Philipp Görtz

Ignatianische Schulpastoral


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und sich zu distanzieren. Er sollte sich nicht allein über meinungsmachende Medien aufklären lassen, sondern fundierte Informationen z. B. von Eltern oder aus dem Sexualkundeunterricht annehmen, sich in gesundem Maße disziplinieren (lassen), statt „herumzuhängen“ und sich treiben zu lassen, und er sollte die häufig dramatische Kluft zwischen äußerem Verhalten und innerer Stimmungslage aushalten, annehmen, ausdrücken und nach und nach überbrücken lernen.

      Auch von Pädagogen, Erziehern, Lehrern und Eltern wird im Umgang mit den körperlichen Veränderungen bei Jugendlichen einiges verlangt: Sie sollen sich über die Inhalte der Aufklärungsangebote von Medien, an denen sich Jugendliche orientieren, informieren, Hilfreiches betonen und unterstreichen, Ungenügendes ergänzen sowie Falsches richtigstellen. Wichtig ist, dass sie die Probleme und Nöte von Jugendlichen kennen und ernst nehmen, vor allem in Bezug auf den Entwicklungsvorsprung bzw. Entwicklungsrückstand6 einzelner. Im Hinblick auf Schulklassen und noch mehr auf Jugendgruppen ist zu beachten, dass zwischen dem Einsatz der Pubertät von Frühentwicklern und Spätentwicklern bis zu sechs Jahre liegen können.

      Umgang mit der Sexualität: „Liebe, Sex und Partnerschaft“ ist eine Thematik, die auf Besinnungstagen der Jahrgangsstufen 8 und 9 am häufigsten gefragt ist, wenn Jugendliche frei wählen können. Das ist für diese Altersgruppe nicht verwunderlich, sind doch die körperlichen Veränderungen eng mit der fortschreitenden Entwicklung der Sexualität verknüpft: die Intensität sexueller Bedürfnisse nimmt zu, Jugendliche werden reproduktionsreif und empfängnisfähig. Kaum etwas anderes ist in der Pubertät so interessant, als was man mit seinem Körper eben auch „machen“ kann. Kulturell unterliegt Sexualität normativen Regulierungen. War sie früher über Gebote und Verbote eher institutionell geregelt, so orientierte sie sich seit dem 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts immer stärker an persönlicher Zuneigung. In der modernen und postmodernen Gesellschaft sind Regulierungsnormen von Sexualität äußerst individualisiert, ihr moralischer Wertemaßstab ist die Selbstentfaltung der Person.

      Zur Integration sexueller Potenz und kultureller Normen in einer selbstverantworteten Persönlichkeit gehört, dass Jugendliche ausgehend von den eher unverbindlichen Beziehungen und Freundschaften der Kindheit lernen, personale Intimbeziehungen zu einem konkreten gegengeschlechtlichen Gegenüber aufzubauen. Heranwachsende bewältigen die Entwicklungsaufgabe Umgang mit der Sexualität derart, dass sie ein Gespür dafür entwickeln, was für sie und den Partner gut und stimmig ist, was sie sexuell möchten und was sie zu geben bereit sind. Sie müssen sich um sexuelle Authentizität bemühen. Wenn Sexualität nicht auf „Sex“ reduziert werden soll, müssen sie fernerhin lernen, dass diese mit dem Bedürfnis zusammenhängt, geliebt und akzeptiert zu werden, mit Verantwortung und gegenseitigem Respekt sowie mit der Bereitschaft, eine soziale Bindung einzugehen, auch wenn diese in der Pubertät noch eher experimenteller Natur und in der Regel nicht auf Dauer angelegt ist.7 Auch der Umgang mit äußerst problematischen Aspekten der Sexualität will gelernt und eingeübt sein: Formen sexueller Gewalt, Verführung und Missbrauch8 dürfen nicht verschwiegen oder ausgeblendet werden; Kinder und Jugendliche müssen wissen, wie sie sich schützen und an wen sie sich verlässlich wenden können. Nach wie vor ein wichtiges Thema bleibt, dass Jugendliche sich ein Wissen um die Wirkung und Anwendung unterschiedlicher Verhütungsmethoden erschließen. Und schließlich müssen sie sich die Fähigkeit aneignen, darüber zu sprechen, wenn sie erniedrigt oder missachtet werden bzw. wenn eine Beziehung in die Brüche geht.

      Aus pädagogischer Sicht ist es wichtig, dass neben der besten Freundin bzw. dem besten Freund auch Erwachsene als authentische und unaufdringliche Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die Jugendliche bei der Entwicklung eines soliden Selbstvertrauens unterstützen, was wiederum Grundlage dafür ist, verantwortungsvoll mit der eigenen Sexualität umzugehen, sie in sozialen Bindungen zu verankern und in der Mitte des eigenen Selbstverständnisses zu platzieren. Nach wie vor sind die Eltern eine wichtige Vermittlungsinstanz in Sachen Aufklärung und Vertrauenspersonen für sexuelle Fragen. Über Verhütung wird meist im Schulunterricht informiert. Beratungsstellen sind zwar anerkannt, werden aber nur wenig genutzt. Nach wie vor besteht ein hoher Bedarf an Aufklärung, Beratung und Unterstützung.

       1.1.1.2Umbau des sozialen Beziehungsgefüges

      Bei der Entwicklungsaufgabe Umgang mit der Sexualität wurde deutlich, welche Rollen soziale Bindungen spielen und in welchem Maß gerade Eltern als Vertrauenspersonen zu Rate gezogen werden. Diese Beziehungen stehen in dem Maße, wie Kinder zu selbstständigeren und verantwortungsbewussteren Jugendlichen werden, vor einer Reorganisation, die bewältigt und gestaltet werden muss.

      Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter: „Pubertät ist, wenn Eltern kompliziert werden!“, so lautet ein verbreiteter Schülerspruch, der das auf den Kopf stellt, was Eltern gegenüber ihren Kindern im Jugendalter empfinden. Was hier umgangssprachlich als Alltagsweisheit formuliert wird, deutet an, dass es bei der Entwicklungsaufgabe des Umbaus des sozialen Beziehungsgefüges nicht um einen einseitigen Prozess geht, sondern um ko-konstruktive Interaktionen im Rahmen interner Vorgaben und kultureller Kontexte.

      Das Eltern-Kind-Verhältnis hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Die traditionelle „Kommandofamilie“, in der Kinder eine Art Altersvorsorge darstellten, die Autorität allein bei den Eltern lag und der Generationenkonflikt ein schier unausweichliches Phänomen war, wandelte sich im Zuge des Autoritätsverlustes der Eltern und einer emotionalen Intimisierung zur „Verhandlungsfamilie“. Was Jugendliche wollen und dürfen, wird oft individuell und demokratisch ausgehandelt, wobei beide Seiten, Eltern und Kinder, sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit Blick auf die strukturelle Situation, auf die legalen Verantwortlichkeiten, Ressourcen, Sanktionen und Rechte bleibt in der Familie oder zwischen Generationen dennoch ein asymmetrisches Verhältnis, welches auch in Aushandlungssituationen nicht ohne Konflikte abläuft. Wichtig ist, festzuhalten, dass Jugendliche vermehrt Eigenverantwortung für den Prozess ihres Selbstständigwerdens übernehmen und dass Eltern sie dabei begleiten, fördern und unterstützen.

      Die hiesige Entwicklungsaufgabe zielt auf die Individuation der Heranwachsenden, bei der wachsende Selbstständigkeit und bleibende Verbundenheit mit der eigenen Herkunft Hand in Hand gehen. Wenn Jugendliche sich von ihren Eltern emanzipieren, beginnt ein Prozess von Interessenkonflikten9: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder; Jugendliche dagegen wollen mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheiten und mehr Rechte. Ausgehandelt werden diese Konflikte in einem familiären Diskurs, der von Elternseite nicht interesselos geführt wird und der aus individuell-persönlicher Sicht zumeist die optimale Entwicklung der Kinder zum Ziel hat. Aufgabe der Heranwachsenden ist es, Strategien zu entwickeln, um eigene Vorstellungen in diesen Diskurs einzubringen, sie durchzusetzen und umzusetzen. Dies gelingt ihnen umso besser, je mehr ihre Eltern das Gefühl haben, dass sich ihr Verhalten und die Ergebnisse, die sie damit erzielen, langfristig positiv auf ihre Entwicklung auswirken. Konfliktiv ist dieses Interaktionsgeschehen meist deswegen, weil ein großer Unterschied zwischen beiden Seiten besteht: Während Eltern ihre Lebenszufriedenheit davon abhängig machen, dass sie eine positive und emotional befriedigende Beziehung zu ihrem Kind haben, ist für Heranwachsende das Leben zusammen mit ihren Eltern alles andere als die Erfüllung ihres Lebensprojektes. Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet, sie streben nach neuen Bindungen, nach Beziehungen zum anderen Geschlecht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass, wenn Kinder in die Pubertät kommen, sie und ihre Eltern die gegenseitigen Erwartungen und ihren Kommunikationsstil so reorganisieren, dass Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen gewährleistet sind. Als „normalverlaufend“ kann man eine Eltern-Kind-Beziehung in der Adoleszenz dann bezeichnen, wenn Jugendliche ihre sozialen Aktivitäten auch nach außerhalb der Familie verlagern, wenn sie Selbstständigkeit und Selbstverantwortung gerade durch Konflikte hindurch erobern, wenn sie weniger emotional in die Familie investieren und die Beziehung zu den Eltern „zurückfahren“ und wenn Eltern mit der Zeit immer weniger Einfluss auf ihre Kinder ausüben.10

      Pädagogisch betrachtet ist dieser Ablösungsprozess ein notwendiger Teil der Individuation von Heranwachsenden. Aufgabe der Eltern ist es, diesen als Neusynchronisierungsprozess zu erkennen und sich auf ihn einzulassen. Sie sind