Philippe Rogger

Geld, Krieg und Macht


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ein «gemein geschrey» und befeuerte den Widerstand.256

      Am 10. Dezember nahmen die gewaltsamen Proteste in Zürich ihren Anfang. An diesem Tag «lieff ein puwr am sew von Talwyl gon Horgen, fiel an die gloggen zu stürmen. Darmit gieng der sturm durch gantz Zürchpiet, deßwegen sich das folck uß allen gmeinden zu(o)samen rottet und sich für die statt Zürch schlu(o)g».257 An jenem Morgen eilte auch Jacob Jäckli, Untervogt von Küsnacht, hastig nach Zürich und überbrachte Bürgermeister Marx Röist die Nachricht, dass sich vor allem in den Seegemeinden die Untertanen sammeln würden. Röist, welcher sich gerade in der Frühmesse befand, verkannte jedoch den Ernst der Lage und stellte die nahende Gefahr vor Rat und Burgern in Abrede.258 Kurze Zeit später sah sich der Bürgermeister an der Seite des Altbürgermeisters Felix Schmid und des Konstanzer Bischofs, der sich zufällig in der Stadt aufgehalten hatte, 3000 bewaffneten Untertanen gegenüber, die sich vor der Stadt eingefunden hatten.259 Am offenstehenden Oberdorftor versuchten sie, die Aufständischen davon abzuhalten, in die Stadt einzudringen.260 Die Untertanen liessen sich jedoch nicht ohne Weiteres von ihrem Vorhaben abbringen. Das Angebot der Obrigkeit, eine unbewaffnete Delegation in die Stadt zu lassen, sofern die Jugendlichen261 und restlichen Untertanen heimgeschickt würden, wurde abgelehnt: «Dan nüt dan schrÿen sÿ bega(e)rind nüt dan das bloss ra(e)cht vnd das man die houptlüth vnd kronenfra(e)sser gfengklich anneme vnd sÿ thürerer dan vff den eÿdt froge».262 Die Obrigkeit sah sich gezwungen, den Rebellen Einlass in die Stadt zu gewähren. Der Untertanenprotest wurde ähnlich wie in Bern, Luzern und Solothurn von einem Teil der Zürcher Bürgerschaft unterstützt.263 Die Aufständischen zeigten sich entschlossen, «das bo(e)ß vom gu(o)tten thu(o)n».264 Sie betonten allerdings auch ihren Willen, «das bo(e)ß zu straffen mit recht und nit mit gwalt». Daraufhin liess man am 12. Dezember weitere Personen verhaften. Bei den Verhafteten handelte es sich vor allem um bekannte Hauptleute.265 In mehreren Schreiben betonte Zürich seine Absicht, die Unruhen aus eigener Kraft und ohne eidgenössische Intervention beizulegen.266

      Am 13. Dezember zeichnete sich zwischen Obrigkeit und Untertanen eine erste Annäherung ab. Auf Initiative Conrad Schufelbergers, «der puwren künig und reder», wie ihn Stumpf bezeichnet, 267 kam eine formale Verständigung zustande. Der Meier aus dem Grüningeramt forderte vom Rat einen schriftlichen «Anlass», welcher das Verfahren der gerichtlichen Verhandlungen regeln sollte und der vom Rat schliesslich zum Beschluss erhoben wurde. Die Konfliktparteien einigten sich auf gleichberechtigte Kompetenzen bei den Ermittlungen, eine paritätische Vertretung beider Parteien bei den Verhören, eine gegenseitige (schriftliche) Informationspflicht über die Ergebnisse der Verfahren und eine Aufteilung des verfallenen Besitzes der Verurteilten je zur Hälfte zwischen Stadt und Land.268

      Das drängendste Problem der Obrigkeit war damit jedoch nicht gelöst. Solange Zürich besetzt blieb, war es den Räten nicht möglich, die Zügel in den Verhandlungen mit den Untertanen in die Hand zunehmen. Die politischen Behörden hatten der militärischen Übermacht der Untertanen nichts entgegenzusetzen. Auch für die übrigen Stadtbewohner stellten die 3000 Besatzer eine grosse Belastung dar, wobei insbesondere die Verpflegung der Rebellen hohe Kosten verursachte. So hatten «ir iung volck vnd ouch der allten ettlich allen bÿmenza(e)llten bÿ den kra(e)meren in der statt vffa(e)ssen, das sich ouch vff ein hüpsche sum kostens vflüff».269 Von dieser eigenmächtigen Verköstigung der Aufständischen mit Lebkuchen rührt auch der Name des Aufstandes. Die Situation der Bevölkerung war in der Tat prekär. Im Verlauf der Besetzung radikalisierte sich ein Teil der Aufständischen und fasste eine Plünderung der Stadt ins Auge. Sie versammelten sich auf dem Lindenhof, dem grossen Festplatz der Stadt, und verlangten, «man solte in der statt sackman machen und plündern».270 Dem Untervogt Jäckli gelang es jedoch, die drohende Katastrophe abzuwenden. Er appellierte an die Ehre der Aufständischen und erinnerte sie an ihre gegenüber der Obrigkeit eingegangenen Verpflichtungen (Eid, Bünde, Recht). Anschliessend fasste man den Beschluss, dass zwei Drittel der Untertanen wieder in ihre Dörfer zurückkehren sollten. 1000 Aufständische sollten in der Stadt bleiben und die Durchführung der anstehenden Verfahren überwachen.271 Der Umstand, dass es einem Untervogt gelang, in dieser heiklen Situation eine Beruhigung herbeizuführen und eine Plünderung zu verhindern, ist bezeichnend für die Ohnmacht der politischen Führung Zürichs.

      Die Verhöre gegen die Inhaftierten begannen am 14. Dezember.272 Obschon der «Anlass» vorgesehen hatte, die Untersuchungskommission paritätisch zu besetzen, stellte der Rat zunächst sechs und die Landschaft nur vier Mitglieder. Diese Übervertretung des Rats vermag allerdings nicht über die tatsächlichen Machtverhältnisse zu Beginn der Verfahren gegen die Beschuldigten hinwegzutäuschen. So erkundigte sich der Rat bei den Untertanen, ob sie die bisherige Rechtspraxis des Folterverbots bei Aussagen unter Eid in den Prozessen beizubehalten gedachten. Diese zaghafte Anfrage lässt erahnen, dass die Ausgestaltung des Prozessverfahrens nicht beim Rat, sondern weitgehend in den Händen der Belagerer lag.273

      Die Ohnmacht des Rates in dieser Phase des Aufstands zeigt sich auch an anderer Stelle. Stumpf berichtet, dass die Hälfte der Räte den Ratssitzungen wegen selbsterklärter Befangenheit fernblieb. Selbst die Bürgermeister stahlen sich aus der Verantwortung und liessen die Sitzungen jeweils von Oberzunftmeister Rudolf Binder präsidieren.274 Die Regierungsfähigkeit des Gremiums war dadurch nicht gewährleistet. Am 15. Dezember berief Bürgermeister Röist den Grossen und Kleinen Rat «samentlich», und es wurde der Beschluss gefasst, dass man angesichts des schlechten Ratsbesuchs in Krisenzeiten «in diesen hendlen on alle wal sölle bi dem eid in den rat gebieten».275 Zwei Tage nachdem Röist einen Antrag von Uri, das einen Rechtstag gegen Onoffrius Setzstab begehrte, mit dem Rat behandelt hatte, trat er bereits wieder in den Ausstand. Diese Führungsschwäche der Obrigkeit verschlechterte deren Position, und die Belagerer setzten am 18. Dezember die faktische Parität in den Untersuchungskommissionen durch. Ausserdem forderten sie die Wiederholung bereits durchgeführter Zeugenverhöre, bei denen die Obrigkeit noch die Mehrheit (mit sechs Vertretern) gestellt hatte. Auch kam nun die Folter zur Anwendung.276 Onoffrius Setzstab wurden während des peinlichen Verhörs am Seil «by 400 pfundt schwer angehenckt», und die Richter «zugend in nackend uß, der meynung: ob er ettwaß by im verborgen hette, das in an vergicht der warheit hinderte.»277

      Am 20. Dezember formierte sich innerhalb der Zürcher Führungsschicht erstmals Widerstand gegen das harte Vorgehen der Untertanen. Der Rat kritisierte die Anwendung der Folter bei eidlichen Aussagen sowie bei unzureichenden, nur durch «nebent reden» erhobenen Verdachtsmomenten.278 Der Rat verwies auf die Bestimmungen der Stadtsatzung und auf das alte Herkommen. Mit seiner Fürsprache für die inhaftierten Hauptleute Peter Füssli und Hans Ziegler, gegen die bislang keine konkreten Anschuldigungen vorlagen, drang er allerdings nicht durch. Auch entspann sich eine Diskussion über den Geltungsbereich der beschworenen Pensionenordnung. Streitpunkt war die Frage, ob die Annahme von Pensionen zuhanden der Stadtkasse ebenfalls gegen das Verbot verstosse.279 Bezüglich der Folter beriefen sich die Untertanen darauf, dass ihnen die Obrigkeit die Anwendung der Folter freigestellt hatte und sie daher keine Schuld an allfälligen Verletzungen des Stadtrechts treffe: Es «syg inen anfengklich nach glan also zu(o) fragen yetz in diser handlung, darvmb sy der statt recht kein abbruch thuyent».280 Zudem vertraten sie den Standpunkt, dass jeglicher Empfang fremden Geldes zum Ehrverlust führe. Wurde der Geldempfang aufgrund der Befragung am Seil eingestanden, war die Anwendung der Folter, so die Argumentation der Untertanen, rechtens.281 Die Abgeordneten der Untertanen standen offensichtlich unter einem erheblichen Erfolgsdruck. So ist der Grund für die unnachgiebige Haltung der Aufständischen unter anderem darin zu suchen, dass «sy besorgint, wo sy also sollint heimfaren vnd witers nit bringen, sy mugint die sach nit verantwurten vnd besorgind, es wurd witers vnd boßers darvß erston».282 Die Drohung an den Rat war unmissverständlich: Wenn sie mit einem aus ihrer Sicht unbefriedigenden Ergebnis in ihre Dörfer zurückkehren müssten, sei mit neuen Erhebungen zu rechnen. Der Rat stimmte daraufhin der Fortführung der Folterungen notgedrungen zu. Mit Blick auf die 1000 Aufständischen innerhalb der Stadtmauern blieb ihm keine andere Wahl.283

      Für die bevorstehenden Feiertage wurde eine Gerichtspause anberaumt. Um an Weihnachten nicht mit leeren Händen in die