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Geist & Leben 4/2016


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und als allererste Vorbereitung der Evangelisierung. Dieses „Gutes tun“ ist ihm so wichtig, dass er darüber seine Sehnsucht nach einem mönchischen Leben zurückstellt und stattdessen mit französischen Militärs oder Touareg-Karawanen gewaltige Exkursionen durch die Wüste unternimmt.

      Auch seine Einsiedeleien, die eigenen und diejenigen, die er für künftige Brüder plant, sollen Ausstrahlungsorte sein, von wo aus man den Menschen in ihrer „Wüstenexistenz“ hilfreich zur Seite steht. So heißt es in einem seiner vielen „Regelentwürfe“: „Die Kleinen Brüder (…) schenken Gastfreundschaft, materielle Unterstützung und im Krankheitsfall Heilmittel und Pflege einem jeden, der sie darum bittet (…) So sollen alle im weiten Umkreis genau wissen, dass die Bruderschaft das Haus Gottes ist, wo allzeit jeder Arme, jeder Fremde, jeder Kranke mit Freude und Dankbarkeit eingeladen, gerufen, erwünscht und aufgenommen ist. Und zwar durch Brüder, die ihn lieben, ihm herzliche Zuwendung erweisen und die Aufnahme unter ihr Dach wie den Gewinn eines kostbaren Schatzes betrachten.“4

      Nimmt man hinzu, dass Bruder Karl sich bis zum Letzten für die „Entwicklung“ der Touareg engagiert, so zeigt sich bei ihm tatsächlich ein ganz neuer Schritt im Verständnis der „Wüste“: Sie wird bei ihm zur „Chiffre“ für das „Gegenwärtigsein“ (présence) unter den Menschen und für die Herausforderung, ihnen tatkräftig zur Seite zu stehen. Die „Dämonen der Wüste“ (wie sie das frühe Mönchtum erfahren und beschrieben hat) sind für Bruder Karl nicht „leibhaftige böse Geister“, sondern Armut und Krankheit, die Misere der Menschen, der Verlust ihrer Rechte und Würde im Kolonialsystem, ihre (mit heutigen Worten gesagt) „Unterentwicklung“ in materieller, geistiger und v.a. religiöser Hinsicht. Wüste ist damit nicht mehr (nur) Ort der Gottesbegegnung, insofern sie für das still-traute Alleinsein mit Gott steht, sondern sie ist es primär in dem Sinn, dass man hier Christus im notleidenden Bruder, in der angefochtenen Schwester begegnet und ihnen, so gut es geht, geistlich (in stellvertretendem Gebet), aber eben auch materiell, durch tatkräftigen Einsatz, zu Hilfe kommt. Von den über 6000 Briefen, die von Foucauld erhalten sind, richten sich ca. 500 an französische Militärs, in denen er sich in kolonialpolitische Angelegenheiten „einmischt“. Er legt Pläne für eine Verwaltungsreform der Sahara-Gebiete vor und protestiert gegen Vergewaltigungen, willkürliche Konfiszierungen, verschleppte oder ungerechte Rechtssprechung. Nicht von ungefähr ist Mt 25 einer seiner am häufigsten angeführten Bibeltexte.

      Zu Recht bemerkt Jean-Francois Six zu diesem neuen Verständnis von Wüste: „Foucauld lädt dazu ein, sich wie der Sohn Gottes mit letzter Konsequenz auf die Grenzen der menschlichen Existenz einzulassen, die Wüste und damit Mühe und Hoffnung, Sterben und Auferstehen eines jeden (…) zu teilen,“5 v.a. das Leben derer, die am Rande stehen, das Leben der Armen, Kleinen, Verachteten, Asylanten. Wüste steht nun für die vielgestaltigen Formen der Not und des Elends, für die Welt, die als unbehaust und ungeborgen, als unfruchtbar und sinnlos erscheint. Diese Wüste, die Wüstenexistenz der Welt, der Gesellschaft und des eigenen Lebens, gilt es, geistlich zu bestehen, nicht nur in Gebet und Kontemplation, sondern in der Praxis solidarischen Handelns. Diese Wüste provoziert dazu, den Glauben in der Einheit von Kontemplation und Tun zu leben und in Wort und Praxis zu bezeugen. Das ist das Neue am geistlichen Wüstenverständnis von Bruder Karl, und damit ist sogar eine gewisse Fokussierung der Glaubenspraxis vor aller Kontemplation gegeben.

      Dieses neue Verständnis Bruder Karls wurde von den Gemeinschaften der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds aufgegriffen, v.a. in den verschiedenen Kommunitäten der Kleinen Brüder und Kleinen Schwestern. Sie leben „mitten in der Welt“ – so die Programmschrift von René Voillaume, dem Gründer einiger dieser Gemeinschaften. „Mitten in der Welt“ ist nicht als Ortsangabe gemeint, sondern als emphatische Herausstellung der konkreten Strukturen unserer Gesellschaft, wie die Mehrheit der Menschen sie erfährt. Es ist eine Gesellschaft, wo Menschen – nicht selten enttäuscht und einsam, krank und alt – um ihr nacktes Dasein kämpfen müssen, um Arbeit, Brot und Wohnung, wo sie ihr Leben im alltäglichen Trott verbringen und keine großen Perspektiven kennen, aber auch wo sie die „ewig-gleichen“ Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Freuden in sich tragen und miteinander teilen, wo sie sich gegenseitig beistehen und einander solidarisch sind. Mitten unter ihnen und gleich ihnen haben die Christen zu leben und diese unsere gemeinsame Welt als große „Wüste“ zu bestehen. Von daher kommt es in der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds zur programmatischen Formulierung: „In deiner Stadt ist deine Wüste“ (Carlo Carretto), eine Formel, die zu den charakteristischen Grundworten gegenwärtiger Spiritualität zählen dürfte, da sie gleichzeitig auch von verschiedenen anderen geistlichen Gemeinschaften aufgegriffen wurde.6

      Diese von Bruder Karl im Verlauf seines Lebens neu vollzogene Einheit von Kontemplation und (öffentlicher!) Aktion, von intensivem Vor-Gott-Stehen und radikaler présence unter den Menschen, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jhs. von einer Reihe geistlicher Menschen und spiritueller Bewegungen je eigenständig neu entdeckt und mitvollzogen und dürfte heute zum Mainstream gegenwärtiger Spiritualität gehören.

      Eine neue Sicht der Evangelisierung

      Das apostolisch-diakonische Engagement von Bruder Karl ist letztlich auf das eine große Ziel ausgerichtet, den Menschen das Evangelium zu bringen. Aber dies hat – so erkennt er deutlich im hautnahen Umgang mit der islamischen Welt – eine Reihe von wesentlichen Voraussetzungen. Vor allem muss der Evangelisierung die „Präevangelisierung“ vorausgehen. Diese Idee findet sich zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach in aller Klarheit erstmals bei Bruder Karl. So schreibt er an seinen Freund Henri de Castries, dass nach seiner Einschätzung die Stunde der Missionierung noch nicht gekommen sei, wohl aber die Stunde der „Arbeit, die Evangelisierung vorzubereiten (travaille préparatoire à l’évangélisation): nämlich Vertrauen zu wecken, Freundschaft zu schließen, Zutraulichkeit zu erreichen, einander Bruder zu sein.“7

      Elemente einer solchen Präevangelisierung sind für Foucauld auf Seiten der zu Missionierenden: ein ausreichender Lebensunterhalt und ein Minimum an „Lebensordnung“, wie sie etwa einer „natürlichen Ethik“ entspricht; auf Seiten der Missionierenden: wirkliche „Präsenz“ unter den Menschen, denen man das Evangelium bringen will, d.h. Präsenz durch gute Sprachkenntnisse, solidarisches und vorbehaltloses Mitleben, Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Inkulturation des bisherigen Lebens und Denkens in den zu missionierenden neuen Raum hinein; Bereitschaft, das Evangelium eher durch das eigene Leben als durch Worte zu verkünden. Dabei ist dies Letzte wohl das eigentlich Entscheidende: Christen, die ihren Glauben weitergeben wollen, müssen „durch ihr Beispiel eine lebendige Predigt sein“ und durch ihr Leben „ein lebendiges Evangelium“: „Die Menschen, die Jesus fern sind (…), sollen ohne Bücher und ohne Worte durch den Anblick ihres Lebens das Evangelium kennenlernen.“8 Auf dieser Linie stehen auf dem Grabstein von Bruder Karl in der Nähe der algerischen Oasenstadt El Golea seine programmatischen Worte: „Ich will das Evangelium durch mein ganzes Leben hinausschreien (crier)“.

      Mit dem evangelisierenden Lebenszeugnis hat einherzugehen, ja diesem sogar vorwegzugehen, der stellvertretende Glaubens- und Gebetseinsatz für die Menschen, unter denen der Christ lebt. Hier lautet eines der markantesten Worte Bruder Karls: „Wenn wir die Seele eines Nichtglaubenden retten, dann – wenn es so erlaubt ist zu reden – retten wir Jesus vor der Hölle und geben ihm den Himmel (…) Die Heiligung des Volkes dieser Region ist in meine Hände gelegt! Es wird gerettet, wenn ich ein Heiliger werde. Und es ist Jesus, den ich vor der Hölle rette und dem ich den Himmel öffne, wenn ich ein Heiliger werde.“9

      Dieses Charakteristikum foucauldscher Spiritualität „Evangelisierung durch (wortloses) Glaubenszeugnis und Stellvertretung“ spielt in der seit Papst Johannes Paul II. inaugurierten Bewegung für eine „Neuevangelisierung“ sowie bei heutigen Reflexionen über die Zukunft der Kirche, so weit zu sehen ist, keine große Rolle, obwohl diese An-Regung nach wie vor von allerhöchster Bedeutung sein dürfte.

      Neuentdeckung des Laien

      Bei Überlegungen zur Evangelisierung geht Bruder Karl ein weiteres auf: Da er vergeblich nach Brüdern sucht, die mit ihm gemeinsam die Aufgabe der „Präevangelisierung“ und „Evangelisierung“ übernehmen könnten, bricht