von Wissenschaften der Moderne sind Erkenntnisanspruch und Bildungsambition, Forschungsinteressen und Handlungsbezug der Wissenschaften unumkehrbar auseinandergetreten. Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind nicht mehr uno actu als Kriterien der gesellschaftlichen Orientierung, sozialer Verantwortung und individueller Persönlichkeitsbildung zu entfalten und zu begründen. Von Bildungsansprüchen aus führt andererseits auch kein gerader Weg mehr zur Ordnung der Praxis von Wissenschaften.» (Tenorth, 1999, 201)
Die Kritik an den Schulfächern ist folglich zum einen auf verschiedenen Ebenen zu verorten – «lebensweltlich wie wissenschaftstheoretisch, didaktisch wie gesellschaftstheoretisch und geschichtlich» (ebd.) –, zum anderen ist die Diskussion um die Fächerstruktur der Schule trotz ihrer langen Geschichte keineswegs beendet, sondern wird im Gegenteil mit immer neuen Fragen konfrontiert. Einige dieser Entwicklungen im Kontext der gegenwärtigen Wissensgesellschaft, aus denen sich Fragen bezüglich der schulischen Fächerordnung ableiten lassen, sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.
3.3Notwendigkeit transdisziplinärer Forschung in der Wissensgesellschaft
«Beobachter», so Knorr-Cetina (2002), «sind sich heute größtenteils dahingehend einig, dass westliche Gesellschaften in dem einen oder anderen Sinn durch Wissen bestimmt werden» (ebd., 15). Auch wenn der Begriff der Wissensgesellschaft aufgrund der terminologischen Unschärfen und auch des sehr positivistischen Wissensbegriffs, der die sozialen Entstehungszusammenhänge von Wissen ausblendet, kritisiert wird (vgl. Knorr-Cetina, 2002, 18; Knoblauch, 2010, 261 f.), ist doch relativ unbestritten, dass die Entstehung und Nutzung von Wissen in der Gegenwart massiven Veränderungen unterworfen ist.
So hat sich zum Beispiel die Zugänglichkeit von Wissen durch das Internet stark verändert. In dieser Entwicklung wird, beispielsweise mit Blick auf Wikipedia, auch eine Demokratisierung des Wissens gesehen, da das Verfügen über Wissen nicht mehr an Geld und Macht gebunden ist. Allerdings ist die Vorstellung einer Demokratisierung des Wissens wohl zu relativieren, da sich das Machtgefüge nur verschoben hat: Es geht zunehmend weniger um den Zugang zu Informationen, sondern vielmehr um das Gewinnen von Aufmerksamkeit für neues Wissen auf der Seite derjenigen, die das Wissen verbreiten, und um Strategien der Filterung von Wissen aufseiten derer, die es nutzen:
«Entsprechend ambivalent kann man die Auswirkungen der allseitigen Verfügbarkeit von Informationen auf die demokratische und offene Gesellschaft betrachten. Einerseits wird Wissen durch seine Verfügbarkeit im Internet allgemein zugänglicher: Nicht nur Eliten haben Zugang zu Forschungsergebnissen, sondern auch immer weitere Teile der Bevölkerung. […] Auf der anderen Seite – und darüber kann auch die Open-Access-Bewegung nicht hinwegtäuschen – werden aber Techniken zur Systematisierung und Filterung von Wissen aufgrund der Informationsfülle immer wichtiger.» (Christoph, 2016, 27)
Neben dem Umgang mit der Wissensflut ist zudem der Umgang mit dem Nicht-Wissen und der Bewertung von Risiken, die sich aus den sich rasant vermehrenden Forschungsergebnissen ergeben, eine Herausforderung der gegenwärtigen Wissensgesellschaft (vgl. Stehr, 2003, 7). Die Risiken der Forschung, zum Beispiel im Bereich der Gentechnik oder der künstlichen Intelligenz, werden zu einem neuen Gegenstand der Forschung, die als «reflexive Verwissenschaftlichung» bezeichnet wird (Knoblauch, 2010, 285). Die Abschätzung solcher Risiken kann aber nicht aus der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin heraus erfolgen, sondern erfordert transdisziplinäre Kooperationen. Als ebenso notwendig erweisen sich transdisziplinäre Kooperationen bei der Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Problemfeldern. Dabei zeigt sich, dass
«die heute hoch spezialisierten wissenschaftlichen Disziplinen angesichts drängender und überaus komplexer Problemfelder wie etwa Multikulturalität, Ökologie und Gentechnologie natürlich nicht verzichtbar [sind], aber eine rein fachliche Gliederung des Wissens und damit einhergehende Spezialisierungen […] so umfassende Probleme nicht mehr bewältigen [können]» (Paule, 2014, 828).
Das Gelingen transdisziplinärer Kooperationen ist jedoch keineswegs gewiss, und zwar nicht nur aus organisatorischen Gründen, sondern vor allem aufgrund der Schwierigkeiten, die sich aus der notwendigen Integration der Forschungsperspektiven ergeben:
«Ein grundsätzliches Defizit entsprechender Forschungsprojekte besteht demnach darin, dass es den Beteiligten häufig nicht gelingt, die notwendige Integrationsleistung zu erbringen. Stattdessen verbleiben Projekte mit einem inter- oder transdisziplinären Anspruch zu oft auf der Ebene der Multidisziplinarität, auf der verschiedene disziplinäre Ansätze lediglich nebeneinandergestellt werden und jeder Teilnehmer sein ‹eigenes Süppchen› kocht […].» (Waag, 2012, 28)
Die zunehmende Ausdifferenzierung der Forschungsdisziplinen erschwert die Verständigung und die Zusammenführung der Perspektiven. Nicht nur die jeweiligen Fachsprachen erweisen sich hier als Verständigungshemmnis; die wissenssoziologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat darauf aufmerksam gemacht, dass die jeweiligen Forschungsgemeinschaften von spezifischen Wissenskulturen geprägt sind, die bestimmen, wie Wissen erzeugt, wie es kommuniziert und bewertet wird:
«Eine Wissensgesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft von mehr Experten, mehr technologischen Spielereien oder mehr Spezialistenmeinungen. Sie ist vor allem eine Gesellschaft von Wissenskulturen, also der ganzen Bandbreite von Strukturen, Mechanismen und Arrangements, die der Erzeugung des Wissens dienen und sich mit ihnen artikulieren.» (Knorr-Cetina, 2002, 18) Soll transdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen, ist es also notwendig, diese Wissenskulturen zu reflektieren und die blinden Flecken der eigenen und fremden Forschungszugänge aufzudecken. Golecki formuliert mit Blick auf den schulischen Unterricht schon 1999, dass eine «wohlverstandene» Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe «mit einer Offenheit und Neugier auch für andere Bereiche und Perspektiven, mit einer gegenseitigen Sensibilisierung und einem Bewusstsein der Begrenztheit und der Ergänzungsbedürftigkeit des eigenen Fachs, mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu einem Diskurs mit Vertretern anderer Fachrichtungen und auch mit Laien» (ebd., 28 f.) verbunden sein müsse. Damit ist angedeutet, dass Schule – und keineswegs nur in der gymnasialen Oberstufe – sich den gegenwärtigen Herausforderungen der sich wandelnden Wissensgesellschaft stellen muss. Fächerübergreifender Unterricht kann hier eine, wenn auch sicher nicht die einzige Antwort sein.
3.4Fächerübergreifender Unterricht als Antwort auf die aktuellen Herausforderungen?
Im Folgenden soll ein Überblick über Zielsetzungen und Begriffsbestimmungen, aber auch über empirische Studien zum fächerübergreifenden Unterricht gegeben werden, um das in Teilen unübersichtliche Forschungsfeld zu strukturieren, aber auch, um offene Fragen aufzuzeigen.
3.4.1Ziele und Begründungen fächerübergreifenden Unterrichts
Fächerübergreifender Unterricht wurde und wird immer wieder gefordert, in den Erziehungswissenschaften und den Fachdidaktiken intensiv diskutiert und natürlich vor allem in unterschiedlichen Schulformen von Lehrenden erprobt. Von einer breit geteilten theoretischen und konzeptionellen Fundierung kann hingegen nur bedingt gesprochen werden (vgl. Labudde, 2009, 335; Henkel, 2013, 70). Es lassen sich aber zentrale Begründungen festhalten, die im Zusammenhang mit dem fächerübergreifenden Lernen immer wieder angeführt werden (vgl. Labudde, 2009, 333).
Als ein erstes Ziel sind das Aufbrechen und Reflektieren der durch die Schulfächer gesetzten Grenzen des methodischen wie thematischen Zugriffs auf Phänomene zu nennen:
«Es sind die Grenzlinien der Schulfächer selbst, die im fächerübergreifenden Lernen mitthematisiert werden können und die als Zusatzthema zu den Inhalten, die in oder zwischen den Fächern liegen, aufgreifbar sind. Insofern enthält fächerübergreifendes Lernen den Anspruch, die Ordnungen der Themen und deren Rückwirkung auf die Lerninhalte zu reflektieren und daraus Einsichten in die Gliederungen der Welt im Spiegel von Schulfächern zu gewinnen.» (Duncker, 1997,