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Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)


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hervor und betont deren besondere Relevanz vor dem Hintergrund heutiger Herausforderungen. So erinnert Julian Nida-Rümelin an den Orientierungsbedarf Jugendlicher in einer komplexen sozialen Welt, die durch globale Verflechtungen und durch eine rasant voranschreitende Technik besondere ethische Fragestellungen mit sich bringt (Nida-Rümelin, 2017, S. 19). Auch Markus Tiedemann betont den besonderen Orientierungsbedarf der Moderne und ruft in Erinnerung, dass geschichtlich Philosophie gerade in Zeiten von Orientierungskrisen ihre Blütezeiten erlebt hat (Tiedemann, 2017a, S. 23). Ethische Neuorientierung ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal unserer Zeit, stellt aber heute eine besondere Herausforderung dar, weil die gegenwärtige Innovationsgeschwindigkeit der Technik die Handlungsoptionen und den Entscheidungsbedarf des Menschen ins Unüberschaubare ausweitet und dabei die Dringlichkeit mit sich bringt, weitreichende ethische Entscheidungen auf Grundlage eines fraglich gewordenen kulturellen Wertefundamentes zu fällen (a. a. O., S. 23–26). Als Charakteristikum der heutigen Zeit identifiziert Tiedemann zu Recht die Tatsache, dass dringliche praktische Probleme ethische Entscheidungen erfordern, «deren theoretische Grundlage selbst als problematisch gilt» (Tiedemann, 2017c, S. 71). Die heutigen Anforderungen verlangen daher eine «nachdenkliche Werteentwicklung» statt einer «traditionelle[n] Wertevermittlung», und Adressat hierfür ist nicht zuletzt die Philosophie (Tiedemann, 2017a, S. 27). In die gleiche Richtung argumentiert auch Volker Steenblock, der Bildung und insbesondere philosophische Bildung als «Antwortversuch auf gesellschaftliche Transformationen» in einer kulturellen Situation interpretiert, in der «der Einfluss lebensregelnder und sinnstiftender Traditionen zurückgeht» (Steenblock, 2017b, S. 59, 61). All dies verdeutlicht den heutigen Stellenwert von Persönlichkeitsbildung in Bildungsbereich und die besondere Rolle der Philosophie.

      Welche Schlussfolgerungen lassen sich für Hochschulen für angewandte Wissenschaften ziehen? Der Ruf nach Persönlichkeitsbildung an Fachhochschulen wurzelt zunächst unmittelbar in der modernen Auffassung des Menschseins: Insofern sich Menschen als freie und selbstbestimmte, vernünftige und moralische Individuen verstehen, stehen sie vor der Herausforderung, sich als solche herauszubilden. Fachhochschulen sind als Bildungsinstitutionen Orte, an denen Studierende sich als Persönlichkeiten herausgestalten. Daher ist auch das Studium an Fachhochschulen nicht nur als eine Vermittlung von Fachkompetenzen, sondern in einem erweiterten Sinne als eine methodische Unterstützung der Persönlichkeitsbildung der Studierenden zu verstehen – gerade auch im Hinblick auf ihre Fähigkeit, reflektierte moralische Positionen einzunehmen. Philosophie ist, seit ihren antiken Ursprüngen bis in die heutige Zeit hinein, im Kern ein Weg, um die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen bewusst und methodisch zu fördern. Daher liegt es nahe, philosophische Bildung auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften zu verankern – in Einklang mit der Einsicht, dass die gezielte Förderung der Persönlichkeitsentwicklung auch für Fachhochschulen eine Kernaufgabe darstellt.

      Konfligiert die Verortung von Philosophie in Hochschulcurricula mit der Notwendigkeit, in kurzer Zeit fundiertes Fachwissen zu vermitteln? Zu einem gewissen Grad mag dies der Fall sein, jedoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich gegenwärtig die Prioritäten in einer bemerkenswerten Weise verschieben. Gerade weil moderne Technik sich mit all ihren Facetten in nie dagewesener Geschwindigkeit weiterentwickelt, weil dabei die Innovationsgeschwindigkeit noch zunimmt und weil sich moderne, entwickelte Gesellschaften in umwälzenden Transformationsprozessen befinden, kann selbst eine konsequent praxisorientierte Hochschulausbildung nicht das primäre Ziel haben, Studierende auf die konkreten Aufgaben der Arbeitswelt vorzubereiten. Selbst in Bildungskontexten, die weitestgehend auf Praxisorientierung ausgerichtet sind und unter hohem Zeit- und Kostendruck stehen, kann eine Ausweitung des Bildungsziels in Einklang mit Effizienzüberlegungen stehen oder gar direkt aus solchen abgeleitet werden. Ein interessantes Beispiel ist die Firma Siemens in den USA: Vor die Aufgabe gestellt, für ein neu zu bauendes Gasturbinenwerk in North Carolina 1500 neue Mitarbeiter zu rekrutieren, hatte sich Siemens aufgrund eines Mangels an qualifizierten Bewerbern erfolgreich dafür entschieden, ein eigenes Trainingsprogramm aufzusetzen und zu finanzieren. Modell hierfür war die aus Deutschland bekannte Berufsausbildung bzw. das duale Studium. In diesem Zusammenhang vor die Frage gestellt, was ein vierjähriges praxisorientiertes Hochschulstudium beinhalten sollte, gab die CEO von Siemens USA, Barbara Humpton, folgende Antwort:

      «I’m not looking to universities to get people ready for a job. I’m looking for universities to get people ready for a career. Because technology’s changing so fast […]. I think four-year institutions can very happily focus on the kind of traditional things they’ve done, giving people a really well-rounded background, teaching the arts, teaching humanities, teaching people for context and appreciation.» (White, 2019)

      Geistige Flexibilität ist heute eine der zentralen Kompetenzen für eine lebenslange Karriere in sich rapide verändernden Kontexten. Eine systematische Förderung der Persönlichkeitsentwicklung durch Philosophie kann neben dem übergreifenden Ziel der Herausbildung einer reflektierten, selbstbestimmten Persönlichkeit auch den Effekt einer geistigen Beweglichkeit mit sich bringen, die gerade in heutigen Praxiskontexten eine Kernkompetenz darstellt. Werden hierbei die «hohen» geistigen Ziele von Bildung durch eine monetarisierbare Leistungsoptimierung profanisiert?[7] Selbst wenn man dies so sehen mag, könnte im «Nebeneffekt» einer herangereiften, gebildeten Persönlichkeit ein eigener, davon unberührter Wert gesehen werden.

      Ihre besondere und auch dringliche Relevanz gewinnt philosophische Bildung in den praxisorientierten Kontexten heutiger Technik aber insbesondere durch die weitreichenden ethischen Fragen, die moderne Technik aufwirft. Unter diesem Gesichtspunkt hat Philosophie auch für Hochschulen für angewandte Wissenschaften eine besondere Relevanz: Die neuen Möglichkeiten einer immer mächtigeren Technik verlangen nach reflektierten ethischen Positionierungen. Gerade Philosophie kann hier die Suche nach intersubjektiv tragfähigen Antworten vor dem Hintergrund einer pluralen und sich verändernden Wertebasis gezielt und methodisch unterstützen.

      Ein Kernaspekt heutiger Technik ist die fortschreitende Digitalisierung: Sie erfasst alle Lebensbereiche und Berufsfelder und transformiert dabei Arbeits- und Lebensweisen, soziale Strukturen, politische Dynamiken und nicht zuletzt auch die grundlegenden Auffassungen des Menschseins. Die daraus resultierenden ethischen Fragen sind vielgestaltig. Auf gesellschaftlicher Ebene ergeben sich Fragen wie: Welche bisher ungekannten Lebensweisen werden ermöglicht, wenn dem Menschen ein Großteil der Arbeit durch Maschinen und automatisierte Prozesse abgenommen wird? Wie können die durch Digitalisierung und Automatisierung erzielten Produktivitätsgewinne gerecht verteilt werden? Und wie geht eine Gesellschaft damit um, dass die Digitalisierung möglicherweise neue soziale Spaltungen zwischen Profiteuren und Abgehängten erzeugt? Es stellen sich aber auch ethische Fragen, die nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern direkt auch in praktischen Kontexten der Arbeitswelt von Bedeutung sind: Die umfassende Erhebung von persönlichen Daten mittels moderner Informationstechnik durch Privatunternehmen und Staaten und die automatisierte Zusammenführung dieser Daten durch Big-Data-Analysen zu Persönlichkeitsprofilen wirft etwa die ethische Frage nach einer Balance zwischen den Vorteilen dieser Technologien und dem Stellenwert menschlicher Privatsphäre auf. Praktisch jeder Mensch muss heute davon ausgehen, dass bei Unternehmen und Staaten vielfältige, ihn betreffende persönliche Daten zu Persönlichkeitsprofilen zusammengefügt werden, ohne dass sich dabei das genaue Ausmaß vor Augen führen ließe.[8] Noch vor wenigen Jahrzehnten urteilten deutsche Verfassungsrichter, dass genau hierin eine wesentliche Hemmung von Freiheit und Selbstbestimmtheit liegt, und kamen zu folgendem Schluss: «Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus» (BVerfG, 1983). Der Schutz der Privatsphäre wurde direkt im obersten Wert einer unantastbaren Menschenwürde verankert, dem es widerspricht, den Menschen «zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren […] und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist» (BVerfG, 1969). Gilt das auch heute noch, im Zeitalter von Facebook und Google? Welche Relevanz spielt Privatsphäre heute? Wie sollen zum Beispiel IT-Fachkräfte mit der technischen Möglichkeit umgehen, dass bereits relativ wenige Datenpunkte wie etwa einige Dutzend Facebook-«Likes» bei einer ausreichenden Menge von Daten erstaunlich tiefe Einblicke gewähren können (Kosinski, Stillwell & Graepel, 2013; Youyou, Kosinski & Stillwell,