Philipp Görtz

Ignatianische Schulpastoral


Скачать книгу

um sich sammelte und sie außerhalb des Unterrichts dazu ermutigte, sich auf den Gebieten der Frömmigkeit, der künstlerisch-musischen Bildung und des apostolischen Einsatzes zu engagieren. Die Marianischen Kongregationen, die daraus entstanden, nahmen in ihrer ganzheitlichen Ausrichtung das vorweg, was später als Schülerseelsorge bzw. als Jugendarbeit bezeichnet wurde.

      Über die Jahrhunderte wandelte sich die Art der Seelsorgstätigkeit an den Schulen. In den 1950/60ern wurde versucht, einzelne Schüler für Exerzitien im strengeren Sinne zu gewinnen, ganze Klassen dagegen für eher niederschwellige Besinnungstage. In Bezug auf die Entwicklung „von der Schülerseelsorge zur Schulseelsorge“ spielten Alfonso PEREIRA (1917–1991) und Clemente PEREIRA (1911–1990) eine wichtige Rolle. Mit zahlreichen Schriften erfüllten sie das Gebetsapostolat mit neuem Leben und wollten in den sogenannten Religiösen Schul-Wochen „nicht nur einzelne Schüler, sondern alle Schüler in ihrem ‚Milieu‘ in einer außerordentlichen Schulung zur Erneuerung“ anregen. In Form der Werktagsheiligung sollte „die ganze Schule erfasst werden, damit der Geist der Schule religiöser und die Atmosphäre reiner werde“ (PEREIRA, Clemente 1960, 226).

      Schaut man heute in die Jesuitenkollegien, so trifft man dort auf eine breite Vielfalt schulseelsorglicher Angebote und schulpastoraler Maßnahmen. Die Marianischen Kongregationen sind abgelöst durch Jugendverbände (J-GCL, KSJ etc.), die vor allem auf dem Sektor der Freizeitbetreuung Kinder- und Jugendgruppen anbieten, worin durchaus ein konkreter schulpastoraler Dienst gesehen werden kann. Aus den Religiösen Schul-Wochen wurden Besinnungstage bzw. Tage religiöser Orientierung. Exerzitienähnliche Angebote oder Exerzitien für Einsteiger gibt es meist in der Oberstufe, vor dem Abitur bzw. um den Überstieg in die Zeit nach der Schule „ins Gebet zu nehmen“. Nachdem in den vergangenen Jahren im Bereich der Schulpastoral vielfältige Anstrengungen in Theorie und Praxis unternommen wurden, scheint es angebracht, danach zu fragen, wie sich ignatianische Schulpastoral heutzutage gestalten sollte, wovon sie profitieren und was sie selber von ihrem Proprium in die allgemeine Diskussion um Schul- und Jugendpastoral einbringen kann.

       1Allgemeine Entwicklung und religiöse Bildung Heranwachsender

      Ein professionelles Engagement im Bereich der Schul- und Jugendpastoral setzt voraus, dass man sich ausführlich mit den Personen beschäftigt, mit denen man zu tun hat. Wer sind die Kinder und Jugendlichen, die heute unsere Schulen besuchen und an unseren Jugendarbeiten teilnehmen? Was sind die wichtigsten Faktoren ihrer Entwicklung? Wofür interessieren und mit was beschäftigen sie sich? Wie bildet sich ihr Glauben und was prägt ihre Überzeugungen? Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen haben Auswirkungen auf die Art und Weise, wie ignatianische Schul- und Jugendpastoral zu konzipieren ist und was man dabei zu berücksichtigen hat.

       1.1Entwicklungspsychologische Aspekte

      Die Entwicklungspsychologie des Jugendalters befasst sich vor allem mit der detaillierten Beobachtung von Lebensbewältigungsprozessen Jugendlicher. Sie versteht Entwicklung als einen Prozess, der vom Heranwachsenden selbst getragen und gestaltet wird. Wie dieser verläuft, hängt besonders „von den personalen und sozialen Ressourcen“ ab, „die für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zur Verfügung stehen“ (FEND 2003, 21 f). Im Laufe der Geschichte der Entwicklungspsychologie setzte man zunächst auf sogenannte endogene Theorien, die sich der Entwicklungsdynamik der Person annahmen.3 Später konzentrierte man sich auf sogenannte exogene Theorien, denen die Annahme zugrunde liegt, dass Entwicklung maßgeblich durch soziale Kontexte geprägt wird.4 Beide Ansätze sind mittlerweile abgelöst worden von einer interaktiven Theorie, die sich auf die Erkenntnisse der beiden älteren Theorien stützt und sie gleichsam in sich aufnimmt. Sie beschreibt die Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor allem mit Hilfe von Entwicklungsaufgaben.

       1.1.1Entwicklungsaufgaben

      Interaktive Theorien betrachten den Jugendlichen als Werk seiner selbst. Ihrer Untersuchung liegen handlungstheoretische Modelle von Entwicklung zugrunde, die von selbstständigen Verarbeitungsprozessen des Individuums ausgehen und dabei nach Verarbeitungsformen innerer und äußerer Handlungsbedingungen und deren Niederschlag in der Persönlichkeit fragen. Verhaltens-Psychologen sprechen bei der zu untersuchenden Lebensphase von der Adoleszenz. Die menschliche Entwicklung wird nun nicht mehr nur deskriptiv und theoretisch analysiert, sondern normativ weitergeführt. Angezielt wird eine pädagogische Leitidee, die besagt, dass der Entwicklungsprozess der Adoleszenz darauf zielt, dass der Heranwachsende mehr und mehr selbstverantwortlich seine Entwicklung gestaltet, indem er die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben5 bewältigt. Auf die Frage, wer diese Entwicklungsaufgaben stellt, stößt man auf eher implizite denn explizite Erwartungen der Umwelt, der Gesellschaft und der Erwachsenen (speziell der Lehrer, Erzieher und Eltern). In Abgrenzung zu expliziten Entwicklungsnormen ist allerdings zu betonen, dass Entwicklungsaufgaben zugleich eine individuelle Setzung des Jugendlichen sind: Sie hängen ab von seiner individuellen Leistungsfähigkeit, von pluralen soziokulturellen Normen, mit denen er konfrontiert wird, und von selbst gesetzten individuellen Zielen.

      Die im Folgenden dargestellten Entwicklungsaufgaben scheinen mir von besonderer Relevanz im Hinblick auf heutige Schüler an weiterbildenden Schulen in Deutschland. Sie decken das Spektrum des sozialen Kontextes weitgehend ab, rekurrieren auf Gesetzmäßigkeiten der inneren Entwicklung und nehmen Bezug sowohl auf die häufigsten Herausforderungen und Probleme des Alltags von Jugendlichen als auch auf die ko-konstruktiv einzusetzenden personalen und sozialen Ressourcen der Problembewältigung, der Normalentwicklung und der Risikoentwicklung, die ihnen zur Verfügung stehen.

       1.1.1.1Umgang mit inneren Veränderungen

      Umgang mit dem Körper: Mitten in der Schulkarriere einer Schülerin bzw. eines Schülers verändert sich mit einem mal etwas, was bisher eher langsam und kontinuierlich gewachsen war. Der Körper zeigt Anzeichen einer selbst-beobachtbaren und massiv geschlechtsspezifischen Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen. Jugendliche haben den Eindruck, in ihrem Körper gingen Dinge vonstatten, die ihnen bislang unbekannt waren, und sie beschleicht das Gefühl, ihr Körper habe mehr Macht über sie als sie über ihn. Was im Körper eines Jugendlichen genau vorgeht, lässt sich nicht simplizistisch beschreiben, sondern stellt vielmehr einen komplexen Vorgang dar, bei dem hormonelle Veränderungen einhergehen mit der Entwicklung der Geschlechtsmerkmale sowie der Entfaltung der Fortpflanzungsfähigkeit.

      Ein interaktives Verarbeitungsmodell geht davon aus, dass Jugendliche puberale Prozesse wahrnehmen und zunächst subjektiv interpretieren. Je nachdem, in welchem Maße ein Jugendlicher über persönliche und soziale Ressourcen im Sinne von Selbstbewusstsein und sozialer Unterstützung verfügt, kann er ein mehr oder weniger positives Konzept der eigenen Attraktivität entwickeln, was sich wiederum auf sein emotionales Befinden auswirkt. Darüber hinaus versuchen die meisten Jugendlichen das eigene äußere Erscheinungsbild aktiv zu gestalten und sich zu „inszenieren“, um den eigenen Körper zur Kontaktaufnahme einzusetzen, was sich auf die soziale Stellung und Akzeptanz auswirkt. Gelingt dieser Prozess in den Augen des Jugendlichen, so wird dies sein Selbstbewusstsein stärken. Wenn nicht, so drückt sich dies in mangelnder Selbstakzeptanz aus und kann bis hin zu Depressionen führen.

      In der Pubertät schenkt die Natur dem Heranwachsenden einen „neuen Körper“, den zu „bewohnen“ gelernt sein will. Dazu gehört, dass Jugendliche sich mit der eigenen Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit auf der einen sowie mit Schönheitsidealen und Allmachtsfantasien auf der anderen Seite auseinandersetzen. Sie stehen vor der Aufgabe, ein diszipliniertes und zugleich natürliches Ess-, Hygiene- und Gesundheitsverhalten einzuüben und sich genügend körperlich zu betätigen. Will der Heranwachsende bei der Verarbeitung seiner Pubertät selber Verantwortung übernehmen und will er diese rational und verantwortlich steuern und gestalten, so muss er