Jochen Gürtler

Kaufmann/Kauffrau im Gesundheitswesen


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heißen, das Gesundheitswesen sei die einzige Aufgabe des Sozialstaats. Sozialpolitik ist ein sehr weites Feld, zu ihr gehört die Unterstützung von Familien mit Kindern durch Kindergeld, ebenso der Schutz von Arbeitnehmern durch Unfallverhütungsvorschriften, durch einen gesetzlichen Urlaubsanspruch, durch Kündigungsschutz. Ein sozialer Staat wird dafür sorgen, den Lebensstandard von Menschen, die z. B. durch geringe Einkommen benachteiligt sind, nicht unter eine bestimmte Grenze sinken zu lassen. Dafür gibt es die Sozialhilfe. Anliegen eines Sozialstaates ist es ebenso, den Menschen gleiche Bildungschancen einzuräumen, z. B. durch Bafög. Die Aufzählung ist noch lange nicht fertig; es soll dem Leser überlassen werden, weitere Beispiele für sozialstaatliches Handeln zu finden.

      Sozialpolitik hat heutzutage zwei Hauptanliegen:

      1. Zwischen den Menschen soll ein sozialer Ausgleich stattfinden: Wer gesund ist, durch seine Leistungsfähigkeit ein gutes Einkommen erzielt, der gibt einen Teil seines Einkommens ab für jene, die z. B. krank oder arbeitslos sind und kein Einkommen erzielen können.

      2. Auch Menschen, die Sozialleistungen erhalten, sollen an steigendem Wohlstand einer Gesellschaft teilhaben. Aus diesem Grund sind z. B. die Renten dynamisiert; steigen die Arbeitsentgelte, so steigen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch die Renten. Wäre dies nicht so, würden die Rentner von zunehmendem Wohlstand abgekoppelt. Dieses zweite Ziel der Sozialpolitik rückt allerdings immer mehr in den Hintergrund. Wer über ein Jahr arbeitslos ist, erhält Arbeitslosengeld II (sogenanntes »Hartz-IV«), das nicht mehr wie noch vor 2005 vom früheren Arbeitsentgelt abhängt, sondern auf dem Sozialhilfeniveau liegt.

      Im weiteren Sinne ist auch staatliches Handeln, das sich den Schutz der schwächeren Marktpartei zum Ziel setzt, der Sozialpolitik zuzurechnen. Zu diesem Politikfeld gehört z. B. der Kündigungsschutz für Arbeitnehmer und für Mieter sowie zahlreiche weitere Schutzrechte.

      Die kurze Skizzierung sozialstaatlicher Anliegen soll nun nicht bedeuten, der Staat löse alle diese Aufgaben jederzeit zur Zufriedenheit aller – das weiß jeder, der sich täglich aus den Medien über Politik informiert. Und es soll auch nicht bedeuten, der Sozialstaat sei so etwas wie ein guter Vater, der sich treusorgend um die ihm Anvertrauten kümmert. Sozialstaatliches Handeln bedeutet vielmehr: Der Staat organisiert die Solidarität der Menschen untereinander.

      Das Solidarprinzip (aus dem Franz.: solidaire – wechselseitig für das Ganze haften) ist einfach und es ist umfassend. Menschen leben in gegenseitiger Abhängigkeit. Jedem kann es passieren, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein und umgekehrt kann jeder in eine Situation kommen, in der er in der Lage ist, anderen zu helfen.

      Das kann in personeller Hinsicht interpretiert werden: Es gibt Menschen, die chronisch krank sind und deshalb dauerhaft, vielleicht sogar ihr Leben lang solidarischer Hilfe bedürfen. Und es gibt eben gleichzeitig Menschen, die nicht chronisch krank sind und deshalb solidarische Hilfe zu geben vermögen. Es kann auch im Hinblick auf die jeweilige Lebenslage interpretiert werden: Jemand ist vorübergehend arbeitslos; ohne solidarische Unterstützung hätte er kein Einkommen. Hat er wieder Arbeit gefunden, so kann er nun selbst andere, die jetzt arbeitslos sind, solidarisch unterstützen.

      Das letzte Beispiel erinnert an das Zusammenleben einer Familie. Sind die Kinder klein, dann sorgen die Eltern für sie. Sind die Eltern alt und gebrechlich, wird ihnen von ihren nun erwachsenen Kindern geholfen. In einer kleinen Gruppe wie einer Familie funktioniert Solidarität meist (leider nicht immer) so, wie man es sich wünscht. Die Familienmitglieder lieben sich und gegenseitige Hilfe ist für sie selbstverständlich. Je größer und anonymer die Gruppe aber wird, desto schwieriger ist solidarisches Handeln: Solidarität zwischen den Bewohnern eines Wohnblocks, eines Stadtviertels, einer Stadt, gar der Bevölkerung eines ganzen Landes? – Solidarität stellt sich in den Beispielen mit abnehmender Wahrscheinlichkeit kaum von selbst ein und deshalb ist der Staat gefragt.

      Wie und zwischen welchen Gruppen der Staat Solidarität organisiert, das kann recht unterschiedlich sein. In den Ländern der Europäischen Union existieren verschiedene Organisationsformen der Solidarität (image Kap. XI). Hier soll nur gezeigt werden, wie Solidarität in Deutschland ausgestaltet ist.

      Das Sozialsystem hierzulande wird dominiert von der Sozialversicherung. Für die großen Risiken des Lebens – Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfall und Pflegebedürftigkeit – gibt es Sozialversicherungen. Der Grundgedanke dabei ist, dass alle Mitglieder einer Solidargemeinschaft, also z. B. die Mitglieder der Gesetzlichen Rentenversicherung oder die Mitglieder einer Krankenkasse, gegenwärtig Beiträge zahlen, aus denen die Leistungen für diejenigen finanziert werden, die gegenwärtig Hilfe brauchen. Das nennt man Umlageverfahren. Jedes Mitglied einer solchen Solidargemeinschaft bzw. Sozialversicherung hat im Bedarfsfall Anspruch auf Hilfe aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Sozialversicherung (image Abb. 2).

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      Kennzeichnend für das Umlageverfahren ist die Gleichzeitigkeit von Beitragszahlung und Leistungsgewährung; alle finanziellen Mittel, die gegenwärtig von den Versicherten eingesammelt werden, dienen der gegenwärtigen Bezahlung von Leistungen. Sie sind deshalb auf eine annähernd gleichgewichtige Entwicklung der Beitragszahlungen und der Leistungsausgaben angewiesen. Sinkt die Anzahl der Beitragszahler oder sinken die Einkommen aus denen sie Beiträge zahlen, während die Leistungen mehr oder teurer werden, so gibt es folgende Möglichkeiten:

      • die Beitragssätze steigen oder

      • die Leistungsausgaben werden gekürzt oder

      • beide Maßnahmen werden kombiniert.

      Zum 1.1.2015 hat der Gesetzgeber erstmals einen neuen Weg beschritten. Für die Pflegeversicherung wird aus den Beitragseinnahmen ein kleiner Teil abgezweigt und einer demografischen Reserve zugeführt (in Abbildung 1 gestrichelt dargestellt). Diese Reserve soll dann aufgelöst werden und für Leistungsausgaben verwendet werden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge das Alter erreichen, in welchem das Risiko der Pflegebedürftigkeit steigt (image Kap. II 1.2 sowie 4.4).

      Typisch für eine Sozialversicherung ist die Versicherungspflicht für bestimmte Personengruppen, in erster Linie Arbeitnehmer bzw. ehemalige Arbeitnehmer. Der Staat überlässt es per Gesetz nicht dem einzelnen, ob er sich versichern möchte oder nicht. Als Begründung dafür kann man anführen, dass vor allem viele junge Menschen ohne Verpflichtung nicht bereit wären, sich gegen Lebensrisiken abzusichern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Alter auftreten. Man nennt dies »Minderschätzung künftiger Bedürfnisse«.

      Das Solidarprinzip der Sozialversicherung wird durch ein weiteres wichtiges Prinzip der Sozialpolitik ergänzt: Die Subsidiarität (aus dem Lat.: subsidium = Reserve, Rückhalt).

      Subsidiarität heißt, der Sozialstaat wird nur dann aktiv, wenn der Einzelne sich nicht selbst helfen kann. Das ist einerseits für den Staat eine Aufforderung sich nicht in die Belange der Menschen einzumischen, wenn diese des Staates und seiner Hilfe nicht bedürfen. Und es bedeutet andererseits für den Einzelnen, dass er Hilfe durch den Sozialstaat nicht verlangen kann, wenn er in der Lage ist sich selbst zu helfen oder wenn er einer solidarischen Gruppe wie seiner Familie, seiner Sozialversicherung angehört, die ihn unterstützen kann. Im § 2 des Sozialgesetzbuches XII – Sozialhilfe – findet sich unter der Überschrift »Nachrang der Sozialhilfe«, folgende Definition des Subsidiaritätsprinzips:

      »Sozialhilfe erhält nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens