In der Erziehung wird oft mit pädagogischen Massnahmen agiert, die diesen Strafen gleichen. Sie wirken auf eine Einsicht hin und stehen in direktem inhaltlichem Zusammenhang zum unerwünschten Verhalten und lassen sich damit begründen (Becker 2009, S. 15).
Faktoren, welche die Disziplin beeinflussen
Der Begriff der Disziplin ist heute weniger umstritten als auch schon. Disziplin ist stark kulturabhängig, ja sogar abhängig von der jeweiligen Schulkultur eines Landes oder sogar einer Region. Offenbar beobachtet man in Finnland, dass Lehrpersonen ein hohes Mass an Disziplin einfordern, aber es wird auch von Schülerinnen und Schülern überdurchschnittliche Selbstdisziplin verlangt.
«Überhaupt herrscht dort ein anderer Umgang zwischen Lehrer und Schülern vor. In der finnischen Gesellschaft stehen Lehrer auf der Prestigeskala ganz oben. […] Und die Schüler respektieren ihre Lehrer, weil sie das positive Gefühl haben, von deren Kenntnis- und Erfahrungsvorsprung profitieren zu können.» (Becker 2009, S. 87)
Der Stellenwert der Lehrperson in der Gesellschaft ist ein Faktor, der indirekt einen Einfluss auf die Disziplin im Klassenzimmer hat. Es gibt jedoch auch andere Faktoren, die nicht zu unterschätzen sind, aber oft zu wenig zur Kenntnis genommen werden. Diese Faktoren werden in der folgenden Zusammenstellung aufgeführt, die wir aufgrund unserer Erfahrungen zusammengetragen haben (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
Abbildung 2-1
Faktoren mit Einfluss auf die Disziplin im Unterricht
→ Beispiel B4 → Exkurs:Die gute Lehrperson
Aufzuführen wären zusätzlich die Faktoren «sozioökonomisches Umfeld» (bildungsfernes versus bildungsnahes Elternhaus, Problematik von Scheidungskindern, Wohlstandsverwahrlosung) und die Unterschiede zwischen Knaben und Mädchen (→ Kapitel 11, Eine Schule für Knaben?).
Aus den Schilderungen der beiden erfahrenen Lehrpersonen (A1 und A2/«Niveaustufen», «Integration») zu Beginn des Kapitels wird deutlich, dass die Disziplin im Klassenzimmer nicht unwesentlich durch strukturelle Faktoren mitbestimmt wird. Die genannten Faktoren erschweren es allerdings, von an sich positiven neuen verschiedenen Lehr- und Lernformen – mit unterschiedlichen Betreuungspersonen im Klassenzimmer (IF4, IS5 und DaZ6) – zu profitieren (→ Kapitel 3, Teamarbeit und Kooperation). Analog gilt dies auch für die verschiedenen Leistungsgruppen in den Hauptfächern des zweiteiligen Oberstufenmodells, die den Klassenverband zum Teil mehrmals täglich auflösen (Bildung von Fach-Leistungs-Lerngruppen). Der Sekundarlehrer aus B4 beschreibt dies wie folgt: «Alle vier Monate wurde umgestuft. Drei Kinder in Mathematik ein Niveau rauf, fünf in Französisch runter, sechs rauf, vier in Deutsch rauf und vier runter – ein ewiges Hin und Her […]. Vor allem aber brachte dieses Modell eine enorme Unruhe in die Klassen, weil sich erstens die Zusammensetzung dreimal pro Jahr änderte und zweitens die Schüler immer wieder andere Lehrpersonen hatten. Dabei fehlte diesen Jugendlichen nichts mehr als stabile Strukturen, verlässliche Beziehungen, Konstanz.» (Beglinger 2008, S. 18)
Auch die Lehrpersonen sind mit Schülerwechseln konfrontiert. Es gibt Lehrpersonen, die gute Erfahrungen in Bezug auf ihre eigene Zusammenarbeit mit wechselnden Niveaugruppen machen, ein steter Dialog unter den Lehrpersonen ist bei ihnen die Regel. Nicht selten sind es die grossen Schulhäuser mit weit über hundert Schülerinnen und Schülern in den Jahrgangsstufen, in denen es nur schwer möglich ist, mit jedem Lernenden eine pädagogische Beziehung aufzubauen. Eine mögliche Folge: Die Arbeitsplatzzufriedenheit der Lehrpersonen sinkt. Das Zitat von Martin Beglinger stammt aus dem Artikel «Warum ich nicht mehr Lehrer bin». Darin kommt die ernüchternde Bilanz eines Oberstufenlehrers zum Ausdruck, bei der die Arbeitsplatzzufriedenheit bei aller Freude an der Arbeit mit Jugendlichen so weit gesunken war, dass die Unzufriedenheit (trotz eines Schulwechsels) überwog.
Die beschriebene Unruhe im Tagesablauf kann auf Dauer sehr belastend sein, zumal die Ansprüche an den Unterricht gestiegen sind. Die erwähnten Einflussfaktoren sollten vermehrt einbezogen werden, wenn es um die Frage geht, wie Disziplinschwierigkeiten im Unterricht begegnet werden kann.
Wir wollen nicht pauschal behaupten, Eltern hätten sich aus der Erziehungsverantwortung verabschiedet. Gleichwohl sind Lehrpersonen oft mit der Tatsache konfrontiert, dass die Eltern vom Erziehungsalltag überfordert sind, dass sie oft nicht wissen, wie reagieren. Kurz: Die Energiereserven sind aufgebraucht. Insbesondere Kinder mit schwierigen Familienverhältnissen tragen das in der Familie erworbene Handlungsrepertoire und/oder ein schwieriges Verhalten in die Schulzimmer.
«Viele Kinder fallen in der Schule durch ein sehr überhebliches Verhalten auf, halten Frustrationen oder Grenzen überhaupt nicht aus. Sie gehen in massive Machtkämpfe, die sie zu ‹gewinnen› gewohnt sind. Manche Zwölfjährige ticken bei einem Nein regelrecht aus, inszenieren ohne Hemmungen Dramen, wälzen sich auf dem Boden, schreien wie Fünfjährige herum. Gibt man als Lehrer/in nach, ist der Sturm sofort verraucht. Geht man jedoch in die fällige Auseinandersetzung, benötigt man Zeit, Nerven und geduldige Klassen, die nicht auf den Zug aufspringen und den Konflikt noch anheizen.» (Frank 2010, S. 49 f.)
Wie reagieren bei Disziplinlosigkeiten?
Die Anzahl an Erziehungsratgebern nimmt in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Warum dies so ist, lässt sich nur schwer interpretieren. Einerseits mag dies Ausdruck einer gewissen Orientierungslosigkeit sein, andererseits sprechen die Titel der Verkaufsschlager (Buob: «Lob der Disziplin»; Winterhoff: «Warum unsere Kinder Tyrannen werden») dafür, dass das Grenzensetzen in der Erziehung wieder vermehrt zum Thema wird. Lehrpersonen beklagen, dass der Aufwand an Nacherziehung in der Schule grösser geworden ist und der Respekt geringer (vgl. Peterhans 2011).
Doch wie sieht diese von Frank erwähnte fällige Auseinandersetzung aus? Leider gibt es keine Patentrezepte dazu. Weder die «Basta!-Pädagogik» (Göppel 2010, S. 37) – eine Pädagogik, die keinen Widerspruch duldet – noch die sogenannte Kuschelpädagogik oder «Weichspülpädagogik» (vgl. Schoenenberger 2011) bietet nachhaltige Lösungen. Der heutige Konsens scheint jedoch in transparenten Haltungen, klar kommunizierten Regeln mit im Voraus definierten Sanktionen zu liegen.
«Wer Strafen ablehnt und in ihnen primär ein Mittel zur Erzeugung von Angst sieht, macht es sich zu einfach. Klare Strafen, die für alle Beteiligten logisch und gleich angewandt werden, sind berechenbar. Werden sie von einem wohlwollenden Pädagogen verhängt und durchgesetzt, dann lösen sie keine Angst aus, sondern bewirken Respekt.» (Schoenenberger 2011)
Die Bedeutung der Lehrkräfte steht im Zentrum der Betrachtung. Lehrerinnen und Lehrer sind mit ihrer ganzen Person gefordert, wenn sie bilden und erziehen, Grenzen setzen und sanktionieren, begleiten und Anteil nehmen. Je nach Situation müssen sie spüren, welche Handlungen und Massnahmen für die Lernenden unterstützend und zielführend sind.
Grenzensetzen und Sanktionieren sind unseres Erachtens keinesfalls Allheilmittel, Disziplinschwierigkeiten zu begegnen. In diesem Sinne schliessen wir uns Arnold an, der in seinem Buch «Aberglaube Disziplin» vor einer Disziplinierung der Kinder im Sinne einer Eingrenzung und Charakterdeformierung warnt. Arnold betont, dass Kinder Grenzen brauchten, «doch benötigen sie zugewandte Grenzsetzungen, nicht begrenzte Zuwendung» (Arnold 2007, S. 86 ff.). Damit unterstreicht auch er die Bedeutung der (pädagogischen) Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern.
Durchsetzungsfähigkeit bei Disziplinschwierigkeiten hängt nicht an autoritärem Machtgehabe oder gedankenlosem Einsatz von Sanktionierungsinstrumenten, sondern sie steht und fällt unter anderem mit der Persönlichkeit der Lehrperson (→ Exkurs: Die gute Lehrperson).