auf unspektakuläre, aber herzliche Weise beisteht. Aufgrund der Kolonialisierung Nordafrikas beginnt das alte Wirtschafts- und Sozialsystem zu zerbrechen; Heuschrecken verwüsten die Felder, über Jahre hinweg bleibt der Regen aus; Hunger ist die Folge. So gibt es viel Armut und Elend. Angesichts dieser Not gibt Bruder Karl den Leidenden, Hungernden und Bedürftigen Lebensmittel, Medikamente,