das Publikum belästigten. Die Masse der Zuschauer wolle in ihrem Kinematographen-Theater Romantisches sehen und nicht, wie auf der Bühne, die Idealphrasen der Klassiker oder die naturalistischen Alltagsreden. Ewers gestand in diesem Beitrag allerdings ein, dass er sowieso nicht nur um der Bildung willen ‚Kinemas‘ besuche, sondern der Anlass sei oft ein ganz anderer:
„Ja, das ist es: man vergisst alles. Man sitzt im dunklen stillen Saale und sieht eine fremde geheimnisvolle Welt. Auf der Bühne des Theaters reden die Menschen, zwingen mich, achtzugeben auf das, was sie sagen, ihren Gedanken zu folgen. Im Kinema aber kann ich träumen. Ich lebe in der Welt des Wunderbaren, und diese Welt ist doch nur lebendig durch meine Träume.“ (18)
Diese von ihm gewünschte kompensatorische Funktion hatte ‚der‘ Kino gemeinsam mit einem Teil der Literatur der Zeit, beide boten fiktive Alternativen zur eingeschränkten Handlungsfähigkeit und zur sinnlichen Depravierung breiter Schichten. ‚Der‘ Kino zog Profit – auch ökonomischen Profit – aus den Sehnsüchten des vergesellschafteten Großstadtmenschen, sich den Folgen der Industrialisierung zu entziehen, obgleich das Vehikel der Flucht selbst ein Produkt dieser technischen Welt war. Film als Realitätsersatz nahm in dem Maße an Wichtigkeit zu, in dem die Entfremdung von der Realität wuchs. (19)
H. H. Ewers Forderung von 1907, dass Künstler speziell für den Film schaffen sollten, sah er – sich vermutlich hinter dem Pseudonym P. A. Wolff verbergend – in einem weiteren ‚Kino-Revue‘-Artikel Mitte 1911 durch die Filme von Walter Schmidthäßler realisiert, die von der ‚Vitascope‘-Film-Gesellschaft produziert wurden. (20) Walter Schmidthäßler war in Personalunion Autor, Regisseur und Hauptdarsteller seiner Filme, deshalb tauchte in dem Artikel auch zum ersten Mal das Wort ‚Kunstfilms‘ auf, „das seinerzeit synonym mit den Begriffen ‚Künstlerfilm‘ und ‚Autorenfilms‘ verwendet wird.“ (21)
Ewers ließ zu dieser Zeit neben seinen Artikeln für die ‚DMZ‘ keine Gelegenheit ungenutzt, auf „... die unbegrenzten Möglichkeiten des Rollfilm auf allen nur möglichen Gebieten“ (22) hinzuweisen. Als die ‚Lichtspiele‘ – ein Lichtspielhaus am Berliner Nollendorfplatz – zum Jahreswechsel 1910 ihr Publikum in den ‚Mozartsaal‘ luden, hielt er einen Vortrag über ‚Die Wunder des Rollfilms‘ und äußerte sich wenig später, im März 1911, bei einer Umfrage – die die in Berlin erscheinende ‚Erste Internationale Film-Zeitung‘ veranstaltete – über die Programmfrage. Erstaunlich ist sein Weitblick: So wies er in seinem Vortrag (23) nicht nur auf die zukünftige Rolle des Films in der medizinischen Wissenschaft, in der Industrie und als Werbemittel vielfältigster Art hin, er sprach auch schon vom Tonfilm und dessen Möglichkeiten, z.B. bedeutende Theaterinszenierungen aufzuzeichnen, um diese dann in der Provinz gegen geringes Entgelt vorzuführen. Von den um diese Zeit in den Kinematographen-Theatern grassierenden Tonbildern, diesen „... unendlich geschmacklosen Szenen aus Opern und Operetten, wozu irgendein scheusäliger Phonograph seine gräßlichen Laute von sich gibt“ (24), hielt er dagegen nichts, ebensolches trifft auf die Aufnahmen von irgendwelchen Varietégrößen, von Balletts und von ‚sentimentalen‘ Stücken zu. Ewers favorisierte Filme mit Max Linder und die amerikanischen Cowboy- und Indianerstreifen; er schätzte aber auch solche, die den Zuschauer in nahe und ferne Länder reisen ließen, und zur Abwechslung ließ er sich auch einmal die breiten historischen Dramen der italienischen Filmfirmen gefallen. Interesse zeigte er auch an den so genannten Tagesfilms, wie dem Pathé-Journal. Als die ‚Erste Internationale Film-Zeitung‘ im April 1911 einen so genannten Premieren-Abend – es war vermutlich der erste in der deutschen Filmgeschichte, und er fand vor ausgewähltem Publikum im Berliner Hotel ‚Esplanade‘ statt – veranstaltete, scheute Ewers nicht davor zurück, mittels eines Artikels in der ‚Deutsche Montags-Zeitung‘ (25), diesen Rummel, den die ‚EIFZ‘ vermutlich im Interesse der finanzstarken ausländischen Filmfabrikanten angerichtet hatte, zu monieren. Er hatte sich ja schon öfters darüber beklagt, dass aufgrund der Polizeizensur und dem mangelnden Wagemut der deutschen Film-Gesellschaften die ausländischen Firmen den Einheimischen weit überlegen seien (26) – und nun unterstützte eine deutsche Filmzeitschrift, deren Namen er schon für eine geschmacklose Reklame hielt, auch noch die ausländische Film-Industrie. Auf dieser Veranstaltung, so Ewers (27) – der neben dem Schriftsteller Hans Hyan (1868-1944) unter den Gästen gewesen war –, seien bei kaltem Büfett, Sekt und Bier, lediglich ein paar Dutzend ‚Films‘ gezeigt worden, und darunter sei nur ein einziger, noch dazu alter, deutscher Film gewesen:
„Wozu also die Veranstaltung? Wer trägt die, immerhin nicht unerheblichen Kosten? Die Zeitschrift mit dem geistreichen Namen? Doch gewiß nicht! Augenscheinlich also die Filmfabriken. Ihr Zweck liegt klar auf der Hand: sie bekommen auf diese Weise sehr billig die Kritik der Berliner Presse, und wenn sie dann sagen können: ‚Ueber den neuen wundervollen Film ‚Die Makkabäer‘ schreiben das ‚Berl. Tageblatt‘, die ‚B.Z. am Mittag‘, die ‚Voss. Ztg.‘ usw. usw. ---- , so ist ihr Geschäft natürlich gemacht!“ (28)
Ewers wandte sich nicht grundsätzlich gegen ‚Filmpremieren‘; er hielt den Gedanken sogar für sehr gut, nur sollten seiner Meinung nach die Veranstalter „… wirklich etwas Gutes bringen, sollten zeigen, daß sie vorwärts wollen und daß sie von ihrer ‚Branche‘ etwas verstehen ... Und sie sollten, last not least, wenigstens den Versuch machen, die so sehr nachhinkende deutsche Kinoindustrie – und sei es durch Zwang – etwas aufzurütteln!“ (29) Seine Schelte in der Presse (30) entwickelte sich rasch zu einer Pressefehde zwischen der ‚EIFZ‘, die im Februar noch seinen Artikel ‚Die Wunder des Rollfilms‘ abgedruckt hatte (31), und Ewers, wobei die Filmzeitschrift in ihrer Replik nicht gerade zimperlich mit dem „Romancier, Literaturpapst, Kunstreferent, Sprachkritiker, Volksredner, Reiseschriftsteller, Uebersetzer, Manager der ‚Lichtspiele‘ und Humbugist“ (32) Ewers umging; sie hielt ihm – dem sonst die geschmackloseste Reklame gut genug sei, wenn es gelte, von sich reden zu machen – u.a. vor, offenbar nur wegen der Aussicht auf einen Herrenabend ins Hotel ‚Esplanade‘ gekommen zu sein, und als er keine verbotenen ‚Films‘ zu sehen bekommen habe, sei er enttäuscht gewesen. (33) Ewers – der publizistisch von der ‚Lichtbild-Bühne‘ unterstützt wurde – wies daraufhin in einem Brief an die Redaktion (34), der alles in allem sehr versöhnlich gehalten war, noch einmal darauf hin, dass er die Idee von ‚Filmpremieren‘ für die Presse durchaus anerkannt habe; er habe sich nur scharf gegen diese Vorstellung gewandt, weil sie nichts gebracht habe, was er nicht allabendlich in jedem Kino sehen könne:
„Aber ich begreife Ihre Mißstimmung vollkommen: Sie hatten für Ihre ‚Premiere‘ eine glänzende ‚Presse‘ und dahinein fiel mein ‚Mehltau‘. Und da nun mein Wort bei allen denen, die sich für den ‚Kino‘ interessieren, einigen Wert hat (...) nicht wahr, das wollen Sie doch nicht leugnen? – So war Ihnen gerade diese Kritik sehr peinlich! Das ist menschlich und sehr verständlich!“ (35)
Neben den sogenannten inneren Feinden des deutschen Films, zu denen er auch die Filmfabrikanten zählte, die ‚Schundfilms‘ produzierten und mit allerlei Tricks die Zensur umgingen, machte der ‚Anwalt‘ der sich erst langsam entwickelnden deutschen Kinoindustrie H. H. Ewers auch noch einen ‚äußeren Feind‘ aus. Man muss sich die Situation für die deutsche Film-Produktion dieser Jahre vergegenwärtigen: 1911 war eine Zensur nur in Teilen Deutschlands, so z.B. in Berlin, München und Sachsen eingeführt; man hatte es den einzelnen Verwaltungsbehörden überlassen, „innerhalb des Kreises ihrer Zuständigkeit durch besondere Polizeiverordnungen die Zensur einzuführen.“ (36) Die Folge war, dass eine Verordnung nach der anderen gegen das sich immer mehr ausbreitende Kinematographenwesen erlassen wurde – „ja es kann vorkommen, daß der Kinematograph innerhalb eines und desselben Bundesstaates der mannigfachsten Behandlung unterliegt.“ (37) Mag sich darin auch eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber dem neuen Medium ausdrücken, so sollte man doch nicht übersehen, dass die ‚Films‘, die in den Kinematographen-Theatern vorgeführt wurden, häufig geschmacklos, albern und dumm waren und die Reaktion z.B. der Polizeibehörden geradezu herausforderten. Der „wilde Wettbewerb“ (38) zwang die Besitzer der Kinos dazu, möglichst nur darauf bedacht zu sein, viele Zuschauer anzuziehen, und das ließ sich am besten erreichen, indem man möglichst viele Plattheiten vorführte. (39)
Die Kommunen übten zudem mit der ‚Lustbarkeitssteuer‘ – die die Film-Industrie als ‚Erdrosselungssteuer‘